Wovon wir träumten
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Wovon wir träumten

  1. 159 Seiten
  2. German
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Wovon wir träumten

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Über dieses Buch

Ausgezeichnet mit dem PEN / Faulkner Award 2012, dem Prix Femina Etranger 2012 und dem Albatros-Literaturpreis 2014."Auf dem Schiff waren die meisten von uns Jungfrauen." So beginnt die berührende Geschichte einer Gruppe junger Frauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Picture Brides von Japan nach Kalifornien reisen, um japanische Einwanderer zu heiraten. Bis zu ihrer Ankunft kennen die Frauen ihre zukünftigen Männer nur von den strahlenden Fotos der Heiratsvermittler, und auch sonst haben sie äußerst vage Vorstellungen von Amerika, was auf der Schiffsüberfahrt zu wilden Spekulationen führt: Sind die Amerikaner wirklich behaart wie Tiere und zwei Köpfe größer? Was passiert in der Hochzeitsnacht? Wartet jenseits des Ozeans die große Liebe?Aus ungewöhnlicher, eindringlicher Wir-Perspektive schildert der Roman die unterschiedlichen Schicksale der Frauen: wie sie in San Fransisco ankommen (und in vielen Fällen die Männer von den Fotos nicht wiedererkennen), wie sie ihre ersten Nächte als junge Ehefrauen erleben, Knochenarbeit leisten auf den Feldern oder in den Haushalten weißer Frauen (und von deren Ehe-männern verführt werden), wie sie mit der fremden Sprache und Kultur ringen, Kinder zur Welt bringen (die später ihre Herkunft verleugnen) - und wie sie nach Pearl Harbor erneut zu Außenseitern werden.Julie Otsuka hat ein elegantes kleines Meisterwerk geschaffen, das in ebenso poetischen wie präzisen Worten eine wahre Geschichte erzählt. 'Wovon wir träumten' verzauberte bereits die Leser in den USA und in England, stürmte dort die Bestsellerlisten, wurde von der Presse hymnisch gefeiert, mit dem PEN / Faulkner Award ausgezeichnet und für zwei weitere große Literaturpreise nominiert; die Übersetzungsrechte sind inzwischen in zahlreiche Länder verkauft.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783866483019

Weiße

Wir zogen an ihre Stadtränder, wenn sie uns ließen. Und wenn nicht – Sieh zu, dass der Sonnenuntergang dich in diesem County nicht findet, war auf manchen ihrer Schilder zu lesen –, fuhren wir weiter. Wir wanderten in ihren heißen, trockenen Tälern – dem Sacramento, dem Imperial, dem San Joaquin Valley – von einem Camp zum nächsten, und Seite an Seite mit unseren neuen Ehemännern beackerten wir ihr Land. Wir pflückten ihre Erdbeeren in Watsonville. Wir pflückten ihre Trauben in Fresno und Denair. Wir gingen auf unsere Knie und buddelten mit Forken ihre Kartoffeln auf Bacon Island im Delta aus, wo die Erde locker und weich war. Im Holland Tract lasen wir ihre grünen Bohnen aus. Und wenn die Erntesaison vorbei war, schnallten wir uns unsere zusammengerollten Decken auf den Rücken und warteten, die Bündel mit unseren Sachen in der Hand, auf den nächsten Planwagen und fuhren weiter.
Das erste Wort in ihrer Sprache, das man uns beibrachte, war Wasser. Ruf es ganz laut, sagten unsere Ehemänner, sobald du dich schwach fühlst auf dem Feld. »Lern dieses Wort«, sagten sie, »und rette dein Leben.« Die meisten von uns lernten es, doch eine von uns – Yoshiko, die hinter hoch ummauerten Innenhöfen in Kōbe von Ammen großgezogen worden war und noch nie in ihrem Leben einen Grashalm gesehen hatte – lernte es nicht. Nach ihrem ersten Tag auf der Marble Ranch ging sie zu Bett und wachte nicht mehr auf. »Ich dachte, sie schläft«, sagte ihr Mann. »Hitzschlag«, erklärte der Boss. Eine andere von uns war zu schüchtern, um laut zu rufen, und kniete sich stattdessen hin und trank aus einem Bewässerungsgraben. Sieben Tage später starb sie an Typhus. Andere Wörter, die wir bald lernten: »Gut so« – das sagte der Boss, wenn er mit unserer Arbeit zufrieden war – und »Geh nach Hause« – das sagte er, wenn wir zu ungeschickt oder langsam waren.
