Dissoziales Handeln von Kindern und Jugendlichen
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Dissoziales Handeln von Kindern und Jugendlichen

  1. 252 Seiten
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Dissoziales Handeln von Kindern und Jugendlichen

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Über dieses Buch

Dissoziale Kinder und Jugendliche sind eine besonders schwierige psychotherapeutische Klientel. Zum einen besteht ein hoher Interventionsbedarf, da ihr deviantes Handeln großes Leid nicht nur für andere, sondern auch für sie selbst mit sich bringt. Zum anderen lehnen sie aber psychotherapeutische Hilfsangebote in aller Regel ab. Eine systemtheoretisch fundierte funktionale Analyse kann diesen Sachverhalt erklären und Anregungen für die therapeutische Praxis geben. Demnach erleben sich diese Kinder und Jugendlichen in der Kommunikation nicht als ausreichend sicher adressiert. Dieses selbstwerteinschränkende Problem versuchen sie zu lösen, indem sie die normativen Erwartungen der Gesellschaft systematisch enttäuschen und so ihre Adressierung rücksichtslos erzwingen. Dieser Ansatz ermöglicht es, nach Problemlösungsstrategien Ausschau zu halten, die funktional äquivalent sind, die aber im Vergleich zu den dissozialen Strategien mit weniger Nachteilen verbunden sind.Roland Schleiffer klärt zunächst Terminologie, Epidemiologie und Phänomenologie dissozialen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen und stellt zentrale Befunde der Entwicklungspsychopathologie vor. Ausführlich beschreibt er die funktionale Analyse dissozialen Handelns. Sie dient sowohl der Einschätzung der vorhandenen therapeutischen Angebote wie auch als Grundlage für Ideen und Vorschläge zur Entwicklung einer systemischen Praxis.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783849781507

