Teil II: Praxis 4Erkenne dich selbst: Praxis der Selbstexploration
Der Coach wie auch der Organisationsberater tun gut daran, sich mit eigenen Gefühlen und emotionalen Mustern auseinanderzusetzen und an ihnen zu arbeiten. Je mehr er die Schattenseiten der eigenen Person erforscht und integriert hat, desto weniger besteht die Gefahr, sich zu verstricken oder zu überschätzen. Dieses Erforschen kann nur zu einem kleinen Teil in Eigenregie geschehen. Denn eigene Muster sind häufig zu einer Art »zweiten Haut« geworden, weshalb man sie kaum als solche wahrnimmt. Deshalb erfordert die Selbstexploration ein professionelles Gegenüber. Ein Therapeut oder Supervisor ist eine entsprechende Begleitung, welche dabei hilft, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Wer meint, dies allein »im stillen Kämmerlein« tun zu können, erliegt seiner Selbstüberschätzung. Gespräche mit Lebensgefährten oder guten Freunden können dies ebenso wenig leisten. Hier besteht zu viel Nähe. Gerade in der Intimbeziehung kommt es zu Projektionen und Übertragungen. Dies ist im Privaten in Ordnung, zeigt aber auch, dass der Lebenspartner keinen guten Supervisor geben kann. Selbstexploration braucht eine Begleitung, die sich professionell zwischen Nähe und Distanz bewegt und im Spektrum zwischen Empathie und Konfrontation agiert.
4.1 Selbstbeziehung des Coachs/Beraters
Der Begriff Selbstbeziehung ist vielschichtig. Ihm liegt zugrunde, dass der Mensch zwar nur einen Körper hat, aber doch eine innere Vielfalt mit sich trägt. Das menschliche Individuum ist in der Lage, sich seiner selbst bewusst zu werden. Es vermag sich selbst zu beobachten und sich zu einer seiner vielen Seiten in Beziehung zu setzen. Das klingt relativ abstrakt, doch jeder Mensch tut es jeden Tag.
Eine Äußerung wie »Da stand ich völlig neben mir und habe mich so sehr über mich geärgert« beschreibt erstens das Empfinden eines Zustands, zweitens ein Beobachten des Zustands und drittens eine weitere Position, von der aus der Zustand bewertet wird. Solche Dynamiken lassen sich nutzen, um in eine hilfreiche und kraftvolle Beziehung zu sich selbst zu treten. Um die eigene Selbstbeziehung aktiv zu entwickeln, empfiehlt es sich,
•eine Selbststeuerungsposition aufzubauen,
•Selbstwahrnehmung zu üben,
•Kontakt zum Ressourcenerleben herzustellen,
•die eigene innere Vielfalt zu erkunden.
4.2 Aufbau einer kraftvollen und sicheren Position
Das individuelle Entwickeln einer kraftvollen oder auch sicheren Position soll vornehmlich auf zwei Feldern unterstützend wirken:
1)In herausfordernden Situationen in Coaching oder Beratung:
Um gute Arbeit leisten zu können, braucht der Coach bzw. Berater emotionale Klarheit und Sicherheit. Dies gilt umso mehr, wenn der Berater die Sitzung mit dem Einzelkunden oder einer Gruppe von Kunden als herausfordernd erlebt, insbesondere auf der emotionalen Ebene.
2)In der Begegnung mit eigenen unliebsamen Anteilen:
Die Tätigkeit als Coach wie auch als Organisationsberater bewegt sich maßgeblich im Feld sozialer Interaktionen. Ein sehr großer Teil dieser Dynamiken läuft unbewusst. Daher tut der Berater gut daran, sich eigener Bedürftigkeiten, Fallstricke und Schattenseiten klar zu werden. Dazu ist eine entsprechende Selbstexploration nötig. Sie stellt das Gefäß zur Auseinandersetzung mit schmerzhaften Erfahrungen oder unliebsamen Anteilen.
Praxis: Aufbau einer kraftvollen und sicheren Position
Dieses Vorgehen folgt der Idee des generativen Coachings (Gilligan 2014), wie es in Kapitel 5.3 anhand eines Beispiels illustriert wird. Darin sind drei Komponenten enthalten: somatische Zentrierung, Kontakt zu den eigenen Ressourcen und eine positive Intention.
1. Somatische Zentrierung:
Das Zentrieren zielt auf das bewusste Wahrnehmen der eigenen Körpermitte. Die Aufmerksamkeit kann auf den Atem, die Wirbelsäule, den Bauch oder das Herz gelenkt werden. Für einige Minuten lässt sich beobachten, wie der Organismus den eigenen Rhythmen folgt, wie der Atem den Brustkorb sich ganz selbstverständlich und ohne Anstrengung heben und senken lässt. Vielleicht ist es möglich, etwas bewusster in den Unterbauch zu atmen. Dabei kann die Aufmerksamkeit in angenehmer Weise gewissermaßen in den Körper fallen gelassen werden. Möglich wäre auch ein Imaginieren, wie der Atem sich entlang der Wirbelsäule bewegt.