Unser Zuhause war ein Feldbett in einer ihrer Schlafbaracken auf der Fair Ranch in Yolo. Zuhause war ein langes Zelt unter einem belaubten Pflaumenbaum bei Kettleman’s. Zuhause war ein Holzschuppen in Camp Nr. 7 im Barnhart Tract draußen in Lodi. Nichts als Zwiebelreihen, so weit das Auge reicht. Zuhause war ein Bett aus Stroh in John Lymans Scheune, Seite an Seite mit seinen Siegerpferden und Kühen. Zuhause war ein Eckchen im Waschhaus auf der Stockton’s Cannery Ranch. Zuhause war ein Stockbett in einem verrosteten Güterwagen in Lompoc. Zuhause war ein alter Hühnerstall in Willows, in dem vor uns die Chinesen gewohnt hatten. Zuhause war eine verflohte Matratze in der Ecke eines Packschuppens in Dixon. Zuhause war ein Heubett auf drei Apfelsteigen unter einem Apfelbaum in Fred Stadelmans Apfelgarten. Zuhause war ein Fleck auf dem Boden eines verlassenen Schulgebäudes in Marysville. Zuhause war ein Stückchen Erde in einem Birnengarten in Auburn, nicht weit von den Ufern des American River, wo wir jeden Abend wach lagen und zu den amerikanischen Sternen hinaufschauten, die nicht anders aussahen als bei uns: dort, hoch oben über uns, waren der Stern des Kuhhirten, der Stern der Weberin, der Holzstern, der Wasserstern. »Gleicher Breitengrad«, erklärten uns die Männer. Zuhause war da, wo das Obst reif war und gepflückt werden konnte. Zuhause war da, wo unsere Männer waren. Zuhause war an der Seite eines Mannes, der schon seit Jahren Unkraut jätete für den Boss.
Am Anfang wunderten wir uns ununterbrochen über sie. Warum bestiegen sie ihre Pferde von links und nicht von rechts? Wie konnten sie sich gegenseitig auseinanderhalten? Warum schrien sie immer? Konnte es wahr sein, dass sie Geschirr an ihre Wände hängten und keine Bilder? Und an allen Türen Schlösser hatten? Und ihre Schuhe im Haus nicht auszogen? Worüber redeten sie spätabends beim Einschlafen? Wovon träumten sie? Zu wem beteten sie? Wie viele Götter hatten sie? Stimmte es, dass sie im Mond einen Mann sahen und kein Kaninchen? Und bei Beerdigungen gekochtes Rindfleisch aßen? Und die Milch von Kühen tranken? Und dieser Geruch? Was war das? »Buttergestank«, erklärten unsere Männer.
Halte dich fern von ihnen, hatte man uns gewarnt. Nähere dich ihnen mit Vorsicht, falls es nötig ist. Glaub nicht immer alles, was sie dir sagen, aber lerne, sie genau zu beobachten: ihre Hände, ihre Augen, ihre Mundwinkel, plötzliche Veränderungen der Hautfarbe. Bald wirst du in ihren Gesichtern lesen können. Aber pass auf, dass du sie nicht anstarrst. Mit der Zeit wirst du dich an ihre Größe gewöhnen. Rechne mit dem Schlimmsten, aber zeig dich nicht überrascht von Momenten der Freundlichkeit. Güte gibt es überall. Sorg dafür, dass sie sich wohlfühlen. Sei bescheiden. Sei höflich. Zeig dich beflissen, es ihnen recht zu machen. Sag »Ja, Sir« oder »Nein, Sir« und mach genau das, was man dir sagt. Besser noch, sag gar nichts. Ab jetzt bist du Teil der unsichtbaren Welt.