1Einleitung

1.1Ein exemplarischer Fall

Für den 17-jährigen Axel sollte ein jugendpsychiatrisches Gutachten angefertigt werden. Der Jugendliche war zum wiederholten Mal wegen gemeinschaftlich begangener Einbruchdiebstähle und Autoaufbrüche aufgefallen. Laut Anklage hat er zusammen mit anderen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen aus dem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt, Autos aufgebrochen und diese kurzgeschlossen. Beim letzten Mal seien die jungen Leute aber nicht weit gekommen, da Axel das Auto bei einem Wendemanöver gegen einen Baum gesetzt habe. Dabei sei ein beträchtlicher Sachschaden entstanden.
Axel war bereits vorbestraft. Die letzten Delikte hatte er während seiner Bewährungszeit begangen. Im Jahr zuvor war er »wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls in einem besonders schweren Fall« zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt worden war. Axel hatte zusammen mit zwei anderen Mitgliedern seiner Clique, mit einer Gaspistole bewaffnet, ein Reisebüro überfallen. Dabei wurde nur ein kleiner Geldbetrag erbeutet. In das Urteil einbezogen wurden Urteile aus zwei früheren Verfahren, in denen es um ähnlich gelagerte Delikte gegangen war. Die jungen Leute waren eingebrochen, unter anderem in eine Gartenlaube und in ein Eiscafé, wobei sie jeweils nur geringfügige Geldbeträge sowie Zigaretten entwendet hatten.
Axel war bereits bei der Einschulungsuntersuchung aufgefallen. Die Schulärztin hatte seinerzeit bei dem Jungen die Diagnose »leichte frühkindliche Hirnschädigung« gestellt. Diese Diagnose stützte sich auf die Anamnese, die durch eine Risikoschwangerschaft, eine vorzeitige Geburtseinleitung und eine in der Neugeborenenzeit notwendig gewordene Intensivbehandlung belastet war, sowie auf Symptome einer zentralen Koordinationsstörung, einer Störung der visuellen Wahrnehmung und der visuomotorischen Koordination wie auf eine deutliche Verminderung der Konzentrations- und Merkfähigkeit.
Der Junge wurde in den folgenden Jahren regelmäßig schulärztlich und sozialpädagogisch betreut. Im 2. Grundschuljahr wurde ein Sonderschulaufnahmeverfahren in Gang gesetzt. Axel wurde daraufhin wegen »erheblicher Verhaltensstörungen, neurogener Teilleistungsschwächen und generalisierter Lernstörung« in die Sonderschule für Erziehungshilfe umgeschult. Bei der seinerzeit durchgeführten psychologischen Untersuchung erreichte der Junge im Intelligenztest ein insgesamt unterdurchschnittliches Ergebnis. Seine sprachfreie Intelligenz wurde als knapp durchschnittlich eingeschätzt. Er zeigte besondere Schwächen im Bereich des rechnerischen Denkens, beim Kurzzeitgedächtnis, im Bereich der praktischen Urteilsfähigkeit und bei der visuomotorischen Koordination. Es habe eine Artikulationsstörung bestanden.
Axels deutliche emotionale Unausgeglichenheit und seine geringe Frustrationstoleranz wurden damals durch die »schwierige familiäre Situation« erklärt. Als der Junge 8 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Seitdem wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen zwei älteren Geschwistern in einer Wohnung in einem ausgesprochenen Problemviertel einer Großstadt. Eine Reihe ambulanter Hilfemaßnahmen wurden eingesetzt, so eine Legasthenie-Therapie, eine Hausaufgabenhilfe sowie eine sonderpädagogische Einzelbetreuung. Nach Beendigung der Grundschulzeit war Axel dann in eine Sonderschule für Lernbehinderte gewechselt.
Im Alter von 14 Jahren hörte Axel auf, die Schule zu besuchen. Nachdem er ein Jahr lang nicht mehr in der Schule erschienen war, stellte seine Mutter, die inzwischen auch infolge ihrer eigenen behindernden, chronischen Erkrankung nahezu jeden erzieherischen Einfluss verloren hatte, beim Jugendamt der Stadt einen Antrag auf Erziehungshilfe. Von kinderpsychiatrischer Seite wurde eine Fremdplatzierung in einem Heim vorgeschlagen, gegen die sich der Junge erfolgreich wehrte. Jedenfalls erfolgte keine Heimunterbringung. Aber auch andere Hilfemaßnahmen erfolgten nicht.
Stattdessen suchte und fand Axel Anschluss an eine delinquente Gleichaltrigengruppe seiner Nachbarschaft. Dort soll es ihm allerdings nicht leichtgefallen sein, die gewünschte Anerkennung zu erreichen. Nach Angaben der Mutter habe sich ihr Sohn lange Zeit von seinen Kameraden schlagen lassen. Erst seit Kurzem habe er es geschafft, sich erfolgreich zu wehren. Er komme nun mit den Gleichaltrigen besser zurecht. Axel habe sich vor geraumer Zeit nach einem Streit mit ihr mit Tabletten umbringen wollen. Früher sei der Junge sehr schüchtern gewesen. Er habe vor allem Neuen Angst gehabt. Schnell habe er sich geschämt.
Axel sei nun sehr aggressiv. Zu Hause demoliere ihr Sohn bisweilen die Wohnung. Die Mutter äußerte die Angst, dass er sich einmal nicht mehr würde steuern können. Diesbezüglich sei er seinem Vater, den sie als aggressiv und spielsüchtig schilderte, doch sehr ähnlich. Schon im Alter von 6 Jahren sei Axel gegen seinen Vater »mit dem Messer losgegangen«. Erst auf Nachfrage ergänzte die Mutter, dass Axel sie bei diesem Vorfall vor ihrem gewalttätigen Ehemann habe schützen wollen.
