Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!
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Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Grundlagen und Fallbeispiele des Provokativen Stils

  1. 269 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Grundlagen und Fallbeispiele des Provokativen Stils

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Über dieses Buch

Die meisten Menschen haben keine, eine falsche oder eine starre Vorstellung davon, wer sie sind und was sie können. Diese verzerrte Selbstwahrnehmung führt dazu, dass sie unter ihren Möglichkeiten bleiben und ihre Potentiale nicht ausschöpfen. Sie stellen sich selbst ein Bein, fühlen sich als Opfer anderer Menschen, ihrer Gene, der Umstände oder des Schicksals. Selten machen sie sich selbst für ihr Missgeschick verantwortlich.Rationale Einsichten alleine bewirken hier nichts – konstruktive Veränderungen kommen nur zustande, wenn Gefühle verändert werden. Der im Buch beschriebene Provokative Stil® wendet sich direkt an die Gefühlswelt und kitzelt die Selbstverantwortung des Klienten heraus. Durch geschickte Nutzung des emotionalen Widerstandes nimmt der Berater die Gefühls- und Denkblockaden des Klienten aufs Korn und verzerrt sie auf humorvolle Art und Weise, bis der Klient über sich selbst und seine Stolpersteine lachen kann. Das eröffnet neue Möglichkeiten für konstruktivere Gefühle und Verhaltensweisen, der Klient bekommt das Ruder für sein Leben wieder selbst in die Hand und erlebt nachhaltige Befriedigung durch ungewohnte Erfolgserlebnisse, was zu weiteren positiven Veränderungen führt. Ein "Engelskreis" kommt in Gang.Im Buch werden die Grundlagen, Voraussetzungen und der Einsatz des Provokativen Stils leicht lesbar und vergnüglich beschrieben. Zahlreiche kommentierte Fallbeispiele geben einen anschaulichen Einblick in diese ungewöhnliche Kommunikationsform, die zu schnellen und anhaltenden Veränderungen führt.

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Information

Jahr
2023
ISBN
9783849780159

1 Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Die Wachstumsbremsen oder: Wer bin ich?

Frank Farrelly zitiert in seinen Workshops gerne die Erkenntnis von Carl Rogers, dass die grundlegenden Fragen für jeden Menschen die nach seiner Identität sind. Jeder Mensch, der nicht vollständig abgestumpft ist, stellt sich folgende vier Fragen:
1. Wer bin ich?
2. Was bin ich?
3. Was sind meine Werte?
4. Was werde ich mit meinem Leben anfangen?
Diese Fragen nach der eigenen Identität sind nicht nur schwer zu beantworten, sondern die Antworten verändern sich auch noch im Lauf eines Lebens immer wieder. Manche Fragen wachsen, manche treten in den Hintergrund, manche Antworten werden brüchig. Und während wir mit der Beantwortung ringen, schlagen wir uns mit unseren Ängsten und unserem Sicherheitsstreben herum und versuchen, irgendwo Boden unter die Füße zu bekommen, während sich unsere Lebensgrundlage gelegentlich wie Treibsand anfühlt. Deshalb geben wir uns gerne damit zufrieden, wenn wir glauben, dass sich die eine oder andere Frage abhaken lässt, und haben wenig Neigung, sie uns stets neu zu stellen. Unterstützt werden wir bei dieser Vermeidungshaltung von unseren Wachstumsbremsen.
Die Wachstumsbremsen, die unsere Persönlichkeitsentwicklung verlangsamen oder ganz zum Stillstand bringen, sind hartnäckige Begleiter, und wahrscheinlich wird keiner von uns sie bis zu seinem seligen Ende vollständig los. Es erfordert einige Anstrengung, sie in Zaum zu halten, denn wenn man sie ungehindert walten lässt, bremsen sie immer kräftiger und wir drehen uns zunehmend im Kreis unserer emotionalen, möglichst risikolosen Überzeugungen. Mit erstarkenden Wachstumsbremsen wächst auch die Angst vor Neuem, sodass ein fabelhafter Kreislauf der Vermeidung in Gang gesetzt wird. Die Lebensbereiche, in denen ein Mensch seine Weiterentwicklung durch seine Wachstumsbremsen selbst blockiert, werden von ihm gemieden und bekommen einen immer bedrohlicheren Charakter, je länger die Vermeidung anhält.
Wachstumsbremsen sind emotionale Strategien, Angst zu vermeiden, denn sie warnen uns heftig vor jedem möglichen Risiko. Jede neue und unbekannte Situation ist garniert mit diesen lästigen Emotionen, die uns zuflüstern: »Lass es lieber! Es ist zu riskant, zu anstrengend oder passt doch gar nicht zu dir!« Zur Rechtfertigung liefert man sich und anderen dann pseudorationale Begründungen: »Ich würde das ja gerne machen, aber …« Um die Wachstumsbremsen zu schwächen, sind wir daher aufgerufen, uns bei neuen Herausforderungen zu fragen, ob wir der warnenden inneren Stimme Gehör schenken wollen oder ob wir ihr zurufen: »Halt die Klappe!«
Die drei Angstvermeidungsstrategien, die mir am wichtigsten erscheinen, sind die Feigheit, die Faulheit und die Fixierung. Feigheit und Faulheit hat bereits der Philosoph Immanuel Kant als Hindernisse zur geistigen Unabhängigkeit und persönlichen Weiterentwicklung erwähnt. Ursprünglich14 habe ich die dritte Wachstumsbremse »Eitelkeit« genannt, aber inzwischen ist mir klar geworden, dass es viele Fixierungen gibt, bei denen dieser Begriff in die Irre führt, da sie mit Eitelkeit, wie wir sie im Allgemeinen verstehen, nichts zu tun haben.

