1
Das Geheimnis wird gelüftet
Was ich gelernt habe, ist großartig! Allein die Fertigkeiten des Zuhörens haben mir unheimlich geholfen. Zu wissen, dass es eine angemessene Art und Weise gibt, wie man ein Gespräch miteinander führen kann, verleiht mir Klarheit und Zuversicht. Die Fertigkeiten haben meine Beziehungen zu Freunden, Familienangehörigen und anderen Menschen verbessert. Ich habe gelernt, ruhig zu bleiben, abzuwarten, bis ich an der Reihe bin, und demjenigen, der mit mir spricht, wirklich zuzuhören. Wenn ich die Worte anderer reflektiere, spüren sie, dass ich ihnen tatsächlich zuhöre, und die wahren Themen kommen auf den Tisch. Letzte Woche sagte ein Häftling aus unserer Gruppe zu mir, ich sei ein Idiot, und ich fühlte mich von ihm respektlos behandelt. Statt ihm Kontra zu geben oder handgreiflich zu werden, beobachtete ich meine Gefühle und Emotionen und wartete so lange, bis ich mich beruhigt hatte, um ihm dann mit ruhiger Stimme und entschiedener Geisteshaltung zu antworten. Sobald ich ihm zurückreflektierte, »er sei stinksauer und ich sei ein Idiot«, entschuldigte er sich umgehend bei mir und erklärte, er habe sich von mir nicht ernst genommen gefühlt, als ich ihm nicht zuhörte, was er mir zu erzählen versucht hatte. Ich entschuldigte mich bei ihm dafür (das sei nicht meine Absicht gewesen) und sagte ihm, ich nähme seine Entschuldigung an und fühlte mich, was die ganze Sache anginge, nun viel besser.
Zuhören, widerspiegeln, klären und auf Richtigkeit überprüfen funktioniert!
Bryce Markell, Valley State Prison
Sind Sie schon einmal folgenden Menschen begegnet?
»Einer wütenden, verärgerten Person
»Einem emotional nicht zugänglichen Partner
»Einer Person mit einer anderen Ideologie oder einem anderen Glauben
»Einem Mobber
»Einem überreizten Chef
»Einem frustrierten Mitarbeiter
»Einem ängstlichen, besorgten Freund
»Einem traurigen, leidenden Familienangehörigen
»Einem unzufriedenen Kunden oder Gast
»Einem verschwiegenen, teilnahmslosen Kind oder Jugendlichen
Wie sind Sie mit diesen Menschen zurechtgekommen? Wurde das Problem schlimmer? Verspürten Sie den Wunsch, wegzulaufen, zurückzuschreien oder sich auf der Stelle umzudrehen? Wurden Sie dadurch selbst wütend? Kam es zu einem heftigen Streit oder einer Auseinandersetzung?
Wenn Sie eine von diesen schwierigen Situationen mit Ja beantwortet haben, ist dieses Buch das richtige für Sie. Es wird Ihnen beibringen, wie Sie einen wütenden oder verärgerten Menschen jeden Alters in 90 Sekunden oder weniger beruhigen können und dabei selbst ausgeglichen und gelassen bleiben. Außerdem lernen Sie, wie Sie sich selbst schnell und effizient beruhigen können.
Die Fertigkeiten, die ich Ihnen nun enthüllen möchte, haben wir in einigen kalifornischen Hochsicherheitsgefängnissen an Häftlingen mit lebenslangen Haftstrafen getestet. Mithilfe dieser Fähigkeiten konnten die Häftlinge gewaltsame Auseinandersetzungen, Bandenaufstände, Streitigkeiten und Mobbing beenden. Dutzende von Insassen haben mir erklärt, hätten sie diese Fertigkeiten zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre früher gelernt, säßen sie heute wahrscheinlich nicht im Gefängnis. Irgendwann wurde mir klar, dass ich über die Gefängnismauern hinausgehen und die Geheimnisse für jedermann zugänglich machen musste. Seither habe ich diese Kenntnisse Lehrern an Middle- und Highschools, Anwälten, Richtern, Mediatoren und Doktoranden vermittelt. Und nun auch Ihnen.