Der erste Kontakt mit Axel fand in der Behinderteneinrichtung statt, in welcher der Jugendliche die Sozialstunden, zu denen er in einem vorausgegangenen Verfahren verurteilt worden war, gerade ableistete. Axel überraschte den Sachverständigen mit seinem Verhalten. Er empfing diesen an der Tür ausgesprochen freundlich, geleitete ihn zur Leiterin der Einrichtung, machte ihn mit dieser bekannt und servierte beiden später Kaffee und Gebäck. Von der Leiterin der Einrichtung war zu erfahren, dass Axel bei den dort betreuten Kindern sehr beliebt sei. Vor allem bei der Arbeit mit Kindern mit einer Mehrfachbehinderung engagiere sich Axel. Er habe sich inzwischen in der Einrichtung geradezu unersetzlich gemacht.
Im Gespräch mit dem Sachverständigen verhielt sich Axel anfangs sehr schüchtern, ängstlich, auch misstrauisch, insgesamt aber keineswegs situationsinadäquat. Es bestand eine deutliche Artikulationsstörung. Bei emotional brisanten Themen war der Jugendliche nur schwer zu verstehen, sodass man nachfragen musste. Schnell wurde deutlich, dass Axel nur über einen niedrigen Selbstwert verfügte. Er schäme sich, nur mit Mühe schreiben und lesen zu können. Die Frage, ob denn alle anderen Schüler der Berufsschule, die er im Übrigen nur selten aufsuchte, lesen und schreiben könnten, beantwortete er mit der resignativen Aussage: »Manche sind auch so doof wie ich und können nicht richtig lesen.«
Axel machte keinen Hehl daraus, wie sehr er sich derzeit bei der Arbeit in der Behinderteneinrichtung wohlfühlte. Er wirkte geradezu glücklich. Seit einigen Wochen laufe für ihn eine Arbeitserkundungsmaßnahme im handwerklichen Bereich. Das mache ihm richtig Spaß. Allerdings schaffe es die Mutter manchmal nicht, ihn morgens aus dem Bett zu bringen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass Axel vorzugsweise an solchen Tagen nicht aufstand, an denen der Besuch der Berufsschule anstand. Es wurde deutlich, wie sehr sich Axel schämte, nicht richtig lesen zu können, und wie wichtig es ihm war, diese Tatsache zu verbergen. So frage er auch nie nach, um sich nicht offenbaren zu müssen. Im Zweifelsfall würde er vieles unterschreiben, auch ohne den Text gelesen zu haben. Auch würde er sich keiner Ausbildung unterziehen, bei der man rechnen müsse. Mit dem Rechnen habe er es nämlich nicht so.
Axel schätzte sich selbst als »eigentlich friedlichen Typ« ein. »Aber nicht, wenn man mich nervt«, ergänzte er. Es dauere aber schon lange, bis es so weit sei. Auf die Frage, was denn passieren müsse, dass er sich schlage, antwortete Axel, dass es dazu komme, wenn man ihn »Hurensohn« nenne oder wenn man ihn auf seine Leseschwäche anspreche. Überhaupt solle dies niemand erfahren. Früher hätten sich seine Kumpel über ihn lustig gemacht. Das passiere aber nun nicht mehr.
Zu den ihm vorgeworfenen Delikten befragt, gab Axel an, dass die Anklage so nicht stimme. Er sei zwar dabei gewesen, sei aber nie selbst gefahren. Er habe immer nur »Schmiere gestanden«. Die kurze Zeit in der Untersuchungshaft sei für ihn ganz schlimm gewesen. Er habe sich vorgenommen, nunmehr »keinen Scheiß« mehr zu machen. Auch mit seiner Clique wolle er nichts mehr zu tun haben.
Der Sinn bzw. die Funktion von Axels delinquentem Handeln war dem Gericht unschwer zu vermitteln. Axel versuchte offensichtlich mit seinen Delikten, sich der eigenen Handlungskompetenz zu versichern und die Anerkennung vonseiten seiner Gleichaltrigengruppe zu erreichen. Dies gelang ihm allerdings nur ansatzweise. Axel dürfte vorzugsweise doch nur zum Schmierestehen abkommandiert worden sein. Bei der Ausübung dieser eigentlich durchaus verantwortungsvollen Tätigkeit, mit der allerdings nur die eher weniger cleveren Mitglieder einer delinquenten Clique betraut werden, ließ sich Axel denn auch von der Polizei erwischen. Im Unterschied zu seinen Kumpanen gelang es ihm nicht, sich rechtzeitig davonzumachen.
Dem dissozialen Verhalten war mithin die Funktion zuzuschreiben, das Selbstkonzept zu stärken, das nicht zuletzt durch das schulische Versagen deutlich beeinträchtigt war. Axels Delinquenz lässt sich als Selbsthilfeversuch ansehen, gelang es ihm doch dadurch, von den Mitgliedern seiner Clique als durchaus ernst zu nehmender Gesprächspartner akzeptiert zu werden. Zumindest in der Kommunikation dort erlebte sich Axel als ausreichend sicher adressiert. Dieses Erleben eignete sich nur allzu gut, sein Selbstwertgefühl zu steigern, hängt doch der Selbstwert entscheidend ab von der Einschätzung der eigenen Adressabilität (vgl. Fuchs 1997). Die gleiche Funktion kam allerdings auch seinem prosozialen Verhalten anlässlich der Ableistung der ihm auferlegten Sozialstunden in der Behinderteneinrichtung zu. Diese Tätigkeit brachte ihm offensichtlich die Anerkennung aller Beteiligten ein. Hierbei bewies der Jugendliche eine in Anbetracht der Aktenlage überraschend hohe soziale Kompetenz. Hätte die Möglichkeit bestanden, dass Axel weiterhin in der Behinderteneinrichtung hätte tätig sein können, wäre seine Weiterbeschäftigung dort sicherlich eine Erfolg versprechende therapeutische bzw. präventive Intervention gewesen.
Aufgrund der eindrücklichen funktionalen Äquivalenz von dissozialen, delinquenten Verhaltensweisen einerseits und prosozialen Handlungen andererseits verzichtete das Jugendgericht in seinem Urteil auf eine härtere Bestrafung, zumal die Durchführung einer Berufsfindungsmaßnahme im sozialen Bereich gesichert schien.