Die Wachstumsbremse Fixierung

Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an persönlicher Stabilität, die sich darin ausdrückt, dass er Dinge denkt, fühlt und tut, die sich nicht permanent ändern und die er als zu ihm passend empfindet. So etwas nennt man Authentizität. Dennoch ist es erforderlich, offen zu bleiben für die Entwicklung und Erprobung neuer Aspekte und Möglichkeiten, die in der eigenen Persönlichkeit schlummern und die man unter Umständen bisher nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte. So etwas nennt man Persönlichkeitsentwicklung oder Reifung. Am Beginn eines jeden Problems steht ein fester Glaube, eine starre Überzeugung, eine fixe Idee bezüglich der eigenen Identität, die für Variationen keinen Spielraum mehr lässt.
Bei der Fixierung auf bestimmte Merkmale der eigenen Person ist die Verankerung dieses Glaubens so stabil, dass ich nicht mehr merke, wie eng das Korsett ist, das ich mir damit verpasse, und wie viele absurde Anteile es hat. Klienten neigen dazu, sich nur noch als ihr Problem auf zwei Beinen zu sehen: Ich bin eine Depression, ich bin eine Panikattacke usw. Klienten, die auf bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit fixiert sind, glauben felsenfest, dass diese Aspekte untrennbar und zentral zu ihrer Identität gehören. Deshalb wollen sie diese unter keinen Umständen infrage gestellt wissen. Darauf sind sie nicht unbedingt besonders stolz, wie das bei der Eitelkeit der Fall wäre, aber jedes Aufweichen dieser grundlegenden Wesensidentität löst nicht nur Unsicherheit, sondern massive Angst aus, weil sie dann nicht mehr wissen, wer sie sind.
Nicht nur krankhafte Fixierungen, die jedem Außenstehenden und manchmal sogar dem Klienten selbst auffallen, legen uns eine Zwangsjacke an, sondern alle Vorstellungen von uns selbst, die wir nicht infrage gestellt wissen wollen und die wir für total normal halten, begrenzen unsere Möglichkeiten. Praktisch alle Menschen – auch solche, die sich nicht im Traum als Klienten bezeichnen würden – sind fixiert auf bestimmte Glaubenssätze bezüglich ihrer eigenen Persönlichkeit. Wenn Sie häufig sagen: »Ich bin jemand, der …«, dann sollten sie da mal genauer hinschauen, denn wahrscheinlich legen Sie sich damit auf bestimmte Merkmale so fest, dass Sie sich vieler Variationsmöglichkeiten berauben und Ihre Weiterentwicklung hemmen. Wenn Sie jetzt denken »So ein Unsinn, bei mir ist das nicht so dahergesagt, sondern wirklich definitiv so und so!«, dann sollten erst recht die Alarmglocken schrillen.