Dieses Vorgehen lässt sich für wenige Minuten anwenden. Häufig bewirkt es relativ zügig ein Landen bei sich selbst.
2. Kontakt zu den eigenen Ressourcen herstellen:
Im Laufe der eigenen professionellen Tätigkeit oder im Zuge von Selbsterfahrung konnte nahezu jeder Berater schwierige Situationen überwinden. Diese lassen sich wieder in Erinnerung bringen. Gerade vor einer aktuell herausfordernden Beratungssituation kann es hilfreich sein, sich das persönliche Kompetenzerleben vor dem inneren Auge wieder wachzurufen.
Weiterhin mag es sinnvoll sein, innere unterstützende Figuren zu imaginieren. Dies mögen reale Menschen aus dem eigenen sozialen Umfeld sein, aber auch Charaktere aus Filmen oder Büchern. Ausschlaggebend ist, dass sie für den Coach oder Berater persönlich positiv bedeutsam sind. So lässt sich in der inneren Vorstellungswelt z. B. ein innerer weiser Ratgeber installieren, der für die reale äußere Situation ein Gefühl von Sicherheit vermittelt.
3. Positiv formulierte Intention:
Mit Blick auf eine herausfordernde Situation lässt sich eine positive Intention formulieren. Damit sie auf der emotionalen Ebene gut verankert ist, empfiehlt es sich, sie auf mehreren Ebenen zu repräsentieren bzw. zu codieren. Auf diese Weise kann man mit sich selbst »limbisch kommunizieren«. Gemäß den drei Informationscodes nach Bucci (Abb. 2, Kap. 1.1.3) bieten sich drei Ebenen an – symbolisch-verbal (Worte), symbolisch-nonverbal (Bilder) und vorsymbolisch (Körper):
•Verbale Aussage: positiv, knapp, fünf Worte oder weniger, mit guter Resonanz aus dem eigenen Organismus. Beispiel: »Entspannt folge ich meiner Berufung.«
•Visuelles Bild: eine Farbe, eine Erinnerung an einen guten Ort oder ein Symbol. Beispiel: ein weißer Lichtstrahl, der über den Scheitel in den Körper fließt.
•Somatische Repräsentation: eine Körperhaltung, Geste oder Bewegung. Beispiel: Aufrichten der Wirbelsäule, eine Hand am Herzen und die andere Hand offen nach vorn gehalten.
Um die kraftvolle und sicherheitsvermittelnde Position zu konsolidieren oder zu verstärken, eignen sich folgende Fragen:
•Vielleicht gehen weitere innere Bilder damit einher?
•Wo sind die eigenen Ressourcen in der inneren Vorstellung räumlich verortet, sodass sie optimal unterstützend wirken?
•Wie lässt sich die eigene Grenze vorstellen? Als Bannkreis, Schutzhülle, …?
•Wo sind die realen Herausforderungen auf der Ebene inneren, räumlichen Erlebens so platziert, dass sie weniger bedrohlich wirken? Welche Nähe-Distanz-Regulation hilft?
•Wie reagiert der Organismus auf der unwillkürlichen Ebene darauf?
4.3 Innere Vielfalt erkunden
Mit seiner äußeren Gestalt erscheint der Mensch als ein unteilbares Individuum. In seinem Inneren jedoch herrscht ein buntes Treiben: Je nach Situation werden unterschiedlichste Seiten in uns wach. Häufig werden sie durch ein Gefühl ausgelöst. Da wir ein ganzes Spektrum an Gefühlen in uns tragen, können wir uns in verschiedene Möglichkeitsräume bewegen. So werden wir manchmal zu einer anderen Person. Wie heißt es in einem Songtext von Udo Lindenberg: »Eigentlich bin ich ganz anders – ich komm‘ nur viel zu selten dazu.«
Im Beratungskontext ist die Annahme innerer Vielfalt oder innerer Vielheit (Laux 2003) keineswegs neu. Das Modell des inneren Teams kann als Coachingklassiker betrachtet werden. Die Neurowissenschaften liefern ein erklärendes Bild, wie die innere Pluralität zustande kommt: Im emotionalen Erfahrungsgedächtnis sind abertausende Erlebensnetzwerke gespeichert. Durch ein konkretes aktuelles Gefühl wird die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung gelenkt. Damit aktiviert sich auf neuronaler Ebene ein spezifisches Netzwerk. So wird auf der Erlebensebene eine Seite der Person wachgerufen:
»Wir gleiten ständig von einem Bewusstseinszustand z...