50° 57′ 37″ N, 1° 21′ 18″ O
08.55 Uhr
Die letzte Nacht war ruhig. Ohne Besucher. Ohne Träume. Der Ärmelkanal verschont uns mit Wetter, das Meer ist quecksilbrig.
Ich habe meine Sachen gepackt, und meine Kabine ist zu einem ordinären eckigen Gefäß geworden, das erst mit seinem nächsten Bewohner wieder Bedeutung erhält.
Gut eintausend Seemeilen liegt die Sache mit der Tulpe zurück, nach bordaktueller Zeitrechnung sind das viereinhalb Tage. Es kommt mir vor, als wäre der Raum auf See eine bessere Maßeinheit als die Zeit. Eine feste Größe, die hilft, sich zu orientieren. Tausend Seemeilen sind tausend Seemeilen. Aber vier Tage können vier Jahre sein oder vier Minuten, nacheinander oder alles auf einmal.
Zwischen Rosa und mir liegen bald dreitausend Seemeilen. Das ist gut so. In ihrer Nähe, mit ihrer Schwangerschaft war plötzlich die Zeit verwischt. Zehn Jahre waren wie ein ewiger Augenblick. Ich brauche den Abstand, muss die Zeit neu ordnen.
Henrik hat mich gebeten, am Vormittag noch mal mit ihm Klavier zu spielen. Er möchte ein Lied lernen. Von mir aus gerne. Ich habe mir nichts anderes vorgenommen.
Geschrieben habe ich vorerst genug.
Mittwoch, 14. 9. 2005
Die Spätsommerdämmerung legt sich über den lichten Kiefernwald. Wald, Wald, Wald. Kilometerweit Wald, freundlicher Wald, der nichts Dunkles, nichts Unheimliches birgt. Der Tag verschwindet zwischen den hellen Stämmen, während der Wagen über die schnurgerade Straße rollt. Es gibt keine Abzweigung mehr, keine Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen, diese Straße hat nur ein Ziel.
Schon seit einer halben Stunde ist ihm kein Auto mehr begegnet, und wahrscheinlich wird auch keins mehr kommen. Die Sonne geht bald unter, hier am Ende der Insel kann man sie jeden Abend im Meer versinken sehen. Er fährt mit offenen Fenstern. Kühle Luft weht herein, und anders als in den vergangenen Wochen riecht es nicht nach Meer, nicht nur jedenfalls, es riecht grün, so grün, wie es schon lange nicht mehr gerochen hat. Anders als in Venedig, anders als in den Mittelmeerhäfen. So, wie er es früher geliebt hat.
Weit kann es nicht mehr sein, nur noch ein paar Kilometer, dann hat er sein Ziel erreicht. Das erste selbst gewählte Ziel, seit er dem Haus in der Vesivärava den Rücken gekehrt hat, so kommt es ihm jetzt vor. Er hat lange gebraucht.
Behutsam nimmt er den Fuß vom Gas. Es wäre schön, jetzt Musik zu hören, wenn irgendwo aus dem Wald ein Klavier erklänge, wenn irgendwo ein Mensch wäre, der Musik machte. Es ist selten, dass er den Klang von Musik vermisst, sonst vermisst er es eher, selbst zu musizieren, den Trost der Tasten, das Freundschaftliche des Instruments.
Er lässt den Wagen ausrollen, stellt den Motor ab und horcht in den Wald. Es ist nichts zu hören. Die Scheinwerfer malen zwei helle Balken auf die Straße. Vielleicht kommt ein Tier aus dem Unterholz, wenn er ein wenig wartet, ein Fuchs oder ein Hase, der im Licht verharrt und sich wundert. Es gibt Füchse hier auf Hiiumaa, früher haben sie manchmal welche in der Nähe des Sommerhauses gesehen. Das Haus mit den blauen Gardinen und den duftenden Heckenrosen. Es ist auch dorthin nicht weit. Zwanzig Kilometer auf der Hauptstraße ungefähr. Was Silja wohl damit gemacht hat? Ob sie es behalten hat? Ob sie manchmal herkommt, im Garten sitzt und auch gelegentlich nach Tahkuna fährt? Vielleicht haben Mart und Kirke das Häuschen übernommen. Sie waren immer gerne dort. Oder es ist einfach verwaist – allein gelassen, so wie es war, bis irgendwann das Dach in sich zusammenfällt, die Tür nachgibt und die Marder und Igel im Wohnzimmer einziehen.
