Das Fortschreiten der Nacht
eBook - ePub

Das Fortschreiten der Nacht

Roman

  1. 256 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Das Fortschreiten der Nacht

Roman

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ein Roman über eine asymmetrische Liebe in Zeiten zunehmender AngstPaul, Sohn eines Maurers aus der Pariser Banlieue, und Amélia, Tochter eines reichen Vaters und einer Mutter, die verschwand, als sie einen Krieg verhindern wollte, tanzen über dreißig Jahre einen Walzer voller Ausweichschritte umeinander.Beide studieren Architektur – er verdient seinen Unterhalt mit Nachtschichten an der Rezeption eines Hotels, das Amélias Familie gehört und in dem sie lebt. Paul ist fasziniert von ihr. Alles an ihr ist ein Rätsel, ihr Kommen und Gehen, ihr wilder Intellekt, ihre Schönheit sowie die Gerüchte, die sie umgeben. Zunächst konkurrieren sie um die Gunst der Professorin Albers, doch bald entsteht ein nächtliches Liebesverhältnis. Nachts können sich die Parallelen ihrer beider Leben schneiden, nachts kann der Raum zu ihren Gunsten neu vermessen werden.Doch Amélia verschwindet, unbegreiflich für Paul. Die Stadt und das Leben darin werden indessen zunehmend von Angst geformt. Paul wird reich im Geschäft mit schusssicheren Fenstern, geheimen Räumen und Überwachungstechnik, und die Angst wird auch vor seinem eigenen Leben nicht halt machen. Schließlich erfährt er, dass Amélia damals nach Sarajevo gegangen ist, um ihre Mutter zu suchen. Zehn Jahre später kehrt sie zurück, und eine Tochter wird geboren. Doch niemand entkommt den Phantomen der eigenen Geschichte, die immer von Neuem beginnt.Elegant, evokativ und mit großem literarischen Feingefühl erzählt Jakuta Alikavazovic von dem, was unwiederbringlich verloren ist. Und von dem, was vielleicht noch gerettet werden kann."Jakuta Alikavazovic streift tausend Themen auf einmal, in einer Erzählung auf der Rasierklinge, Funken schlagend, waghalsig, fesselnd und voller Geheimnis."Télérama"Jakuta Alikavazovic ist ein seltenes, kraftvolles und einzigartiges Talent."Le Monde

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Das Fortschreiten der Nacht von Jakuta Alikavazovic, Sabine Mehnert im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2019
ISBN
9783960540991
das Fortschreiten der Nacht

1.