Die Super-Oma

Ich habe erst kürzlich persönlich Bekanntschaft mit der Wachstumsbremse Fixierung gemacht. Ich bekam nach einem Skiurlaub mit der ganzen Familie – Kindern, Schwiegerkindern, Enkeln – eine hartnäckige Augenentzündung. Meine Augen waren fast komplett zugeschwollen, sie tränten und brannten, die umgebende Haut war gerötet, ich sah aus, als hätte ich mit Wladimir Klitschko geboxt. Mehrere Ärzte dokterten an mir herum und sagten so wunderbar suggestive Sachen wie: »Da kann man nicht viel machen. Das ist wahrscheinlich allergisch. Ich habe Patienten, bei denen das ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr gedauert hat! Bei manchen ging es gar nicht mehr weg!« Na super! Es wurde trotz verschiedener Salben täglich schlimmer, und ich ging nur noch mit Sonnenbrille aus dem Haus. In meiner Verzweiflung suchte ich nach zwei Wochen einen guten Freund auf, der mit Hypnose arbeitet. Bevor er mich in Trance versetzte, redeten wir über meinen Urlaub, und ich erzählte launige Anekdoten über die lieben Kleinen. Dann sagte er einen Satz, der sich anfühlte wie ein Schlag in die Magengrube. Er sagte nur grinsend: »Was willst Du eigentlich nicht sehen?«
Ich schaute ihn entgeistert an und mir dämmerte sehr schnell, was er meinte: Ich hatte im Urlaub jeden Nachmittag meinen jüngsten Enkel, einen temperamentvollen Knaben von einem halben Jahr, gehütet, damit auch seine Eltern Ski laufen konnten. Ich laufe auch sehr gerne Ski und hetzte Tag für Tag nach zwei Stunden zurück ins Chalet und übernahm das Baby. Dieser kleine Anarchist trieb mich zum Wahnsinn. Er schlief tagsüber kaum noch, konnte noch nicht frei sitzen und langweilte sich schnell. Ich trug ihn zum Fenster, ich sang ihm vor, wiegte ihn, ich zeigte ihm Legosteine, Staubwedel, bunte Bauklötze, ich gab ihm sein Fläschchen oder einen Schnuller, und alles fesselte ihn für gefühlte 30 Sekunden. Dann bekam er einen Anfall, bäumte sich auf meinem Arm mit durchgedrücktem Rücken und schrie wie am Spieß mit hochrotem Kopf, bis mir wieder etwas Neues einfiel. Ich hatte Mordgelüste! Das Problem dabei war, dass ich mir meine Genervtheit und Erschöpfung nicht eingestehen konnte, weil sie im krassen Widerspruch zu meinem Selbstbild stand, das mir befahl: Es ist toll, dass sie dich so brauchen! Du liebst deine Enkel bedingungslos und bist bereit und willig, dich jederzeit als fröhliche, aufopferungsvolle und liebevolle Großmutter bis zur Selbstaufgabe für sie einzusetzen – genau wie es deine Mutter bei deinen Kindern getan hat. Seufz!
Wenn ich nicht so ein deutliches, »augenfälliges« Symptom entwickelt hätte, wären mir wahrscheinlich schöne rationale Argumente eingefallen, warum ein weiterer Skiurlaub mit der ganzen Bande wenig Sinn macht (keine Zeit, Kinder noch zu klein, alles ist zu aufwendig, zu teuer usw.). Solche rationalen Begründungen dienen stets zur Stabilisierung des eigenen Blickwinkels. Sie machen Gefühle erträglich und verhindern Angst. Und meine Aggressivität dem Kleinen gegenüber machte mir Angst. Deshalb hatte ich meinen heftigen Zorn auf meinen doch so süßen Enkel in ein Hinterstübchen meines Hirns verbannt.
Manchmal, wenn die Erkenntnis bereits dicht unter der Oberfläche wartet, reicht als Provokation schon ein wohl platzierter Satz. Bei meinem Augenproblem lauerte meine Erkenntnis schon sprungbereit in meinem Hinterkopf, deshalb musste mein Freund nicht massiver werden. Er erkannte aus meinen köstlichen Anekdoten das Problem, und sein Satz war Provokation im Schnelldurchlauf. Er hätte auch – um mir mein mich überforderndes und überzogenes Großmutter-Idealbild bewusst zu machen und meinen Widerstand dagegen zu wecken – ausführlicher werden und mir mitteilen können, dass man Enkel immer lieben müsse, negative Gefühle dürfe es nicht geben, sie seien nicht gestattet. Und ich sei mit meinem Engagement die Großmutter des Jahres, eine bessere gebe es nirgends, man müsse mich nach meinem Ableben unbedingt ausstopfen und als mahnendes Vorbild für andere Großmütter auf dem Marktplatz aufstellen.
In seiner Kurzvariante, die dem Spuk postwendend ein Ende bereitete, war all das enthalten. Nachdem ich mir eingestanden hatte, dass mich dieser Enkel in den Irrsinn treiben konnte und ich das Recht hatte, ihn deswegen unausstehlich zu finden, war meine Augenentzündung nach wenigen Tagen spurlos verschwunden und mein Gesicht schwoll schneller ab als Eiscreme im Hochsommer.