Bevor wir in die Materie einsteigen, möchte ich Ihnen ein paar Hintergrundinformationen darüber geben, auf welcher Grundlage ich die Deeskalationstechniken entwickelt habe. Als ich anfing, im Bereich der Mediation zu arbeiten, beruhten viele der Fertigkeiten, die Mediatoren und Friedensstifter lernten, auf den Erfahrungen früherer Mediatoren; es gab nur sehr wenige wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungen darüber, welche Methoden wirklich funktionierten und weshalb sie funktionierten.
Das Gebiet der Neurowissenschaften war gegen Ende der 1990er-Jahre und zu Anfang des neuen Jahrtausends noch ziemlich spärlich entwickelt. Zum eigentlichen Durchbruch kam es, als Tausende frischgebackener Doktoranden das menschliche Gehirn zu erforschen begannen, in einer Zeit, als auch ich anfing, mich ernsthaft mit den Konflikten zwischen Menschen zu beschäftigen. Mir fiel auf, dass der Schlüssel zu allem im menschlichen Gehirn lag. Also begann ich mich in die Forschungsliteratur einzuarbeiten und konzentrierte mich dabei auf Sozialpsychologie und kognitive Neurowissenschaften, weil ich herausfinden wollte, welche Erkenntnisse über die Funktionen und Prozesse des Gehirns sich für die Friedensarbeit nutzbar machen ließen. Dies gipfelte in der ersten Publikation über die Neuropsychologie von Konflikten, dem Kapitel 6 meines ersten Buches Peacemaking: Practicing at the Intersection of Law and Human Conflict (»Friedensstiften: Arbeiten an der Schnittstelle von Gesetz und menschlichen Konflikten«).2
Einige meiner frühen Einsichten entstammten meiner Lektüre über die Entstehung von Angst im Gehirn und über die Funktion der sogenannten Neurotransmitter, und hier vor allem die entscheidende Rolle, die Endorphine, Dopamin, Serotonin, Oxytocin und Cortisol bei der Regulierung von friedlichem und aggressivem menschlichem Verhalten spielen. Ich lernte, dass wir Menschen vor allem emotionale Wesen sind, mit einer gewissen Fähigkeit zu logischem Denken und Vernunft. Ich lernte, dass ein Großteil unseres Verhaltens automatischen Prozessen unterliegt und wir bei Weitem nicht über so viel freien Willen verfügen, wie wir zu glauben meinen. Ich erfuhr, was »kognitive Verzerrung« bedeutete, lernte die Verzerrung bei Entscheidungsfindungen kennen und die unterschiedlichen Gehirnsysteme, die für unsere Entscheidungsfindungen zuständig sind.
All dies hat meine Herangehensweise an die Mediation verändert, wie ich andere Menschen betrachte und mit diesen in meiner Arbeit umgehe. Ich warf jegliches konventionelle Wissen über Mediation und Friedensstiftung über Bord, das nicht wissenschaftlich gestützt war, und suchte nach Möglichkeiten zur Entwicklung einer Praxis und Lehre, die darauf beruhte, wissenschaftliche Erkenntnisse auf echte Lebenssituationen anzuwenden. Fachkenntnisse sind grundsätzlich eine gute Sache, aber ich war von dem Wunsch beseelt, bessere Mittel und Wege zu finden, um Menschen bei der Lösung von Konflikten und Problemen zu helfen – ich suchte nach Fertigkeiten, mit denen man potenziell gewaltsame Menschen und Situationen so schnell wie möglich deeskalieren konnte.
Mehrere Jahre des Forschens, des Herumexperimentierens und der entschlossenen Suche führten mich, nebst vielen anderen, zu den Arbeiten der sozial-kognitiven Neurowissenschaftler Matthew Lieberman und Marco Iacoboni von der Universität Los Angeles (UCLA). Ihr Interesse daran, wie das menschliche Gehirn soziale Informationen verarbeitet, lieferte mir tiefe Einsichten in die Praxis des Friedensstiftens. Die Deeskalationstechniken in diesem Buch basieren zum Teil auf den Erkenntnissen der beiden und denen anderer Forscher. Sie sind als praktische und effiziente Instrumente gedacht, die jeder von uns nutzen kann, um wütende und emotionale Menschen zu beschwichtigen.