Und Sie, was tun Sie für Ihre Sicherheit? Eine gepanzerte Tür vielleicht, eine Alarmanlage oder ganz einfach eines dieser sogenannten Dreipunktschlösser, solide, zuverlässig. Ein paar einfache Regeln, hüten Sie sich vor der Dunkelheit, hüten Sie sich vor Fremden; ein sogenanntes Smart Home weiß, ob Sie da sind oder nicht; und weiß oder wird bald wissen, ob Ihr Herz heute Abend zu schnell schlägt, ob Ihr Herz wie ein Herz in Sicherheit schlägt – oder nicht.
Je reicher man ist, desto paranoider ist man, Paul weiß das, aber natürlich sagt er es nicht. Was er sagt: Angst schützt nicht vor Gefahren. Was er sagt: Im Falle eines Einbruchs dauert es in Ihrem Viertel durchschnittlich x Minuten, bis die Einsatzkräfte vor Ort sind. Sie müssen zumindest dafür gerüstet sein, so lange durchzuhalten. Etwa eine halbe Stunde: Er bringt seine Statistiken regelmäßig, sorgfältig auf den neuesten Stand, Viertel um Viertel, Einsatzart um Einsatzart. Alle Zahlen, die er anführt, sind verlässlich; verlässlicher als ihre Summe, das Bild, das sie malen, das eine Fiktion ist – eine Fiktion aus der Hölle, die sie bereits in sich tragen, seine potenziellen Kunden, und die nur darauf wartet, sich auszubreiten. Ein Kubikmeter Sauerstoff pro Person ist ausreichend, um bei einem Angriff mit Biowaffen oder einem Atomunfall fünf Stunden lang völlig autark zu sein. Denken Sie gut darüber nach, denn die Antwort auf diese Frage wird Ihnen das Leben retten: Was brauchen Sie? Rufen Sie mich in drei Tagen an. Und sie riefen an. Und die Antwort war nie die richtige, das wusste Paul, sagte es aber nicht.
Bestimmte realistische Gefahren auf der einen Seite, auf der anderen Seite unrealistische Schimären. Hirngespinste. Persönliche und kollektive Angstvorstellungen. Diese Spannung, das Kraftfeld, das so erzeugt wird und sich in entgegengesetzte Richtungen – nach innen, nach außen – ausdehnt, das ist der Raum, der es Paul ermöglicht hat, sich zu etablieren, voranzukommen und zu prosperieren. Im 21. Jahrhundert ist er im Sicherheitsbereich. Er konzipiert aufwändige Überwachungs- und Alarmsysteme, die durch einen Atemzug und vielleicht einen Gedanken ausgelöst werden können, er verkauft Panzerungen, Sensoren, die die Anwesenheit Anderer im Herzstück von Gebäuden registrieren können, durch mehrere Wanddicken hindurch. Ironischerweise verkauft er gleichzeitig Panikräume, die in einer Wohnung, in einem Haus unauffindbar sind und es ermöglichen, in völliger Abschottung und Autonomie zu leben und all den oben genannten Gerätschaften zu entrinnen. Er selbst hat zu Hause einen, den er nie betritt, eine Art geheime Gedenkoder Grabstätte. Der Ort der Kunst, oder vielleicht der Ort der Verbrechen.
image
Sie liebte ihn, auch als er sie nicht mehr liebte, schweigend, hartnäckig, denn sie hatte ihre Gefühle schon einmal verleugnet, und was war Gutes dabei herausgekommen? Nichts. Kunst. Verbrechen. Verlorene Zeit. Sie liebte ihn neun Monate lang, liebte das Kind, das sie in sich trug, weil es seins war, und sie, die so redegewandt, so gebildet war, fand nie die Worte, es ihm zu sagen, fand nie die Worte, ihn davon zu überzeugen, dass sie jetzt da war, dass sie bereit war. Vergebliche Mühe, denn so oder so hatte sich etwas in ihr verschworen, sich zu entfernen, wollte abdriften und vergessen.
