Fliehen
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Fliehen

  1. 176 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Daß das Wesen der Liebe darin besteht, daß sie sich nicht beenden läßt, das belegt Jean-Philippe Toussaint in seinem neuesten Roman auf erneut unverwechselbar wunderbare Weise. Marie und der namenlose Erzähler, den Lesern aus Toussaints erfolgreichem letzten Roman "Sich lieben" bekannt, können ihre Beziehung nicht beenden. Er reist nach Shanghai, wo er einem Mitarbeiter von Marie Geld überbringen soll, eine große Summe Bargeld für krumme Geschäfte. Durch Zhang Xiangzhi lernt er die hübsche Chinesin Li Qi kennen, die ihm anbietet, mit ihr ein paar Tage in Peking zu verbringen. Unser Held wittert eine Liebesgeschichte, und bereits im Nachtzug nach Peking kommt es zu einer erotischen Begegnung. Doch die beiden werden unterbrochen durch das Klingeln seines Handys: Es ist Marie - ihr Vater ist auf Elba gestorben. Sie wird umgehend nach Elba aufbrechen, er soll folgen. In Peking angekommen, bucht er seinen Rückflug. Bis zum Abflug ist noch Zeit für einen touristischen Ausflug und eine Bowlingpartie. Urplötzlich müssen sie fliehen: Die Polizei Pekings ist hinter ihnen her. Es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd quer durch die Stadt. Die Flucht gelingt: Noch in Bowlingschuhen und völlig abgerissen erreicht der Erzähler am Ende Elba, sucht und findet Marie, die ihren Vater zu Grabe trägt. Aber auch hier wird er fliehen."Was will man Größeres, was will man mehr von der Literatur verlangen!", so begrüßte LE MONDE den neuen meisterhaften Roman Jean-Philippe Toussaints. Fliehen ist spannungsgeladen, authentisch und voll und ganz ein Kunstwerk mit Sprachbildern von unglaublicher Intensität. Mit diesem Roman bestätigt der 1957 geborene Jean-Philippe Toussaint seinen Ruf als einer der wichtigsten und originellsten Schriftsteller seiner Generation.