Er wird nicht hinfahren, er wird nicht nachsehen. Er wird nicht nach Spuren einer verlorenen Zeit suchen. Dafür ist er nicht nach Estland gekommen. Er will nur die Glocke anschauen. Das hat er sich vorgenommen. Sonst nichts.
Entschlossen dreht er den Zündschlüssel. Mit einem mühevollen Stöhnen springt der Motor wieder an, die Lampen flackern. Offenbar ist die Batterie schwach, vielleicht ist dies ihr letztes Lebenszeichen, vielleicht muss er die Nacht am Strand verbringen, am Fuße des Leuchtturms, auf den Steinen am Ufer, die im Sommer auch nachts noch warm sind. Wie damals, als sie in der Mittsommernacht den Lauf der Sonne verfolgten, die nur kurz das Meer küsste, bevor sie wieder den Himmel erklomm. Aber jetzt ist September. Die weißen Nächte sind vorbei, es ist kühler und wird längst wieder dunkel, er kann es sehen, zwischen den Bäumen steht die Nacht schon mit ihrem dunklen Gewand bereit. Wenn er noch bei Tageslicht etwas sehen will, darf er nicht trödeln.
Er beschleunigt, schaltet in den dritten Gang. Es geht noch immer ganz automatisch, er hat das Fahren nicht verlernt. Die Motorik übernimmt die Führung. Gas und Kupplung. Schalten. Lenken. Am Rückspiegel schaukelt ein längst ausgedünsteter Wunderbaum. Es wird immer stiller in ihm, immer ruhiger.
Es gibt nur noch ihn auf dieser Insel. Er ist der letzte Mensch. Seit er wusste, dass er herkommen und das Denkmal besuchen muss – wann war das? In Dover? Oder doch vielleicht schon auf dem Schiff, nach dem Sturm? –, ist das Radio in seinem Kopf leiser geworden.
Es fühlt sich richtig an.
So wie sich damals alles falsch anfühlte.
Nach Tagen der Ungewissheit das trockene Papier zwischen den Fingern. Dieses kümmerliche, einzelne Blatt, auf dem durchnummeriert die einhundertsiebenunddreißig Namen der Überlebenden standen, wie eine Gutschrift auf der Abrechnung mit dem Tod. Auf der Liis Name fehlte.
Siljas kalte Hand in seiner, als sie Schritt für Schritt an den vierundneunzig Toten vorübergingen, die aus dem Wasser geborgen werden konnten. Ein Wimpernschlag ist lang genug, um wieder die Angst zu spüren, Liis’ erstarrtes Gesicht darunter zu entdecken, und gleichzeitig die Verzweiflung, sie nie wieder zu sehen. Nicht einmal ihren Körper.
Es war ja nicht zu begreifen.
Vielleicht hat darum ein einziger, alles durchdringender Schmerz gereicht, um die letzte Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinen Gefühlen zu zerreißen. Ihm Watte im Kopf und das anhaltende Kreischen von Schuld in seinen Ohren zu hinterlassen. Weil es nicht zu begreifen war. Außer Whisky und Klavierspielen gab es dagegen nur ein wirksames Mittel: Nicht mehr daran denken. Nicht mehr darüber reden. Nicht. Mehr.
Daran hat er sich bis heute gehalten.
Silja war so anders.
Sie kämpfte. Um Details, Aufklärung, um Gerechtigkeit und vor allem um die Bergung des Wracks. Sie wollte ihre Tochter »richtig« begraben, und solange das nicht möglich war, sollte niemand jemals vergessen.
Sie saßen zusammen am Esstisch und verstanden einander nicht mehr. Es ist grausam, wie schnell eine Liebe zu Ende geht, wenn die Trauer nicht dieselbe Sprache spricht.