Mutter Theresa lebt!

Eine Fixierung auf einen bestimmten Aspekt der eigenen Identität kann noch viel weiter führen als zu entzündeten Augen. Sie kann das ganze Leben bestimmen. Im günstigen Fall ist das sehr vorteilhaft und befähigt den Menschen, der an sich glaubt, zu Höchstleistungen.15 Häufig hat die Fixierung aber negative Nebenwirkungen und wird auf diese Weise zum Stolperstein. Damit meine ich nicht nur negative Glaubenssätze wie »Ich war und bin ein Versager« oder »Das schaffe ich sowieso nicht!«. Auch sozial anerkannte Werte wie eine im Übermaß verinnerlichte Hilfsbereitschaft können ein ganzes Leben auf sehr unvorteilhafte Weise definieren.
Es gibt hemmungslose Egomanen, denen das eigene Wohlergehen heilig ist, und zwar ausschließlich das eigene. Sie gehen über Leichen und pfeifen dabei fröhlich ein Lied. Zu diesen unangenehmen Zeitgenossen gibt es als Gegenstück Menschen, denen die Hilfs- und Opferbereitschaft aus allen Poren quillt. Ich bin sicher, Sie kennen solche Menschen auch oder sind vielleicht sogar selbst in Gefahr, zu denen zu gehören, die nicht Nein sagen können. So eine selbst ernannte »Mutter Theresa« ist Cordula. Sie ist davon überzeugt, dass sie anderen helfen muss, um sich treu zu bleiben. Diese Überzeugung ist wie ein elftes Gebot, das ihr Moses persönlich direkt vom Berg Sinai herabgebracht hat. Jede verweigerte Hilfeleistung, jedes verweigerte Entgegenkommen wäre also ebenso verächtlich, wie einem Unfallopfer die Erste Hilfe zu verweigern. Sie ist immer für jedermann da, alles andere wäre nackter Egoismus, und der ist ihr verhasst. Natürlich geht ihr selbstloser Einsatz häufig völlig einseitig auf ihre Kosten, und sie bekommt keinen Dank dafür, aber das hält sie nicht davon ab, jederzeit und überall in die Bresche zu springen – auch in Situationen, in denen ein ebenso freundliches wie beherztes »Nein! Jetzt reicht’s!« angebracht wäre. Die Menschen in ihrem Umfeld knuffen sich vermutlich gegenseitig verschmitzt in die Seite, wenn es etwas Unangenehmes zu erledigen gibt: »Hihi, das ist wieder was für Cordula!«
Cordula ist jetzt über 70 Jahre alt und hat sich zeitlebens von Menschen ausnützen lassen, vor allem von solchen, die sie ihrer Meinung nach lebensnotwendig brauchten. Da wäre an erster Stelle ihre Mutter zu nennen. Cordula weigerte sich bis zum Alter von Mitte 30, aus ihrem Kinderzimmer auszuziehen, wo immer noch der Teddy auf der Bettüberdecke saß. Wenn sie auszöge, wäre ihre verwitwete Mutti ja ganz alleine auf der Welt – und Mutti verstand es prächtig, ihrem Missfallen über Abnabelungstendenzen Ausdruck zu verleihen, ohne direkt etwas zu sagen. »Zieh nur aus«, sagte sie mit leidendem Gesicht, »ich komme schon zurecht!