Ihre Pflüge wogen mehr als wir selbst und waren schwer zu bedienen, und ihre Pferde waren doppelt so groß wie unsere Pferde zu Hause in Japan. Wir konnten sie nicht anspannen, ohne auf Orangensteigen zu klettern oder uns auf einen Hocker zu stellen, und als wir das erste Mal Befehle riefen, damit sie sich in Bewegung setzten, blieben sie einfach stehen und schnaubten und scharrten auf dem Boden. Waren sie taub? Waren sie blöd? Oder einfach nur stur? »Das hier sind amerikanische Pferde«, erklärten unsere Männer. »Sie verstehen kein Japanisch.« Also lernten wir unsere ersten Wörter Pferdeenglisch. »Hü« sagte man, wenn das Pferd vorwärtsgehen sollte, und »Zurück« sagte man, wenn es sich rückwärtsbewegen sollte. »Ruhig« sagte man, damit es sein Tempo verlangsamte, und »Brrr«, wenn es stehen bleiben sollte. Und für einige von uns sollten das die einzigen Wörter auf Englisch bleiben, die sie nach fünfzig Jahren noch auswendig konnten.
Auf dem Schiff hatten wir mithilfe unserer Reisehandbücher ein paar Redewendungen in ihrer Sprache gelernt – »Hallo«, »Verzeihung«, »Bitte bezahlen Sie mir meinen Lohn« –, und wir konnten ihr Abc aufsagen, aber dieses Wissen war in Amerika nutzlos. Wir konnten ihre Zeitschriften oder Zeitungen nicht lesen. Wir starrten verzweifelt auf ihre Schilder. Ich kann mich nur noch erinnern, dass der erste Buchstabe ein E war. Und wenn der Boss mit uns redete, konnten wir seine Worte sehr deutlich hören, aber sie ergaben in unseren Ohren keinen Sinn. Und bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir uns ihnen vorstellen mussten – Mr. Smeesh? –, starrten sie uns verwundert an, zuckten dann die Achseln und gingen weg.
Lass dich von ihnen nicht entmutigen. Hab Geduld. Bleib ruhig. Aber vorerst, sagten unsere Männer, überlass das Reden bitte mir. Denn sie sprachen bereits Englisch. Sie verstanden die amerikanischen Sitten. Und wenn wir neue Unterwäsche brauchten, sprangen sie über ihren Schatten, marschierten über die heißen, gleißenden Felder in die Stadt und fragten den Verkäufer in ihrem perfekten, aber alles andere als akzentfreien Englisch nach einer neuen Garnitur. »Nicht für mich«, erklärten sie. Und wenn wir auf einer neuen Ranch ankamen und der Boss uns mit einem Blick musterte und sagte: »Sie ist zu schwach«, dann waren es unsere Männer, die ihn vom Gegenteil überzeugten. »Auf dem Feld ist meine Frau genauso gut wie ein Mann«, sagten sie dann, und innerhalb kürzester Zeit stimmte das auch. Und wenn wir Malaria bekamen und den Kopf nicht mehr heben konnten, waren es unsere Männer, die dem Boss erklärten, was nicht stimmte: »Erst ist ihr heiß, dann ist ihr kalt, dann ist ihr wieder heiß.« Und wenn der Boss anbot, noch am Nachmittag selbst in die Stadt zu fahren, um uns die Medikamente zu besorgen, die uns helfen sollten – »Mach dir mal keine Gedanken ums Geld«, sagte er –, dann waren es unsere Männer, die ihm überschwänglich dankten. Und selbst wenn diese Medikamente unseren Urin tagelang dunkellila färbten, ging es uns bald schon besser.
