1Von der Einführung in die Genogrammarbeit zur Genogrammarbeit für Fortgeschrittene
1.1Anschluss an Vorhandenes
Es wäre albern, aber zeitgemäß, mit dem Anspruch aufzutreten, die Grundlagen der Genogrammarbeit seien etwas ganz Neues, Unerhörtes. Ein Blick in die Geschichte der Literatur und der Philosophie zeigt, dass es anders ist. In Dichtung und Wahrheit von Johann Wolfgang von Goethe (entstanden zwischen 1809 und 1831) heißt es im Vorwort (Goethe 1961, S. 8, Hervorheb. d. Autors):
»Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biografie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet hat und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, dass nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, dass man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.«
Goethe stellt sich hier, ohne Propaganda drum herum zu machen, dem damals aufkommenden Zeitgeist entgegen. Dieser Zeitgeist setzt, angestiftet von dem französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), dem Geist den Körper entgegen, dem Außen das Innen. Hier die Res cogitans, dort die Res extensa, die zudem den Vorteil hat, dass man sie, dem Naturwissenschaftler gleich, messen kann. Übersehen wird durch ein solches Konstrukt, das bis heute das europäische Denken bestimmt, dass man das Individuum auch anders beschreiben kann: Es ist in der Welt und zur Welt.
Der große Vorteil der Genogrammarbeit besteht darin, dass sie den Kartesianismus unterläuft. Wer, sich als der Welt gegenübergestellt begreifend, einigermaßen nüchtern auf seinen eigenen Lebenslauf zurückblickt, wird feststellen,
•dass er nicht unbedingt seines Glückes Schmied war,
•dass er die Welt, in die er hineingestellt wurde, nicht unbedingt beherrscht hat,
•dass einiges an Zufällen zusammenkommen musste, damit das herausgekommen ist, worauf er heute zurückblicken kann.
Diese Rückschau ist allerdings eine mitunter prekäre Angelegenheit: Zufälle werden als Resultat eigener Entscheidungen ausgegeben, Biografie wird geglättet und geschönt. Max Frisch sagte dazu: »›Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält‹, sage ich, ›oder eine ganze Reihe von Geschichten‹, sage ich.‹« So heißt es in Mein Name sei Gantenbein (Frisch 1964, S. 52). Dieses Thema hat ihn sein Arbeitsleben lang nicht verlassen, man denke nur an den Roman Stiller (ders. 1954).
Vor solchen Irrtümern, wie Frisch sie benennt, bewahrt eine regelgerecht durchgeführte Genogrammrekonstruktion.
Wer mit einer nichtkartesianischen Konzeption Berater und Therapeuten1 interessieren will, hat einen dominanten Zeitgeist gegen sich. Das muss man aushalten, da hilft kein Jammern. Die Gedanken sind frei.
1.2Vorgeschichte, Teil 1
2011 erschien die dritte, überarbeitete Auflage meiner Einführung in die Genogrammarbeit in der Buchreihe Carl-Auer Compact. Das ist eine Buchreihe, die sich im Hinblick auf Format und Umfang als Einführung in ein Sachgebiet eignet. Die Farbe, die ich damals für den Umschlag ausgesucht habe und die vom Verlag Petrol genannt wird, gefällt mir heute noch. Der Buchtitel ist unterlegt mit einen knapp 6 cm großen, roten Punkt. Das wird dann wohl heißen, dass in dieser Einführung die Dinge auf den Punkt gebracht werden sollen.
Bringt man die Dinge auf den Punkt, bleibt aber so manches auf der Strecke. Dazu gehören Begründungen für das, was man da als Vorgehen vorschlägt. Die eiligen Leser sind damit zufrieden.
Andere wollen es vielleicht genauer wissen. Für sie ist dieses Buch geschrieben.