« Erst auf massiven Druck ihrer Brüder, die ihr ein eigenes Appartement besorgten und drohten, sie würden den Kontakt zu ihr abbrechen, wenn sie es nicht bezog, verließ Cordula unter Tränen die mütterliche Wohnung, begleitet von Muttis düsteren Prophezeiungen über die feindliche Welt. Den Konflikt, in den sie sich damit stürzte (denn sie wollte es natürlich auch den Geschwistern recht machen), löste sie dadurch, dass sie nach ihrem Auszug jahrzehntelang, bis zum Tod der Mutter mit über 90, zweimal täglich zu ihr fuhr, um für sie zu kochen und einzukaufen. Natürlich musste sie deshalb jede angebotene Beförderung an ihrer Arbeitsstelle ablehnen, weil ihr eine erhöhte Arbeitsbelastung nicht mehr genug Zeit für Mutti gelassen hätte. Nebenbei bemerkt: Mutti war bei Cordulas Auszug weder krank noch behindert, sondern noch keine 60 und äußerst kraftvoll, was auch in dauerhaftem heftigem Genörgele an Cordulas Lebenswandel und den von ihr zubereiteten Mahlzeiten zum Ausdruck kam.
Auch bei den Männern, in die sich Cordula verliebte, folgte sie diesem Muster. Cordula war eine hübsche Frau und hatte genügend Verehrer. Doch diejenigen, die innerlich unabhängig waren und sie nicht unbedingt gebraucht, sie aber gerne geheiratet hätten, wies sie in jungen Jahren ab. Danach folgten einige verheiratete Exemplare, die sich aber nicht scheiden lassen konnten, weil wiederum deren Frau von ihnen komplett abhängig war – ein Argument, das Cordula deprimierte, das sie aber selbstverständlich völlig einsah. Seit vielen Jahren hat sie nun einen zwar ungebundenen Freund, der wahrscheinlich deshalb ungebunden war, weil jede Frau, die ihre fünf Sinne beisammenhat, diese männliche Baustelle abgelehnt hätte. Dieses Desaster auf zwei Beinen braucht extrem viel Unterstützung, ist also unwiderstehlich für Cordula. Meistens ist er betrunken, und deshalb hat er auch einen Job nach dem anderen verloren, sodass Cordula ihn jetzt finanziell komplett aushalten muss. Cordula beklagt sich ständig über ihn, aber eine Trennung: Niemals! Auch wenn die Rauschkugel ihr das letzte Hemd auszieht, sie im Suff verprügelt und vergewaltigt, ist ihr schlagkräftigstes Argument, bei ihm zu bleiben, immer wieder: »Er hat sonst ja niemanden. Ich muss mich doch um ihn kümmern!«
Es gibt natürlich Menschen, die Erfüllung und Glück in der selbstlosen Hingabe an andere finden, und dagegen ist nichts einzuwenden. Aber Cordula war und ist nicht glücklich, sondern litt ihr Leben lang unter depressiven Perioden und fühlte sich immer vom Schicksal vernachlässigt. Der Leidensdruck, den sie entwickelt, geht jedoch niemals so weit, dass sie ihre Vorstellung von sich selbst infrage stellen würde, sondern erschöpft sich in ausführlichem Geseufze über die Grausamkeit der Welt, die Schlechtigkeit anderer Menschen und die Ungerechtigkeit des Lebens als solchem, und gegen all diese Widrigkeiten ist man ja bekanntermaßen völlig machtlos. Die Umstände und andere Menschen sind schuld und sie ist das unschuldige Opfer. Kennen Sie auch eine Cordula?