Einige von uns arbeiteten schnell, um sie zu beeindrucken. Einige von uns arbeiteten schnell, einfach um ihnen zu zeigen, dass wir genauso schnell Pflaumen pflücken und Rüben schneiden und Zwiebeln in Säcke füllen und Beeren in Kisten verpacken konnten wie die Männer, wenn nicht noch schneller. Einige von uns arbeiteten schnell, weil sie ihre gesamte Kindheit barfuß und gebückt auf den Reisfeldern verbracht hatten und genau wussten, was sie zu tun hatten. Einige von uns arbeiteten schnell, weil ihre Männer sie gewarnt hatten, dass sie sie andernfalls mit dem nächsten Schiff nach Hause schicken würden. Ich habe um eine Frau gebeten, die tüchtig und stark ist. Einige von uns kamen aus der Stadt und arbeiteten langsam, weil sie noch nie zuvor eine Hacke in der Hand gehalten hatten. »Der einfachste Job in Amerika«, sagte man uns. Einige von uns waren ihr Leben lang kränklich und schwach gewesen, aber nach einer Woche in den Zitronenhainen von Riverside fühlten sie sich stärker als Ochsen. Eine von uns brach zusammen, bevor sie überhaupt nur ihre erste Reihe gejätet hatte. Einige von uns weinten bei der Arbeit. Einige von uns fluchten bei der Arbeit. Wir alle hatten Schmerzen bei der Arbeit – unsere Hände bildeten Blasen und bluteten, unsere Knie brannten, unsere Rücken würden sich nie wieder erholen. Eine von uns war bei der Arbeit abgelenkt durch einen gut aussehenden Hindu, der eine Ackerfurche weiter Spargel schnitt, und sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie sehr sie ihm den weißen Turban von seinem beeindruckenden braunen Kopf lösen wollte. Jede Nacht träume ich von Guptasan. Einige von uns sangen buddhistische Sutras bei der Arbeit, und die Stunden vergingen wie im Fluge. Eine von uns – Akiko, die in Tokio eine Missionarsschule besucht hatte und bereits Englisch konnte und ihrem Mann jeden Abend aus der Bibel vorlas – sang »Erhebe dich, meine Seele, erhebe dich« bei der Arbeit. Viele von uns sangen während der Arbeit dieselben Erntelieder, die sie in ihrer Jugend gesungen hatten, und versuchten sich vorzustellen, sie seien zu Hause in Japan. Denn wenn uns unsere Männer in ihren Briefen die Wahrheit gesagt hätten – dass sie keine Seidenhändler waren, sondern Obstpflücker, dass sie nicht in großen Häusern mit vielen Zimmern wohnten, sondern in Zelten und Scheunen und draußen im Freien, auf den Feldern, unter der Sonne und den Sternen –, wären wir nie nach Amerika gekommen, um die Arbeit zu machen, die im Leben kein Amerikaner machen würde, der etwas auf sich hält.
Sie bewunderten uns für unsere starken Rücken und flinken Hände. Unsere Ausdauer. Unsere Disziplin. Unsere sanften Gemüter. Unsere ungewöhnliche Fähigkeit, die Hitze zu ertragen, die auf den Melonenfeldern von Brawley an Sommertagen bis zu neunundvierzig Grad ansteigen konnte. Sie sagten, dass wir durch unsere kleine Gestalt ideal für Arbeit geeignet waren, bei der man sich sehr tief bücken musste. Wo auch immer sie uns einsetzten, sie waren zufrieden. Wir besaßen alle Vorzüge der Chinesen – wir arbeiteten hart, wir waren geduldig, wir waren stets höflich –, aber keine ihrer schlechten Angewohnheiten – wir spielten nicht und rauchten kein Opium, wir zankten nicht, wir spuckten nie. Wir waren schneller als die Filipinos und nicht so arrogant wie die Hindus. Wir waren disziplinierter als die Koreaner. Wir waren ernsthafter als die Mexikaner. Wir waren billiger zu ernähren als die Arbeiter aus Oklahoma und Arkansas, sowohl die hell- als auch die dunkelhäutigen. Ein Japaner kann von einem Teelöffel Reis am Tag leben. Wir waren die beste Sorte von Arbeitern, die sie je in ihrem Leben beschäftigt hatten. Diese Leute machen einfach alles mit, wir müssen uns überhaupt nicht um sie kümmern.