1.2Überblick

Die Geschichte des 17-jährigen Axel lässt sich durchaus als exemplarisch für eine dissoziale Entwicklung ansehen. An ihr lassen sich einige zentral bedeutsame Themenbereiche diskutieren, die zum Verständnis der Entstehung von Dissozialität und zur Planung von Interventionen mit ihr beitragen und auf die in den folgenden Kapiteln eingegangen werden soll.
In Kapitel 2 geht es neben terminologischen Fragen um die Überlegung, in welchen Funktionssystemen eine dissoziale Problematik thematisiert wird. Bei Axel handelt es sich um einen Jungen, der mit seinem dissozialen Handeln gegen die Normen verstößt. Um diese Normen wusste der Junge zweifellos. Sein von den etablierten Verhaltensregeln abweichendes Verhalten wird in mehreren Subsystemen der Gesellschaft nach den dort jeweils geltenden Kommunikationsregeln unterschiedlich thematisiert. So wurde im Erziehungssystem bei dem Jungen ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Im Medizinsystem erhielt er die Diagnose Störung des Sozialverhaltens bei multiplen Teilleistungsschwächen. Im Funktionssystem der Sozialen Hilfe wurde der Mutter Erziehungshilfe angeboten. Die kostenintensive Fremdplatzierung scheiterte allerdings am hinhaltenden Widerstand des Jungen.
Da es in diesem Band um therapeutische Interventionen geht, mithin um Operationen des Krankenbehandlungssystems, soll in Kapitel 3 das »klinische« Erscheinungsbild von Dissozialität beschrieben werden. Axels dissoziales Verhalten umfasst neben einer offen geäußerten Aggressivität auch Diebstähle und Einbrüche. Diese heimlichen Delikte beging der Junge niemals alleine, sondern jeweils in Gesellschaft einer delinquenten Clique. Bei Axel bestanden weitere psychische Auffälligkeiten oder Störungen im Sinne einer Komorbidität, wie etwa die Teilleistungsschwächen, aber auch seine zumindest zeitweilig subdepressive Verfassung, die sich in einem parasuizidalen Handeln ausdrückte.
In Kapitel 4 geht es aus einer entwicklungspsychopathologischen Perspektive vor allem um die Risikofaktoren, die eine dissoziale Entwicklung begünstigen. Bei Axel war es der fast vollständige Vaterverlust nach der Trennung seiner Eltern. In der Folgezeit zeigte der Junge Verhaltensauffälligkeiten, die seine Mutter mit dem Verhalten ihres geschiedenen Mannes verglich. Axel hatte augenscheinlich die Rolle seines nunmehr abwesenden Vaters im Sinne eines kollusiven Partnersubstituts übernommen. Auch das Aufwachsen in einer kriminalitätsbelasteten Nachbarschaft seines Stadtviertels begünstigte seine dissoziale Entwicklung. Axel suchte die Nähe zu einer delinquenten Peergruppe. Auch seine gravierenden Teilleistungsschwächen sind als bedeutsame Risikofaktoren zu nennen.
Kapitel 5 thematisiert die unterschiedlichen Erklärungsmodelle für dissoziale Verhaltensstörungen. Die Methode der funktionalen Analyse wird vorgestellt, die ein systemtheoretisches Problemverständnis für dissoziales Handeln ermöglicht. Dieser Methode, die das Schema Problem/Problemlösung einsetzt, kommt ein zentraler Stellenwert in der vom Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann vorgelegten differenztheoretisch konzipierten Theorie autopoietischer Systeme zu. Dabei geht es darum, das Problem zu beschreiben, für welches das dissoziale Verhalten als Problemlösungsversuch infrage kommt. Dieses Vorgehen ermöglicht es, nach Alternativen zu suchen, die zwar funktional äquivalent, aber für die betreffende Person wie auch für ihre Umgebung weniger schädlich sind. So bestand bei Axel ein gravierendes Selbstwertproblem. Mit seinen dissozialen und kriminellen Aktivitäten suchte er den selbstwertsteigernden Anschluss an die Gleichaltrigengruppe. So sollte die Delinquenz ihm als Selbsthilfeversuch eine ausreichend sichere Adresse in der Kommunikation garantieren. In diesem Fall ließ sich zudem eine bemerkenswerte funktionale Äquivalenz von dissozialem und prosozialem Verhalten beobachten.
Das Kapitel 6 beginnt mit einer knappen Übersicht über die Interventionen, die von unterschiedlichen Therapierichtungen in unterschiedlichen Settings angeboten werden. Die funktionale Analyse macht verständlich, warum Interventionsformen oder Therapieprogramme erfolgsversprechend sind, vermag aber auch zu erklären, warum sich Probleme mit Dissozialität immer wieder, wie auch im Falle von Axel, als therapieresistent erweisen. Es schließen sich Vorschläge für eine systemische Psychotherapie beim Vorliegen einer dissozialen Problematik an, wobei sich die funktionale Analyse als handlungsleitend erweist. Diese Form der Psychotherapie versteht sich insofern als systemisch, als sich ihre Methoden und Techniken, gleich ob individual- oder familientherapeutisch eingesetzt, systemtheoretisch begründen lassen.
Anmerkungen zum Nutzen der funktionalen Analyse beschließen in Kapitel 7 den Band.

2Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten – eine schwierige Klientel

Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten, stellen ihre Mitmenschen mit ihrem Tun vor beträchtliche Probleme. Das erschwert schon den alltäglichen Umgang mit ihnen, der daher nach Möglichkeit gemieden wird. Sofern dies nicht gänzlich möglich ist, empfiehlt es sich jedenfalls, Vorsicht walten zu lassen. Das Thema Dissozialität lässt denn auch kaum jemanden kalt. Geht es um Dissozialität bei Minderjährigen, kommt es noch zu einer weiteren Emotionalisierung, als ob man gerade von jungen Menschen ein solches, die normativen Erwartungen enttäuschendes Verhalten nicht erwarten würde. Werden wir mit deren abweichendem, delinquentem oder kriminellem Verhalten konfrontiert, empören wir uns. Offensichtlich erleichtert es diese affektive Aufladung, an den eigenen normativen Erwartungen auch in einem solchen Enttäuschungsfall festhalten zu können. Man darf sich dann versichern, ein sozial angemessenes Verhalten erwartet zu haben, und wird seine Erwartungen nicht zur Disposition stellen müssen. Schließlich hat sich doch der andere falsch verhalten.
Affekte bewirken einen Handlungsdruck. Maßnahmen werden vorgeschlagen, Sanktionen gefordert. Die Emotionalisierung lässt den Grad der »gefühlten« Bedrohung ansteigen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Vorwort der Herausgeber
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten – eine schwierige Klientel
  9. 3 Erscheinungsbild
  10. 4 Entwicklungspsychopathologie
  11. 5 Erklärungsmodelle
  12. 6 Interventionen
  13. 7 Schlussbemerkung
  14. 8 Literatur
  15. 9 Über den Autor