Wie sie ihn trotzdem anflehte, sie zur Einweihung der Glocke zu begleiten. »Bitte, Laurits, komm mit nach Hiiumaa. Es ist doch wenigstens eine Chance, gemeinsam Abschied zu nehmen.« Aber er konnte nicht. Ob sie jemals begriffen hat, dass er nicht vor Tausenden Fernsehzuschauern zur Schau gestellt werden wollte, dass er keine Kondolenzkarte von Carl Bildt oder der Estline, keine Gedenkgottesdienste, keine trauererfüllten Wiedersehen mit seinen Eltern, keine künstlerisch wertvollen Denkmäler wollte, weil er sich retten musste?
Für einen kurzen Moment wird die Straße vor seinen Augen zu einem Tunnel, die Bäume wölben sich über ihm wie ein dichtes Dach. Er holt tief Luft, versucht, die Schwere wegzuatmen, die auf seiner Brust liegt, und fixiert den hellen Punkt, wo der Wald endet, wo sich die Landschaft zum Meer hin öffnet. Darauf muss er zufahren.
Mit der einen Hand tastet Laurits nach seinen Zigaretten, mit der anderen steuert er den Wagen, sie liegt trocken und ruhig auf dem Lenkrad, obwohl er mitten durch vermintes Gedankengelände fährt. Er zieht eine Zigarette aus der Packung und drückt den Anzünderknopf.
Fast genau zehn Jahre ist es her, dass die Glocke errichtet wurde. Er vergisst keine Daten (auch wenn er es noch so gern würde, denn Zahlen sind gefährlich, sie setzen Erinnerungen an wie Algen und tauchen unkontrollierbar auf). Es war Allerseelen 1995.
Er hat sich nie gefragt, was wohl passiert wäre, wenn er nachgegeben und Silja zur Denkmalsenthüllung begleitet hätte. Wie wäre sein Leben verlaufen? Ob sie irgendwann einen Weg gefunden hätten, gemeinsam mit der Sehnsucht und der Einsamkeit umzugehen? Tatsache ist, dass er sie nicht begleitet hat. Er hat sie allein gehen lassen, im Flur gestanden und ihr hinterhergesehen. So sachte hat sie die Tür ins Schloss gezogen, als wüsste sie Bescheid. Er kann sich noch genau erinnern, wie er Blumen gegossen und die Spülmaschine ausgeräumt hat, ehe er seinen Koffer packte und zum Hafen ging. Die Spülmaschine. Wie lächerlich. Das war das Ende von Laurits Simonsen und der Anfang von Lawrence Alexander. Stalins Auge sieht ihn schon lange nicht mehr. Nichts von früher hat in seinem Leben noch Bestand. Und trotzdem ist er jetzt hier. Oder gerade deshalb?
Der Anzünder klickt, und er drückt die glühende Metallspirale an die Zigarette. Er spürt die Wärme am Gesicht. Es knistert vertraut, als er inhaliert. Der Rauch brennt angenehm in der Lunge. Es tut gut, seinen Körper zu spüren. Die sirrenden Nerven, den Hohlraum, der sich mit Atemluft und Rauch füllt.
Die Tachonadel zuckt unstet über der roten 50 hin und her. Es kommt ihm viel schneller vor, aber alles kommt einem schnell vor, wenn man Schiffstempo gewohnt ist, wenn man in Knoten statt Stundenkilometern fühlt, nur ein Eselskarren ist langsamer.
Vielleicht sollte er den Wagen abstellen und das letzte Stück zu Fuß gehen. Es wäre angemessen. Die Seele reist zu Fuß, hat Mart immer gesagt. Schwimmen kann sie offensichtlich nicht, denn er hat nicht das Gefühl, in den letzten Jahren mit ihr gemeinsam unterwegs gewesen zu sein. Aber jetzt, dieses eine Mal, könnte er gleichzeitig mit ihr ankommen. Das wäre schön.
Endlich öffnet sich der Wald und gibt die Sicht auf den Leuchtturm frei, der sich in den abendroten Himmel streckt. Die Sonne badet bereits lautlos die Füße im Meer. Von der Glocke ist noch nichts zu sehen. Er hält am Straßenrand, hat alle Zeit der Welt, die letzten Schritte zu gehen. Sein Herz schlägt ruhig. Nichts drängt ihn, außer dem Gefühl, dass der Moment gekommen ist, um an diesem Ort zu sein.