Das vorliegende Buch wird die Einführung in die Genogrammarbeit nicht ersetzen, und es geht im Folgenden auch nicht (nur) um Begründungen der Genogrammarbeit. Seit 2011 haben andere und ich Erfahrungen mit der hier vorgeschlagenen Form der Genogrammarbeit gemacht, die es mitzuteilen gilt. Es ist deutlich geworden, in welchen Arbeitsfeldern Genogrammarbeit sich mit welchem Erfolg durchführen lässt. Diese Erfahrungen müssen bedacht werden. Zudem hat sich herausgestellt, dass sich der Zugang zur Genogrammarbeit je nach Berufsgruppe unterschiedlich gestaltet. Auch das ist ernst zu nehmen.
Auf Betreiben von Gunthard Weber, Mitbegründer und geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer Verlags, erschien 2012 mein Buch Einführung in die Genogrammarbeit auch in russischer Übersetzung. Die Umschlaggestaltung dieser Ausgabe halte ich für bemerkenswert. Da hat sich jemand etwas gedacht (Abb. 1).
Abb. 1: Umschlagmotiv der russischen Ausgabe von »Einführung in die Genogrammarbeit«
Ich sehe zwei Bäume mit ihrem Wurzelwerk. Dieses Wurzelwerk erzeugt über dem Boden ganz andere Formen als die des Wurzelwerks selbst. Das bedeutet in meinem Verständnis: Die Gestalt der Wurzeln (diese stehen gemeinhin als Metapher für Herkunft) eines Menschen bildet sich nicht notwendig ab in dem, was sich oberhalb dieses Wurzelwerks zeigt. Durch die spiegelbildliche Darstellung beider Bäume wird dieser Eindruck noch verstärkt.
Dann sehe ich im Hintergrund einen von Wolken überzogenen Himmel. Es handelt sich um jene Sorte von Kumuluswolken, die der Laie mit schönem Wetter in Verbindung bringt. Genogrammarbeit ist also schönwettermäßig grundiert, Regenwolken wären unpassend.
Fazit: Die Wurzel bestimmt nicht notwendigerweise das, was sich oben zeigt, denn was da unten wurzelt, ist noch lange nicht identisch mit dem, was schließlich oben erscheint. Die Wurzeln bilden einen Rahmen von Möglichkeiten, und was oben zum Ausdruck kommt, zeigt, wie dieser Rahmen genutzt wird. Außerdem führt Genogrammarbeit nicht ins Unwetter, sondern allenfalls zur Schönwetterlage.
Mein Kompliment an den Grafiker, der dieses gestaltet hat2 und den ich gerne einmal kennenlernen würde. Ich werde in Kapitel 2 zur Bedeutung von Vornamen auf eine Möglichkeit zurückkommen, das Wurzelwerk noch anders zu gestalten und ihm eine andere Bedeutung zu unterlegen.
1.2.1Fallverstehen in der Begegnung im Rahmen von Genogrammarbeit
Konzepte
Im Zentrum des Meilener Konzepts3 steht das Fallverstehen in der Begegnung (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2004, unter Mitarbeit von Reinhard Waeber und Robert Waeschle). In diesem Abschnitt werde ich mich mit dem Thema Fallverstehen auseinandersetzen und dabei mit einem Fallbeispiel beginnen. Danach werde ich das Fallverstehen im wissenschaftlichen Kontext verorten.
Zuvor komme ich noch auf die Begegnung zu sprechen. Diesbezüglich haben sich inzwischen Erweiterungen gegenüber dem ursprünglichen Kontext ergeben, nachdem ich mich mit dem von Ralf Koerrenz (2004) vorgeschlagenen Konzept von Begegnung in der Pädagogik auseinandergesetzt habe. In Anlehnung an Martin Buber meint Begegnung gemäß dem ursprünglichen Konzept die Bildung eines Wir im Gespräch; in einer Situation, in der das Ich, das in Not ist, auf ein Du trifft, von dem das Ich erwartet, dass es ihm helfen kann. Im nun erweiterten Konzept ist dieses ursprüngliche Konzept nicht aufgegeben, sondern aufgehoben. Zusammengefasst heißt das:
•Erstens müssen die Erziehenden4 überhaupt in der Lage sein, die Besonderheit von Klienten in bestimmten Augenblicken wahrzunehmen.