Tagsüber arbeiteten wir auf ihren Obstplantagen und Feldern, aber nachts, wenn wir schliefen, kehrten wir immer zurück nach Hause. Manchmal träumten wir, wir seien zurück im Dorf und rollten mit unserer Lieblingsastgabel einen Metallreifen die Street of Rich Merchants hinunter. Ein andermal spielten wir unten am Fluss im Schilf Verstecken. Und ab und an sahen wir etwas vorbeitreiben. Ein rotes Seidenband, das wir vor Jahren verloren hatten. Ein gesprenkeltes blaues Ei. Das Holzkissen unserer Mutter. Eine Schildkröte, die uns weggelaufen war, als wir vier waren. Manchmal standen wir mit unserer älteren Schwester vor dem Spiegel, Ai, deren Name entweder »Liebe« oder »Trauer« bedeutete, je nachdem, wie man ihn schrieb, und sie flocht uns unsere Haare. »Still gestanden!«, sagte sie. Und alles war so, wie es sein sollte. Aber wenn wir aufwachten, stellten wir fest, dass wir neben einem fremden Mann in einem fremden Land lagen, in einer stickigen, engen Baracke, die gefüllt war vom Grunzen und Stöhnen anderer. Manchmal streckte dieser Mann im Schlaf seine dicken, rauen Hände nach uns aus, und wir versuchten, nicht zurückzuschrecken. In zehn Jahren ist er ein alter Mann, sagten wir uns. Manchmal schlug er im frühen Morgenlicht seine Augen auf und sah, dass wir traurig waren, und er versprach uns, dass alles besser werden würde. Und selbst wenn wir ihm erst Stunden zuvor, als er in der Dunkelheit ein weiteres Mal auf uns geklettert war, gesagt hatten: »Ich verabscheue dich«, ließen wir uns trösten, denn er war alles, was wir hatten. Manchmal schaute er einfach durch uns hindurch, ohne uns überhaupt zu sehen, und das war am allerschlimmsten. Weiß überhaupt irgendjemand, dass ich hier bin?
Die ganze Woche lang ließen sie uns für sich auf ihren Feldern schwitzen, aber sonntags gönnten sie uns Ruhe. Und während unsere Männer in die Stadt zogen und in der chinesischen Spielhalle Fan Tan spielten, wo das Haus immer gewann, saßen wir mit unseren Tintensteinen und Pinseln unter Bäumen und schrieben auf langen, dünnen Blättern aus Reispapier an unsere Mütter zu Hause, denen wir versprochen hatten, niemals fortzugehen. Jetzt sind wir in Amerika und jäten Unkraut für den großen Mann, den sie Boss nennen. Hier gibt es keine Maulbeerbäume, keine Bambuswälder, keine Jizō-Statuen am Wegesrand. Die Hügel sind braun und trocken, und Regen fällt selten. Die Berge sind weit weg. Wir wohnen im Licht von Öllampen, und einmal in der Woche, sonntags, waschen wir auf nassen Steinen im Bach unsere Kleider. Mein Ehemann ist nicht der Mann auf dem Foto. Mein Ehemann ist der Mann auf dem Foto, nur viele Jahre älter. Der gut aussehende beste Freund meines Ehemannes ist der Mann auf dem Foto. Mein Ehemann trinkt. Mein Ehemann ist der Manager vom Yamato Club, und sein ganzer Oberkörper ist tätowiert. Mein Ehemann ist kleiner, als er in seinen Briefen behauptet hat, aber das bin ich ja auch. Mein Ehemann ist im Russisch-Japanischen Krieg mit dem Verdienstorden der goldenen Weihe, 6. Klasse, geehrt worden und hinkt jetzt schwer.
Mein Ehemann ist über die mexikanische Grenze ins Land geschleust worden. Mein Ehemann ist ein blinder Passagier, der 1906 einen Tag vor dem großen Erdbeben in San Francisco von Bord gegangen ist, und er träumt jede Nacht, dass er zurück auf die Fähre kommen muss. Mein Ehemann betet mich an. Mein Ehemann lässt mich nie in Ruhe. Mein Ehemann ist ein guter Mann, der doppelt so hart arbeitet, wenn ich das Tempo nicht halten kann, damit der Boss mich nicht nach Hause schickt.
