Für den 17-jährigen Axel sollte ein jugendpsychiatrisches Gutachten angefertigt werden. Der Jugendliche war zum wiederholten Mal wegen gemeinschaftlich begangener Einbruchdiebstähle und Autoaufbrüche aufgefallen. Laut Anklage hat er zusammen mit anderen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen aus dem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt, Autos aufgebrochen und diese kurzgeschlossen. Beim letzten Mal seien die jungen Leute aber nicht weit gekommen, da Axel das Auto bei einem Wendemanöver gegen einen Baum gesetzt habe. Dabei sei ein beträchtlicher Sachschaden entstanden.
Axel war bereits vorbestraft. Die letzten Delikte hatte er während seiner Bewährungszeit begangen. Im Jahr zuvor war er »wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls in einem besonders schweren Fall« zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt worden war. Axel hatte zusammen mit zwei anderen Mitgliedern seiner Clique, mit einer Gaspistole bewaffnet, ein Reisebüro überfallen. Dabei wurde nur ein kleiner Geldbetrag erbeutet. In das Urteil einbezogen wurden Urteile aus zwei früheren Verfahren, in denen es um ähnlich gelagerte Delikte gegangen war. Die jungen Leute waren eingebrochen, unter anderem in eine Gartenlaube und in ein Eiscafé, wobei sie jeweils nur geringfügige Geldbeträge sowie Zigaretten entwendet hatten.
Axel war bereits bei der Einschulungsuntersuchung aufgefallen. Die Schulärztin hatte seinerzeit bei dem Jungen die Diagnose »leichte frühkindliche Hirnschädigung« gestellt. Diese Diagnose stützte sich auf die Anamnese, die durch eine Risikoschwangerschaft, eine vorzeitige Geburtseinleitung und eine in der Neugeborenenzeit notwendig gewordene Intensivbehandlung belastet war, sowie auf Symptome einer zentralen Koordinationsstörung, einer Störung der visuellen Wahrnehmung und der visuomotorischen Koordination wie auf eine deutliche Verminderung der Konzentrations- und Merkfähigkeit.
Der Junge wurde in den folgenden Jahren regelmäßig schulärztlich und sozialpädagogisch betreut. Im 2. Grundschuljahr wurde ein Sonderschulaufnahmeverfahren in Gang gesetzt. Axel wurde daraufhin wegen »erheblicher Verhaltensstörungen, neurogener Teilleistungsschwächen und generalisierter Lernstörung« in die Sonderschule für Erziehungshilfe umgeschult. Bei der seinerzeit durchgeführten psychologischen Untersuchung erreichte der Junge im Intelligenztest ein insgesamt unterdurchschnittliches Ergebnis. Seine sprachfreie Intelligenz wurde als knapp durchschnittlich eingeschätzt. Er zeigte besondere Schwächen im Bereich des rechnerischen Denkens, beim Kurzzeitgedächtnis, im Bereich der praktischen Urteilsfähigkeit und bei der visuomotorischen Koordination. Es habe eine Artikulationsstörung bestanden.
Axels deutliche emotionale Unausgeglichenheit und seine geringe Frustrationstoleranz wurden damals durch die »schwierige familiäre Situation« erklärt. Als der Junge 8 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Seitdem wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen zwei älteren Geschwistern in einer Wohnung in einem ausgesprochenen Problemviertel einer Großstadt. Eine Reihe ambulanter Hilfemaßnahmen wurden eingesetzt, so eine Legasthenie-Therapie, eine Hausaufgabenhilfe sowie eine sonderpädagogische Einzelbetreuung. Nach Beendigung der Grundschulzeit war Axel dann in eine Sonderschule für Lernbehinderte gewechselt.