Er kümmerte sich während der Schwangerschaft um sie. Er verhielt sich tadellos, was vielleicht die schlimmste Art war, ihr Vorwürfe zu machen. Ihre Beziehung schien nun transaktioneller Art zu sein. Es ging ihr nicht gut genug, sie hatte nicht genug Selbstvertrauen, um zu erkennen, was sie schließlich später, viel zu spät, verstehen würde: Paul hatte sie geliebt und er hatte nur sie geliebt, und selbst als er sagte, dass er sie nicht liebte, als er sie nicht lieben wollte, liebte er sie immer noch. Sie war das Herz, das in seiner Brust schlug, dieses kräftige Herz, scheinbar unermüdlich, während sie, Amélia, so erschöpft war. Die Geburt war schwierig, sie starb fast, das Baby starb fast, es wurde ein Kaiserschnitt gemacht und sie, unter Narkose, glaubte sich später an Dinge zu erinnern, die sie eher erlitten als erlebt hatte, glaubte sich an das Kind zu erinnern, das aus ihrem Bauch gerissen wurde, blau, einen blutigen Aal von Nabelschnur fest um den Hals geschlungen, als ob nichts, was von ihr stammte, lebensfähig wäre, sein könnte. Kaum geboren und schon blau. Natürlich sah sie nichts davon, Paul erzählte es ihr später. War es schon immer zu spät für sie beide gewesen? Als sie die Augen öffnete, lag sie in einem Krankenhausbett, ein gutaussehender Mann saß bei ihr, ein winziges Baby in den Armen, und sie erkannte die beiden nicht. In dem chemischen Nebel ihrer Benommenheit hatte sie sich der Krankenschwester zugewandt, besorgt, und, als ob sie sich vor einem Gemälde und nicht in der dargestellten Szene befänden, nicht in diesem Leben, genannt Leben L, hatte sie ihr eine Frage zugehaucht: Sie sind sicher, dass die zu mir gehören? Und auch das hatte Paul ihr nicht verziehen. Sie hatte nie ausdrücken können, wie eine unbändige Hoffnung sie damals ergriffen hatte, als sie sie dort sah, so schön, so lebendig, gehörten sie zu ihr? Sie verdiente sie nicht. Sie konnte sie nicht verdienen, nicht sie, nicht Amélia Dehr, Tochter von Nadia Dehr und einem Mann, der sie nie geliebt hatte. Tochter von Nadia Dehr und dem Sand. Aber das zu sagen hatte sie nie die richtigen Worte gefunden.
Eine Grammatik von Gesten, von Reflexen, die sie nicht hatte, die nicht vom Herzen ins Gehirn oder vom Gehirn in die Hände übertragen wurden, wenn das Baby weinte, war es Paul, der aufstand, Paul, der auf dem Boden schlief, neben der Wiege, der den winzigen Körper auf den seinen legte, der sie aus den Tiefen seines Schlafes beschützte. Und doch versuchte er es. Er versuchte mit allen Mitteln, eine Mutter aus ihr zu machen. Eines Tages ließ er sie mit dem Baby allein, ohne Vorwarnung, um sie zur Fürsorge, zur Liebe zu zwingen. Bei seiner Rückkehr ein paar Stunden später fand er Amélia und die Kleine in einem Sessel, unter einer Lampe, das Kind im Halbschlaf, der Kopf wackelte hin und her, war schwer mit schweren Gedanken, Bildern ohne Sprache oder gar dem Fehlen von Bildern, denn ihre Augen waren geschlossen, fast geschlossen, eine dünne weiße Sichel schien zwischen den Wimpern hindurch; die Pupillen gut geschützt durch das Augenlid; und Paul wusste, dass seine Tochter manchmal so schlief, die Augen nicht ganz geschlossen, aber er fühlte trotzdem einen Stich im Herzen, einen kleinen Schock, denn man hätte meinen können, sie wäre ohnmächtig. Amélia, das Kind auf dem Schoß, studierte sein Gesicht, seinen Kopf, nicht wie einen Kopf, sondern wie einen Gegenstand. Ihre Finger, ihre schlanken Hände, die Paul gut kannte und die Paul gut kannten, glitten über die kleine Stirn, über den kleinen Schädel, dachte er, wie über einen Stein. Er näherte sich wie ein Tier oder wie man sich einem Tier nähert, das vielleicht gefährlich ist, lauter, als er gewollt hätte, und fragte mit leiser Stimme, ob alles in Ordnung sei.
Amélia schaute zu ihm auf, sie wirkte abwesend oder verärgert. Guck mal, sagte sie, auch mit leiser Stimme, um das Kind nicht zu wecken oder etwas Anderes nicht zu wecken oder beides; ich glaube, alles ist in Ordnung, aber schau trotzdem mal. Paul beugte sich über den schlafenden kleinen Kopf, die bläulichen Schläfen, das Gemunkel des Blutes dahinter, von dem er manchmal geschworen hätte, er könne es hören wie sein eigenes Blut, seinen eigenen Puls. Es ist bestimmt nichts, sagte Amélia, aber sie konnte die Anspannung oder Sorge in ihrer Kehle nicht verbergen, ein rein physisches Phänomen, Also ich weiß nicht, schau – es schien mir für einen Moment, ich möchte wissen, was du denkst, es schien mir, dass sie ein bisschen, dass sie rothaarig ist.