Die Wachstumsbremse Faulheit

Die Wachstumsbremse Faulheit kann jeder täglich am eigenen inneren Schweinehund spüren. Eigentlich sollte ich Sport machen, ein Buch lesen, endlich die Steuererklärung vorbereiten usw., aber stattdessen lümmle ich mich auf der Couch und schaue mir eine schwachsinnige Soap im Fernsehen an. Ich bin einfach zu faul, etwas Anstrengendes anzugehen, vor allem wenn es so unerfreulich ist wie die Steuererklärung. Klienten geht es ähnlich. Oft wissen sie sehr gut, was sie tun müssten und was gut für sie wäre, aber die Umsetzung erfordert Energie, und die verwenden sie lieber darauf, ihre Symptomatik zu pflegen. Dies ist eine gewohnte Anstrengung mit vertrautem Ergebnis in Form des altbekannten Symptoms. Wenn die Energie hingegen in eine andere als die vertraute Richtung eingesetzt werden soll – also zur Bekämpfung oder Ausschaltung des Symptoms – kann einem niemand garantieren, dass das gewünschte Ergebnis wirklich eintritt. Es bleibt die beunruhigende Ungewissheit, ob sich der ganze Aufwand wirklich lohnt. Das letztlich hinter der Wachstumsbremse Faulheit stehende Gefühl ist daher – wie bei der Wachstumsbremse Fixierung – Beunruhigung oder, schärfer ausgedrückt, Angst.
Manchmal ist die Wachstumsbremse Faulheit nicht sofort erkennbar. Dirk war ein großer, schwerer, um nicht zu sagen ziemlich dicker Mann Anfang 40. In seiner ersten Beratungsstunde sprachen wir über seinen Perfektionismus und den Druck, den er spürte, weil er sich in unendlich vielen beruflichen und privaten Zwängen gefangen fühlte. Er arbeitete zu viel und war seit zehn Jahren mit einer älteren Frau liiert, die drei inzwischen erwachsene Kinder von einem früheren Partner hatte. Er hatte die drei mit aufgezogen, aber inzwischen gab es mit der Frau kaum noch Berührungspunkte und alle vier, die Frau und ihre Kinder, fühlten s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Prolog
  6. 1 Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!
  7. 2 Denken, Fühlen und Verhalten
  8. 3 Die Grabenkriege der beratenden Zunft
  9. 4 Ein kurzer Abriss des Provokativen Stils
  10. 5 Vorannahmen in der Beratung
  11. 6 Der freie Wille ist ein Gefühl
  12. 7 Die Angst und das Lachen
  13. 8 Einige Werkzeuge des Provokativen Stils
  14. 9 Die Persönlichkeit des provokativen Beraters
  15. 10 Die Kombination des Provokativen Stils mit anderen Verfahren
  16. 11 Der Provokative Stil im Do-it-yourself-Verfahren
  17. 12 Fallbeispiele
  18. Literatur
  19. Über die Autorin