Insgeheim hofften wir, dass wir von ihnen erlöst würden. Vielleicht hatten wir uns auf dem Schiff in einen Mann verliebt, der von derselben Insel kam wie wir und der sich an dieselben Berge und Bäche erinnerte, und wir konnten nicht aufhören, an ihn zu denken. Jeden Tag hatte er an Deck neben uns gestanden und gesagt, wie schön er uns fand, wie klug, wie besonders. Noch nie in seinem Leben war er jemandem wie uns begegnet, hatte er gesagt. Er hatte gesagt: »Warte auf mich. Ich hole dich, sobald ich kann.« Vielleicht war er ein Unternehmer in Cortez oder der Geschäftsführer einer Import-Export-Firma in San José, und jeden Tag, wenn wir mit unseren Händen in der schwarzen, ausgedörrten Erde wühlten, beteten wir, dass wir einen Brief von ihm erhalten würden. Und jeden Tag kam keiner. Manchmal, wenn wir uns spätabends fertig machten zum Schlafen, brachen wir plötzlich in Tränen aus, und unsere Männer sahen uns besorgt an. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragten sie dann, und wir schüttelten einfach den Kopf. Aber wenn wir eines Tages endlich den Umschlag von dem Mann auf dem Schiff in der Post fanden – Ich habe Deinem Mann Geld geschickt und warte im Taisho Hotel auf Dich –, mussten wir unserem Mann alles sagen. Und auch wenn er uns mit seinem Gürtel verprügelte und uns zu Recht beschimpfte, ließ er uns am Ende doch gehen. Denn das Geld, das er von dem Mann auf dem Schiff erhalten hatte, war ein Vielfaches von dem, was er bezahlt hatte, um uns von Japan hierherzubringen. »Vielleicht wird jetzt wenigstens einer von uns glücklich«, sagte er zu uns. Er sagte: »Nichts ist von Dauer.« Er sagte: »Als ich dir das erste Mal in die Augen gesehen habe, hätte ich wissen müssen, dass es die Augen einer Hure sind.«
Manchmal näherte sich uns der Boss von hinten, während wir gebückt auf seinen Feldern standen, und flüsterte uns ein paar Worte ins Ohr. Und obwohl wir keine Ahnung hatten, was er sagte, wussten wir ganz genau, was er meinte. »Ich nicht sprechen Englisch«, erwiderten wir. Oder: »Tut mir leid, Boss, aber nein.« Manchmal näherte sich uns ein gut angezogener Landsmann, der aus dem Nichts aufgetaucht war, und bot an, uns in die große Stadt mitzunehmen. Wenn du für mich arbeitest, kann ich dir das Zehnfache von dem bezahlen, was du auf den Feldern verdienst. Manchmal näherte sich uns einer der unverheirateten Arbeiterfreunde unseres Mannes genau dann, wenn unser Mann gerade nicht zu sehen war, und versuchte uns einen Fünfdollarschein zuzustecken. »Lass mich nur einmal kurz rein«, sagte er zu uns. »Ich verspreche dir, ich werde ihn nicht mal bewegen.« Und hin und wieder gaben wir nach und sagten Ja. »Wir treffen uns morgen Abend um neun hinterm Salatlager«, sagten wir ihm. Oder: »Ich mach’s für fünf Dollar mehr.« Vielleicht waren wir unglücklich mit unserem Mann, der jeden Abend zum Kartenspielen und Trinken verschwand und immer erst spätnachts nach Hause kam. Oder vielleicht mussten wir Geld nach Hause schicken, weil die Reisfelder unserer Familien wieder einmal durch Überschwemmungen verwüstet worden waren. Wir haben alles verloren und ernähren uns ausschließlich von Baumrinde und gekochten Süßkartoffeln. Selbst diejenigen von uns, die nicht hübsch waren, bekamen oft heimliche Geschenke: eine Schildpatthaarnadel, eine Flasche Parfum, eine Ausgabe der Zeitschrift Modern Screen, die vom Verkaufstisch eines Billigladens in der Stadt geklaut worden war. Aber wenn wir dieses Geschenk annahmen, ohne uns zu revanchieren, dann wussten wir, dass das seinen Preis hatte. Er hat ihr mit seinem Gartenmesser die Fingerspitze abgeschnitten. Also lernten wir, es gründlich zu überlegen, bevor wir Ja sagten und einem anderen Mann in die Augen schauten, denn in Amerika bekam man nichts umsonst.