Wir sind emotionale Wesen
In diesem Buch werden Sie eine neue Art des Zuhörens lernen. Im Prinzip erfahren Sie, wie man auf Gefühle hört und diese dem Gesprächspartner reflektiert. Dieses einfache Prinzip ist sowohl radikal als auch innerhalb der Gegenkultur zu verstehen, weshalb es bislang auch noch nicht im größeren Stil vermittelt worden ist.
In der Geschichte der westlichen Philosophie, Religion und Psychologie wurden Gefühle häufig abgelehnt und im Vergleich zum vernunftgesteuerten Denken als unzuverlässig, gefährlich oder gar negativ eingestuft. Den Worten, die Menschen äußern, schenken wir große Aufmerksamkeit, aber ihren emotionalen Erfahrungen schenken wir so gut wie keine. Erlebt ein Mensch einen emotionalen Moment, wird man ihn oder sie womöglich als unvernünftig bezeichnen, oder mit noch schlimmeren Attributen versehen.
Der klassische griechische Philosoph Platon begründete die Vorstellung, dass Gefühle etwas Unvernünftiges seien und dem Verstand und dem logischen Denken gegenüber unseren emotionalen Reaktionen Priorität einzuräumen sei. In seinem Werk Phaidros beschreibt Platon die menschliche Seele als einen Wagenlenker, der ein Gespann aus zwei Pferden lenkt – das eine ist unvernünftig und verrückt, das andere hingegen edelmütig und von guter Abstammung. Die Aufgabe des Wagenlenkers ist es, die Pferde zu kontrollieren, damit sie ihn in Richtung Erleuchtung und Wahrheit ziehen. Die wichtigste Erkenntnis hierbei ist, ganz simpel ausgedrückt: Gefühle sind schlecht und Vernunft ist gut. Dies ist eine Glaubensüberzeugung, die das abendländische Denken während Jahrtausenden geprägt hat – unsere Gefühle stehen unserer Vernunft im Weg.3
Durch die Philosophie des Neoplatonismus der frühen christlichen Kirche wurde die Überzeugung, dass Vernunft besser sei als Gefühle, noch zusätzlich verstärkt. Der heilige Augustinus von Hippo nahm als führender Theologe innerhalb der christlichen Kirche des 5. Jahrhunderts die Gedanken des Neoplatonismus in seine Schriften auf, was dazu führte, dass Christen aufgrund der Vermischung der Bibel mit klassischer griechischer Philosophie fortan mit ihren Gefühlen und ihrem Verstand rangen. In René Descartes, einem der Gründerväter der Philosophie der Aufklärung, fand der Neoplatonismus ebenfalls einen Anhänger. Descartes ist berühmt für seinen Satz »Cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«) aus seiner Schrift Discours de la méthode. Genau wie seine Vorgänger lehnte auch Descartes die Bedeutung der Gefühle ab und gab der Vernunft den Vorzug.4
Eine Analogie dieses Konflikts im modernen Sinne wäre das, was ich als »Spock-Syndrom« bezeichne. Wie Sie wahrscheinlich wissen, war Mister Spock der wissenschaftliche Offizier des Raumschiffes Enterprise aus der populären TV-Serie »Star Trek«. Als Sohn eines Vulkaniers und einer irdischen Mutter lag sein Verstand ständig im Streit mit seinen Gefühlen, was in vielen Episoden und einigen Filmen der späteren Spielfilmreihe für große Spannung sorgte. Meistens verfiel Mister Spock in eine emotionale Schwäche, musste seine inneren moralischen und ideologischen Kämpfe ausfechten und verleugnete am Ende seine Gefühle. Als Zuschauer wurden wir zu Zeugen dieses inneren Dramas und fühlten uns erleichtert, als Mister Spock wieder zur Besinnung kam und vernünftig wurde. Die unterschwellige Botschaft war, dass wir uns alle im Kampf mit unserem emotionalen und vernunftgesteuerten Selbst befinden. Nur wenn unser vernunftgesteuertes Selbst ob...