Danach versuchte Paul es nicht mehr. Er kümmerte sich um seine Tochter und führte ein einsames Leben, das ganz in einigen wenigen hier und da gestohlenen Momenten enthalten war – eines Tages sah Amélia ihn auf der Straße mit einer Frau, von der sie zuerst dachte, dass sie es war. Aber wenn ich auf der anderen Straßenseite bin, in Pauls Armen, mit Pauls Küssen – wenn ich dort bin, wo bin dann ich selbst? Diese Frage hatte sie erledigt. Sie stimmte allem zu. Sie nahm Medikamente, die ihr Gesicht, ihre Handgelenke anschwellen ließen und sie dumpf machten, ihr Haar stumpf. Sie ließ sich einweisen. Die Elektrizität, die die Stadt erleuchtete, die die Häuser wärmte, die Milch für das Kind, das Nachtlicht, das sein Zimmer in zarte Farben hüllte, grün, blau, rosa – diese Elektrizität lief durch ihre Schläfen hindurch, um das Licht und die Wärme in ihr Gehirn zu bringen, die diesem fehlten. Das war es, was sie sich selbst erzählte, obwohl sie wusste, dass es sich im Grunde um Folter handelte. Nicht mehr. Nicht weniger. Dass die Nacht ihres Kopfes der einzige Ort war, an dem sie noch hätte in Geborgenheit sein können, und dass diese gewaltsam vertrieben wurde. Sie biss die Zähne aufeinander. Sie wollte es nicht, aber sie biss die Zähne aufeinander.
Es ging ihr besser, und als es ihr besser ging, bat Amélia Paul, sich zu setzen, und sagte ihm, dass er Recht hatte. Dass es nicht funktionierte. Sie hatte Leben gegeben, Leben gelassen. Sie hatte ihr Bestes getan, es war das Beste, was sie hatte tun können, und jetzt würde sie weggehen, weil sie nicht diese betrogene Frau und kalte Mutter sein konnte, die sie war, diese Frau, die den Mann, den sie liebt, mit Anderen sieht, die das Gesicht ihrer einzigen Tochter wie einen Kieselstein betrachtet, in dessen Körnung sie nach einem Zeichen sucht, einer vagen Ähnlichkeit mit etwas Bekanntem und Geliebtem. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe, denn ich weiß, wie es ist, seine Mutter gekannt zu haben und sie zu verlieren.
Paul sah sie an, ohne etwas zu sagen. Er sieht mich an, als wolle er mich umbringen, dachte Amélia. Als werde er ein Messer aus der Tasche ziehen und mich umbringen. Ein Messer, das nicht da gewesen war, bis ich gesagt habe, was ich zu sagen hatte, eine Klinge, die meine Worte in der Dunkelheit, der Wärme seines Körpers, erschaffen haben. War so seine Mutter gestorben? Ich habe es nie erfahren. Ich frage mich, ob er es weiß, dachte Amélia. War das Böse, das sie überall sah, in der Welt selbst oder in ihrem Blick darauf? Das war die Form ihres Wahnsinns, diese Frage. Seine Form und sein Inhalt, für immer ohne Antwort.
Und Paul sah sie an, ohne etwas zu sagen. Er sieht mich an, als würde er mich gleich an den Haaren in diesen geheimen Raum schleifen, den er zwischen zwei Wänden hat einbauen lassen, dachte Amélia. Dieser schalldichte Raum, der allem widersteht, vielleicht sogar dem Ende der Welt, vielleicht sogar dem Ende von uns. Als würde er mich da hineinwerfen wollen und ihn hinter mir abschließen und nie wieder öffnen. Ja, es ist, als wäre ich schon da drin, dachte sie, dort werde ich den Rest meines Lebens verbringen, zwischen diesen Mauern. Klopfend. Schreiend. Ohne dass mich jemand hört. Meine Tochter wird aufwachsen, ohne zu wissen, dass ihre Mutter dort ist, nur ein paar Meter entfernt. Im Dunkeln. Für immer.
Und Paul sah sie an.