Im Alter von 14 Jahren hörte Axel auf, die Schule zu besuchen. Nachdem er ein Jahr lang nicht mehr in der Schule erschienen war, stellte seine Mutter, die inzwischen auch infolge ihrer eigenen behindernden, chronischen Erkrankung nahezu jeden erzieherischen Einfluss verloren hatte, beim Jugendamt der Stadt einen Antrag auf Erziehungshilfe. Von kinderpsychiatrischer Seite wurde eine Fremdplatzierung in einem Heim vorgeschlagen, gegen die sich der Junge erfolgreich wehrte. Jedenfalls erfolgte keine Heimunterbringung. Aber auch andere Hilfemaßnahmen erfolgten nicht.
Stattdessen suchte und fand Axel Anschluss an eine delinquente Gleichaltrigengruppe seiner Nachbarschaft. Dort soll es ihm allerdings nicht leichtgefallen sein, die gewünschte Anerkennung zu erreichen. Nach Angaben der Mutter habe sich ihr Sohn lange Zeit von seinen Kameraden schlagen lassen. Erst seit Kurzem habe er es geschafft, sich erfolgreich zu wehren. Er komme nun mit den Gleichaltrigen besser zurecht. Axel habe sich vor geraumer Zeit nach einem Streit mit ihr mit Tabletten umbringen wollen. Früher sei der Junge sehr schüchtern gewesen. Er habe vor allem Neuen Angst gehabt. Schnell habe er sich geschämt.
Axel sei nun sehr aggressiv. Zu Hause demoliere ihr Sohn bisweilen die Wohnung. Die Mutter äußerte die Angst, dass er sich einmal nicht mehr würde steuern können. Diesbezüglich sei er seinem Vater, den sie als aggressiv und spielsüchtig schilderte, doch sehr ähnlich. Schon im Alter von 6 Jahren sei Axel gegen seinen Vater »mit dem Messer losgegangen«. Erst auf Nachfrage ergänzte die Mutter, dass Axel sie bei diesem Vorfall vor ihrem gewalttätigen Ehemann habe schützen wollen.
Der erste Kontakt mit Axel fand in der Behinderteneinrichtung statt, in welcher der Jugendliche die Sozialstunden, zu denen er in einem vorausgegangenen Verfahren verurteilt worden war, gerade ableistete. Axel überraschte den Sachverständigen mit seinem Verhalten. Er empfing diesen an der Tür ausgesprochen freundlich, geleitete ihn zur Leiterin der Einrichtung, machte ihn mit dieser bekannt und servierte beiden später Kaffee und Gebäck. Von der Leiterin der Einrichtung war zu erfahren, dass Axel bei den dort betreuten Kindern sehr beliebt sei. Vor allem bei der Arbeit mit Kindern mit einer Mehrfachbehinderung engagiere sich Axel. Er habe sich inzwischen in der Einrichtung geradezu unersetzlich gemacht.
Im Gespräch mit dem Sachverständigen verhielt sich Axel anfangs sehr schüchtern, ängstlich, auch misstrauisch, insgesamt aber keineswegs situationsinadäquat. Es bestand eine deutliche Artikulationsstörung. Bei emotional brisanten Themen war der Jugendliche nur schwer zu verstehen, sodass man nachfragen musste. Schnell wurde deutlich, dass Axel nur über einen niedrigen Selbstwert verfügte. Er schäme sich, nur mit Mühe schreiben und lesen zu können. Die Frage, ob denn alle anderen Schüler der Berufsschule, die er im Übrigen nur selten aufsuchte, lesen und schreiben könnten, beantwortete er mit der resignativen Aussage: »Manche sind auch so doof wie ich und können nicht richtig lesen.«
Axel machte keinen Hehl daraus, wie sehr er sich derzeit bei der Arbeit in der Behinderteneinrichtung wohlfühlte. Er wirkte geradezu glücklich. Seit einigen Wochen laufe für ihn eine Arbeitserkundungsmaßnahme im handwerklichen Bereich. Das mache ihm richtig Spaß. Allerdings schaffe es die Mutter manchmal nicht, ihn morgens aus dem Bett zu bringen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass Axel vorzugsweise an solchen Tagen nicht aufstand, an denen der Besuch der Berufsschule anstand. Es wurde deutlich, wie sehr sich Axel schämte, nicht richtig lesen zu können, und wie wichtig es ihm war, diese Tatsache zu verbergen. So frage er auch nie nach, um sich nicht offenbaren zu müssen. Im Zweifelsfall würde er vieles unterschreiben, auch ohne den Text gelesen zu haben. Auch würde er sich keiner Ausbildung unterziehen, bei der man rechnen müsse. Mit dem Rechnen habe er es nämlich nicht so.