Fünfundfünfzig, sechsundfünfzig, siebenundfünfzig. Er geht noch immer den kurzen Schiffsschritt. Achtundfünfzig, neunundfünfzig. Einen Fuß vor den anderen. Er ist nur Schritt, ist Bewegung. In seinem Kopf hallt der gedämpfte Rhythmus der Gummisohlen, die Zahl für Zahl ausrufen, die zuverlässigste Musik. Zweihundertdreiunddreißig. Der Asphalt endet vor einem kleinen Tor, dem Eingang zum Strand, zu einem lang verschlossenen Stück seines Lebens. Es kostet ihn keine Kraft mehr, keinen Mut, keine Überwindung.
Laurits schaut auf. Es dauert einen Moment, bis er begreift, dass das hohe Gestell aus Metallstreben, das sich in fünfzig Metern Entfernung wie ein windschiefes Baugerüst in den Himmel reckt, das Denkmal ist. Die Kinderglocke, wie die Leute sie nennen. Sie hängt verschwindend klein und bescheiden an einem langen Kreuz in der Mitte der riesigen Stahlkonstruktion.
Sekunden vergehen. Er fühlt nichts. Es ist nicht schön, ist der einzige Gedanke, den er fassen kann. Nicht schön. Das ist alles. In seiner Hosentasche drückt der Autoschlüssel. Vielleicht sollte er umkehren. Unschlüssig bleibt er stehen. Schaut hinüber zum Ufer. Im Restlicht des Sonnenuntergangs sind die Konturen des Metallgestells so scharf und schwarz, als hätte sie jemand aus dem Abendhimmel geschnitten. Hat dieses Ding wirklich etwas mit ihm und Liis zu tun? Es ist Kunst. Es ist für Fremde, die kommen und gehen. Reisende, Paare, Familien, Kinder, die den Leuchtturm besichtigen und zufällig die Glocke entdecken. Papa, was ist das? Darf ich die Glocke läuten? So hätte sicher auch Liis gefragt. Liis. Sie zieht an seinem Ärmel. Komm doch, Papa. Willst du nicht hören, wie sie klingt? Laurits legt die Hand auf das Tor. Es schwingt gelassen auf.
Das Denkmal lehnt sich vom Ufer aus schräg gegen Wind und Wetter übers Meer. Fast sieht es so aus, als stünde es schon im Wasser. Näher kann man der Unglücksstelle auf estnischem Boden nicht kommen. Denk an was Schönes. Näher ist er Liis bei keiner Schiffsreise gekommen, näher ist er ihr seit ihrer letzten Umarmung nicht gewesen. Ja, denk an was Schönes. Wenn du Angst hast, denk an was Schönes.
Er klettert über ein paar große Steine und bemerkt eine Tafel auf dem rostgetränkten Betonsockel, sieht die Windrose und die Koordinaten.
Jetzt ist er hier. Jetzt gibt es kein Zurück.
59° 22′ 9″ N, 21° 40′ 9″ O.
Koordinaten eines Massengrabs in 80 Metern Tiefe. 9733 Tonnen Stahl, die 852 Menschen mit sich in die kalte Dunkelheit gezogen haben. Dorthin hat er sich in Gedanken nie vorgewagt. Hat sich nie erlaubt, Liis zu Ende zu denken. Hat sie im ewigen Augenblick des Abschieds festgehalten, im letzten Blick über die Schulter, im Winken. Als könnte er damit verhindern, dass sie körperlos wurde, dort unten in dieser merkwürdigen, stillen Welt. Aber es ist längst geschehen. Sie hat sich aufgelöst wie Schnee im Meer.
Denk an was Schönes.
Läute die Glocke.
Er streckt die Hand nach der verknoteten Schnur aus, die am Klöppel hängt, und schlägt an. Metall auf Metall. Es klingt heiser und rau. Erst da sieht er die Köpfe. Vier kleine Reliefs von Kindergesichtern heben sich aus dem gegossenen Metall der Glocke. Sie schauen ihn an. Und sie lassen ihn nicht aus den Augen, als er auf den Sockel klettert und die Hände auf das noch schwingende Metall legt, das Vibrieren an den Handflächen spürt, wie das Flatter...