2.

Was blieb übrig, auf der Welt, von Amélia? Nichts, scheinbar. Nichts oder so wenig. Paul biss die Zähne aufeinander. Er wollte es nicht, aber er biss die Zähne aufeinander. Er müsste seiner Tochter von ihr erzählen, sagte er sich; er drehte und wendete in Gedanken die Sätze, die er sagen würde, die man sagen konnte – aber der Rest? Was war wirklich wichtig? Seine eigene Kunst, seine eigenen Verbrechen – seine Erinnerungen? Was mache ich, fragte er sich, mit all dem, für das ich keine Worte habe? Und so schwieg er. Zuerst wie aus Unachtsamkeit. Und so wandte er das an, wovor ihn Amélia selbst viele Male gewarnt hatte – die Lektion der ausgemerzten sowjetischen Astronauten, die Lektion von Sarajevo, aus dem allmählich alle Spuren des Krieges verschwunden waren. Er wandte es auf Amélia selbst an, auf die Frau, die er geliebt hatte, die er liebte, deren Tochter er großzog. Denn tot noch sollst du, und während seiner schlaflosen Nächte vervollständigte er diesen Satz, diesen Vers, den sie ausgesprochen hatte, den einzigen, der nicht von Nadia Dehr stammte. Denn tot noch sollst du eine Rose sein, nur noch Straßen und Viertel sein, die Stadt sein, in der ich lebe und die mich erdrückt und vergiftet. Alle Städte sein, alle Gifte. Alle Nächte. Versuchen wir, nicht daran zu denken, dachte er. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht vergessen, der Krieg ließ sich nicht vergessen. Beide schwelten vor sich hin, schlichen sich ein, wie war das möglich? Kaum schließt man die Augen, nur einen Moment, könnte man glauben, und schon ist sie da. Ihr Geruch. Ihr Puls.
Er würde nicht an Gespenster glauben. Das hatte er von Anfang an entschieden. Sie hatten es gemeinsam entschieden. Sie glaubten nicht an Gespenster. Sie glaubten an Liebe und Worte, und an das Ende der Liebe und Stille, aber an nichts Anderes. An nichts, was einem etwas ins Ohr flüstert. An nichts, was durch Wände geht. Er packte alles, was noch übrig war, in eine Kiste und verschloss sie. Diese Abwesenheit, deutlich, mit reinen Formen, klaren Abmessungen, war die Gestalt, die er der Zukunft zu geben beabsichtigte.
Natürlich würde die Zukunft das nicht mit sich machen lassen.
image
Er gab sich alle Mühe, ein guter Vater zu sein, und zweifellos war er das auch, denn auf dieser Welt, so wie sie war – allem, was sie war, zum Trotz –, war Louises erste Begegnung mit dem Tod der ihres gelb-grünen Wellensittichs, der einige Monate lang auf der Stelle herumgesprungen war, stoisch, mit einem gleichgültigen oder vielleicht traurigen Blick, in einem Käfig in Form eines japanischen Pavillons; von seiner dekorativen Berufung gerettet durch die Liebe, die Louise ihm entgegenbrachte, ohne sie wirklich ausdrücken zu können. Ein Leben, ein anderes Leben, kleiner als das ihre und gelb und grün – Louise war verrückt nach ihm. Sie hatte vor nichts Angst, weder vor dem Schnabel noch vor den Klauen; übrigens auch nicht vor der Dunkelheit oder vor den großen Hunden, denen sie manchmal ohne Vorwarnung um den Hals fiel, und Paul, gelähmt vor Angst, schloss die Augen, rechnete ganz sicher mit dem Schlimmsten; aber nichts geschah, Louise kam zu ihm zurück, er drückte ihre kleine Hand, schwor sich, sie nie wieder loszulassen. Zuerst erschien ihr der Käfig leer, ihr, die zu klein war, um von oben hineinzusehen, schien es wie ein Rätsel, Zauberei: ein geschlossener Käfig – kein Vogel. Ein Mysterium, das Versprechen einer Scharade. Aber Paul war die kleine Leiche nicht entgangen, und er hatte den Wunsch verspürt, etwas zu erfinden, eine Ausrede, um sie verschwinden zu lassen, damit nie davon gesprochen würde. Nie oder noch nicht. Louise ist noch zu klein, sagte er sich, was absurd war, ist der Fisch jemals zu klein für das Wasser? Ist man jemals zu klein für die Wirklichkeit? Also tat er nichts, ließ sie näher herangehen, sich auf die Zehenspitzen stellen, das tote Vögelchen sehen, Was hat es denn, Papa, und er hatte gewartet, bis sie es in die Hand nahm, mit ihren Fingerspitzen die Abwesenheit von Leben in dem Gefieder spürte, den Körper, den man nun in seine Handfläche drücken konnte, fühlen konnte, wie die Luft nicht aus dem Inneren, den Organen entwich, sondern aus den Räumen zwischen den einzelnen Federn, entdecken konnte, dass es in Wahrheit ein viel kleineres und zerbrechlicheres Tier war, als man gedacht hatte – eher ein Nichts als ein Etwas. Und doch, ein Leben, das nicht mehr war.
Louise hatte traurig gewirkt, ein wenig; aus seltsamen Gründen; weil ihr Vater zu erwarten schien, dass sie es war. Sie hatte dem toten Vogel etwas zugeflüstert, als versuche sie mit ihrem Atem, seine Federn wieder aufzublasen.
Er musste ein wenig, ganz leicht darauf bestehen, dass sie einwilligte, ihre Hände wieder zu öffnen.
image
Er gab sich alle Mühe, ein guter Vater zu sein, und bezweifelte, dass er einer war. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, er entdeckte alles erst, wenn es passierte, fühlte sich ständig verloren, überwältigt, in die Enge getrieben. Kurz gesagt, wie alle jungen Eltern. Er strengte sich richtig an. Verbrachte sein Leben gequält von seinem eigenen Verrat. Er versuchte, gegen sich selbst zu denken, wenn er vielleicht besser daran getan hätte, gegen die Zeit zu denken. Aber nein. Nicht er. Nicht Paul. Er war, sagte er sich, während er seine Tochter beim Schlafen beobachtete, ein völlig kompromittiertes Wesen. Durch seine Fortschritte, durch die ständige Neuerfindung seiner selbst, zu der er sich durch Ehrgeiz befähigt hatte. Durch Ignoranz, durch die Negierung seiner selbst, durch die Negierung seiner Herkunft. Die einzige Gewissheit, die er bezüglich seiner selbst hatte, jetzt, nachdem er sich biegsam und flexibel gemacht hatte und sich wie Wasser bewegte, war seine Liebe zu Louise. Er wollte sie beschützen, sie vor allem beschützen, vor der Welt, die zu Ende ging, und der Welt, die begann. Aber sie zu beschützen reichte nicht aus;...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Nächte im Hotel
  6. Weder allein noch in Begleitung
  7. Das Fortschreiten der Nacht
  8. Danksagung der Autorin
  9. Danksagung der Übersetzerin
  10. Zitatnachweise
  11. Bildnachweise