Axel schätzte sich selbst als »eigentlich friedlichen Typ« ein. »Aber nicht, wenn man mich nervt«, ergänzte er. Es dauere aber schon lange, bis es so weit sei. Auf die Frage, was denn passieren müsse, dass er sich schlage, antwortete Axel, dass es dazu komme, wenn man ihn »Hurensohn« nenne oder wenn man ihn auf seine Leseschwäche anspreche. Überhaupt solle dies niemand erfahren. Früher hätten sich seine Kumpel über ihn lustig gemacht. Das passiere aber nun nicht mehr.
Zu den ihm vorgeworfenen Delikten befragt, gab Axel an, dass die Anklage so nicht stimme. Er sei zwar dabei gewesen, sei aber nie selbst gefahren. Er habe immer nur »Schmiere gestanden«. Die kurze Zeit in der Untersuchungshaft sei für ihn ganz schlimm gewesen. Er habe sich vorgenommen, nunmehr »keinen Scheiß« mehr zu machen. Auch mit seiner Clique wolle er nichts mehr zu tun haben.
Der Sinn bzw. die Funktion von Axels delinquentem Handeln war dem Gericht unschwer zu vermitteln. Axel versuchte offensichtlich mit seinen Delikten, sich der eigenen Handlungskompetenz zu versichern und die Anerkennung vonseiten seiner Gleichaltrigengruppe zu erreichen. Dies gelang ihm allerdings nur ansatzweise. Axel dürfte vorzugsweise doch nur zum Schmierestehen abkommandiert worden sein. Bei der Ausübung dieser eigentlich durchaus verantwortungsvollen Tätigkeit, mit der allerdings nur die eher weniger cleveren Mitglieder einer delinquenten Clique betraut werden, ließ sich Axel denn auch von der Polizei erwischen. Im Unterschied zu seinen Kumpanen gelang es ihm nicht, sich rechtzeitig davonzumachen.
Dem dissozialen Verhalten war mithin die Funktion zuzuschreiben, das Selbstkonzept zu stärken, das nicht zuletzt durch das schulische Versagen deutlich beeinträchtigt war. Axels Delinquenz lässt sich als Selbsthilfeversuch ansehen, gelang es ihm doch dadurch, von den Mitgliedern seiner Clique als durchaus ernst zu nehmender Gesprächspartner akzeptiert zu werden. Zumindest in der Kommunikation dort erlebte sich Axel als ausreichend sicher adressiert. Dieses Erleben eignete sich nur allzu gut, sein Selbstwertgefühl zu steigern, hängt doch der Selbstwert entscheidend ab von der Einschätzung der eigenen Adressabilität (vgl. Fuchs 1997). Die gleiche Funktion kam allerdings auch seinem prosozialen Verhalten anlässlich der Ableistung der ihm auferlegten Sozialstunden in der Behinderteneinrichtung zu. Diese Tätigkeit brachte ihm offensichtlich die Anerkennung aller Beteiligten ein. Hierbei bewies der Jugendliche eine in Anbetracht der Aktenlage überraschend hohe soziale Kompetenz. Hätte die Möglichkeit bestanden, dass Axel weiterhin in der Behinderteneinrichtung hätte tätig sein können, wäre seine Weiterbeschäftigung dort sicherlich eine Erfolg versprechende therapeutische bzw. präventive Intervention gewesen.
Aufgrund der eindrücklichen funktionalen Äquivalenz von dissozialen, delinquenten Verhaltensweisen einerseits und prosozialen Handlungen andererseits verzichtete das Jugendgericht in seinem Urteil auf eine härtere Bestrafung, zumal die Durchführung einer Berufsfindungsmaßnahme im sozialen Bereich gesichert schien.