Einige von uns arbeiteten als Köchinnen in ihren Camps, und einige von uns als Tellerwäscherinnen, und ruinierten sich ihre zarten Hände. Andere von uns wurden in entfernte Täler im Landesinneren gebracht, um dort als Farmpächter auf ihrem Land zu arbeiten. Vielleicht hatte unser Ehemann zwanzig Morgen Land von einem Mann namens Caldwell gepachtet, der in der Mitte des südlichen San Joaquin Valley Tausende von Morgen Land besaß, und jedes Jahr bezahlten wir Mr. Caldwell sechzig Prozent von unserem Gewinn. Wir wohnten in einer schmutzigen Hütte unter einer Weide auf einem weiten, offenen Feld und schliefen auf einer mit Stroh gefütterten Matratze. Wir erleichterten uns draußen, in einem Loch im Boden. Wir holten unser Wasser aus einem Brunnen. Wir pflanzten und pflückten von früh bis spät Tomaten und redeten wochenlang mit niemandem außer unserem Mann. Wir hatten eine Katze, die uns Gesellschaft leistete und die Ratten verjagte, und nachts, wenn wir im Eingang standen und nach Westen schauten, konnten wir in der Ferne ein schwaches, flackerndes Licht sehen. Dort, hatten unsere Männer uns erklärt, gab es Menschen. Und wir wussten, dass wir niemals von zu Hause hätten fortgehen dürfen. Aber egal, wie laut wir nach unser Mutter riefen – wir wussten, dass sie uns nicht hören konnte, und so versuchten wir aus dem, was wir hatten, das Beste zu machen. Wir schnitten aus Zeitschriften Fotos von Kuchen aus und hängten sie an die Wand. Wir nähten Vorhänge aus gebleichten Reissäcken. Wir bauten buddhistische Altäre aus umgedrehten Tomatenkisten, die wir mit einem Tischtuch bedeckten, und jeden Morgen stellten wir dort eine Tasse heißen Tee für unsere Vorfahren ab. Und am Ende der Ernte liefen wir zehn Meilen weit in die Stadt und kauften uns selbst ein kleines Geschenk: eine Flasche Cola, eine neue Schürze, einen Lippenstift, denn vielleicht würde sich eines Tages ein Anlass bieten, ihn aufzutragen. Vielleicht werde ich einmal zu einem Konzert eingeladen. In einigen Jahren waren unsere Ernten gut und die Preise hoch, und wir verdienten mehr Geld, als wir uns jemals hätten träumen lassen. Sechshundert pro Morgen Land. In anderen Jahren verloren wir alles durch Insekten oder Mehltau oder durch einen Monat heftiger Regenfälle, oder der Tomatenpreis ging so sehr in den Keller, dass wir keine andere Wahl hatten, als unsere gesamten Geräte zu versteigern, um unsere Schulden abzuzahlen, und wir fragten uns, was wir hier wollten. »Es war idiotisch von mir, dir aufs Land zu folgen«, sagten wir zu unseren Ehemännern. Oder: »Du verschwendest meine Jugend.« Aber wenn er uns fragte, ob wir lieber als Dienstmädchen in der Stadt arbeiten und den ganzen Tag nur lächeln und knicksen u...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Japanerinnen, kommt!
  5. Erste Nacht
  6. Weiße
  7. Babys
  8. Die Kinder
  9. Verräter
  10. Letzter Tag
  11. Ein Verschwinden
  12. Danksagung
  13. Weitere eBooks bei mare