•Zweitens geht es darum, solche Phänomene wie die Krise, in der der Klient sich befindet, als positive Situation zu akzeptieren, die zum menschlichen Lebenslauf in all ihrer Unberechenbarkeit und Unstetigkeit dazugehören.
•Damit ist als dritter Aspekt die Einsicht in die Grenzen der Gestaltbarkeit dieser Situationen verbunden. Die Erziehenden sollen sich nicht anmaßen, solche Situationen planmäßig durchgestalten und in diesem Sinne beherrschen zu wollen. Es gilt, die eigenen Gestaltungsgrenzen zu akzeptieren. Das zugrunde liegende pädagogische Verhaltensmodell ist das der eher passiven Begleitung, des Zu- und Hinhörens und nicht das des aktiven Lenkens (Koerrenz 2004, S. 96).
Es ist aus meiner Sicht nicht allzu weit hergeholt, diese dem Pädagogen zugeschriebenen Haltungen auch dem Therapeuten ins Stammbuch zu schreiben, obgleich die Aufgabenstruktur und die Rahmenbedingungen therapeutischen Handelns sich von denen pädagogischen Handelns unterscheiden (Hildenbrand 2017b, S. 14). Was mir an diesem Konzept gefällt, ist
•die Abkehr von jeder Technokratie im pädagogischen (und eben auch im beraterischen und therapeutischen) Handeln,
•die Zuschreibung von Handlungskompetenzen sowie
•die Betonung des Konzepts von Widerständigkeit in der Begegnung (das ist das Neue gegenüber dem von uns verwendeten Konzept von Begegnung).
Als Nächstes komme ich zum Fallverstehen. Unter einem Fall verstehe ich eine Einheit autonomer Lebenspraxis mit angebbaren Grenzen. Mit Verstehen ist gemeint, dass Fälle Sinnzusammenhänge aufweisen, die es zu erschließen bzw. zu rekonstruieren gilt.5
Für die Genogrammarbeit, wie ich sie verstehe, kommt als Besonderheit hinzu, dass je nach Arbeitsform eine Begegnung nicht möglich ist. Hat man nur das nackte Genogramm vor sich liegen, also eine Zusammensetzung von Kästchen, Kreisen, Linien und Jahreszahlen etc., kann man Zusammenhänge herstellen und sich einen Reim darauf machen (Mustererkennen), d. h. eine Deutung produzieren.6
Begegnung in der Genogrammarbeit ist v. a. dann möglich, wenn man das Genogramm zusammen mit Klienten erhebt. Dann kann man auch die Geschichten hören, die der Klient zu seinem Genogramm zu erzählen weiß.
Nun komme ich zu einem Fallbeispiel, mit dem ich beabsichtige, die soeben vorgetragenen Worterklärungen mit Leben zu füllen.
Ein Beispiel für das Mustererkennen
Beim Mustererkennen kommt es darauf an, einige wenige Daten in ihrem Zusammenhang zu erkennen und diesem Zusammenhang einen Namen zu geben.
Die Familie Dittrich steht im Mittelpunkt meines Buchs Fallrekonstruktive Familienforschung (Hildenbrand 2005a). Als ich diese Familie in einem abgelegenen Tal des Rothaargebirges zum ersten Mal besuchte, stellte ich fest, dass
–das Wohnhaus dieser Familie am Ortsrand liegt, und zwar direkt am Weg zum Friedhof;
–das größte Fenster des Hauses vis-à-vis des am Haus vorbeiführenden Weges liegt;
–dieses Fenster gelb getönt und geriffelt ist, sodass man von innen und außen nicht hindurchblicken kann.
Zieht man diese vier Informationen zusammen, stößt man auf einen zentralen Widerspruch, allerdings nicht sofort, sondern erst nach einer Zeit, nachdem man sich mit dieser Familie gesprächsweise und beobachtend auseinandergesetzt und über den Fall nachgedacht hat: auf den Widerspruch von Nähe und Distanz. (Das ist ein abduktiver Schluss,7 auf dessen Logik ich in...