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Information

II
Der Zug fuhr kurz vor neun Uhr morgens in Peking ein. Ich erinnere mich an nichts mehr, ich folgte mit geschultertem Rucksack Zhang Xiangzhi und Li Qi aus dem Bahnhof, wir sagten nichts, kamen inmitten einer dicht gedrängten Menge mit Taschen und Ballen bepackter Reisender kaum voran. Die Ausgänge, die zum Vorplatz des Hauptbahnhofs führten, waren wegen Bau- oder Renovierungsarbeiten gesperrt, und so mußten wir einen engen, von Holzzäunen gesäumten Korridor ins Freie nehmen. Das war mein erster Eindruck von der Stadt (ich war zum ersten Mal in Peking), diese kleine Reihe zickzackförmig gelegter Holzbretter auf blanker Erde, der wir im Gänsemarsch den ockerfarbenen, staubigen Weg entlang folgten. Im weißen Himmel über unseren Köpfen schwebten langsam dünne Metallarme riesiger Kräne, die Luft war schwül, beißend, heiß, voller Sand und nicht atembarem Staub, sie flimmerte vor unseren Augen im allgegenwärtigen Getöse von Bohrmaschinen und Preßlufthämmern, das die Atmosphäre an diesem glühend heißen Morgen vibrieren ließ.
Auf dem Vorplatz legte ich eine Pause ein, überwältigt von der Sonne und vom Lärm, von der Stadt, von der Hitze, vom Staub und vom Verkehr. Zhang Xiangzhi hatte ein Taxi herbeigewunken, wir waren eingestiegen, während er dem Fahrer die Adresse eines Hotels nannte. Ich wußte weder, wohin es ging, noch, was eigentlich passieren sollte. Ich hatte auf der Hinterbank des Taxis Platz genommen, vorne gab Zhang Xiangzhi dem Fahrer Anweisungen, maßregelte ihn, pöbelte ihn regelrecht an (er hatte jedenfalls eine sehr vehemente Art, Chinesisch zu sprechen). Li Qi neben mir blieb ruhig, verstohlen betrachtete sie mich von Zeit zu Zeit voller Sanftmut und Wohlwollen, augenscheinlich versuchte sie nicht, die Gründe meiner plötzlichen Zurückhaltung ihr gegenüber zu erforschen, diese Distanz oder unsichtbare Barriere, die ich seit dem Anruf von Marie zwischen uns errichtet hatte. Die Küsse, die wir uns in dieser Nacht gegeben hatten, erschienen mir so fremd und fern, mir war nur noch die Erinnerung an eine unwirkliche, nebelhaft-entrückte Süße geblieben. Ich hatte ihr nichts vom Tod von Maries Vater erzählt, ich hatte keinem davon erzählt, unser Verhältnis war jetzt noch undurchsichtiger geworden, als es zu Beginn der Reise schon war. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, starren Blicks sah ich zu, wie vor dem Fenster die Straßen vorbeiflogen, wie wir Autos und Motorräder überholten, eine Flut von Zweirädern mit den abenteuerlichsten Anhängern, die Wunder was durch diesen Verkehr kutschierten, da wurden Kohlköpfe, Maiskolben, getrocknete Chilischoten, ein Haufen ausrangierter Computer durch die Straßen gefahren, in Käfigen zusammengepferchte Hühner, die gackernd hinter sich Strohhalme flattern ließen.
Im Hotel verlangte Zhang Xiangzhi sofort nach dem Direktor und verschwand mit ihm in dessen Privatbüro. Wir warteten in der großen, verglasten und unpersönlichen Hotelhalle neben einer menschenleeren Bar, in der zwischen den Tischen ein Angestellter staubsaugte. Das Hotel schien gerade renoviert zu werden, überall lagen Holzbretter, Balken, Gerüststangen herum. Eine winzige Boutique war geöffnet, in der es aber nichts zu kaufen gab, die Schränke waren leer, die Regale mit Planen bedeckt. Etwas weiter, in einer Ecke, führte eine Tür aus Rauchglas in ein leerstehendes Business center, wo voluminöse Tapetenrollen an den Wänden lagerten. Zerstreut studierte ich am Eingang angebrachte Touristenplakate, Tagesreisen zur Chinesischen Mauer wurden angeboten, nach Badaling oder nach Mutianyu, die Fotografien waren nicht sonderlich professionell, allem Anschein nach legte man weniger Wert auf die Schönheit des Reiseziels als auf den klimatisierten Komfort des Reisezugs. Zurück in der Halle, erklärte uns Zhang Xiangzhi, es sei ihm gelungen, beim Direktor einen guten Preis für die Zimmer auszuhandeln (ich antwortete nicht, ich ließ alles geschehen, schloß mich schweigend der Allgemeinheit an).
Der einzige Aufzug des Hotels war gerade außer Betrieb, die Kabine war im Erdgeschoß blockiert, die Tür stand weit offen, drinnen kniete ein Techniker in Shorts und mit einer Maske vor dem Gesicht und schweißte in einer knatternden Garbe blauer und weißer Funken eine Naht. Zhang Xiangzhi lief an dem blockierten Aufzug vorbei, öffnete eine schwere Brandschutztür, die zur Personaltreppe führte, und ging uns voran ins Treppenhaus, zündete sein Feuerzeug an, um uns im Dunkeln zu leuchten. Im dritten Stock kamen wir in einen langgezogenen Flur, der mit Malerutensilien vollgestellt war, Farbtöpfe, Eimer, Kanister, Kannen. Über eine Länge von zehn Metern war der Boden mit Plastikfolie bedeckt, um zu unseren Zimmern zu gelangen, mußten wir uns auf diesen lockeren, sanft wogenden Parcours begeben, unsere Füße versanken tief im Polyäthylen der Folie, die unter jedem Schritt knisterte. Wir liefen durch den menschenleeren Flur, Zimmer an Zimmer reihten sich aneinander, Türen waren ausgehängt oder es hatte nie welche gegeben, im Vorbeigehen warfen wir einen Blick durch die leeren Türrahmen in die Räume, sahen Gestalten junger Handwerker mit nacktem Oberkörper und Piratentuch auf dem Kopf, die mit Malerrollen Wände strichen und in den völlig kahlen Räumen, wo Gipspartikelchen in der schräg einfallenden Sonne tanzten, in voller Lautstärke Radio hörten. Auch die folgenden Zimmer waren noch nicht fertig, ein schönes Holzparkett mußte noch geschliffen werden, Wände waren gerade erst frisch verputzt, die Fenster zur Straße standen weit offen, es gab kein einziges Bett, kein Möbel, manchmal lag ein neues Waschbecken aus weißem Emaille mitten in einem Zimmer auf dem Boden und wartete darauf, montiert zu werden. Ich begann mich zu fragen, ob dieses Hotel nicht nur modernisiert, sondern ganz einfach neu gebaut wurde und man über uns oben auf dem Gerüst gerade an der Errichtung des Daches arbeitete (in diesem Fall wäre es nur zu verständlich gewesen, daß Zhang Xiangzhi beim Direktor einen guten Preis für unsere Zimmer herausschlagen konnte). Dann aber kamen wir zu einem vollständig renovierten Abschnitt des Flurs, neuer Teppichboden, an den Wänden blaßgelbe Tapeten, Zhang Xiangzhi hielt vor einer Tür, öffnete und ließ mich eintreten, teilte mir mit, daß dies mein Zimmer sei. Ich war kurz davor, endlich etwas zu sagen – daß ich zurück nach Europa müsse –, aber ich sagte nichts, blieb auf der Türschwelle stehen und schaute den beiden auf dem Flur nach, Li Qi drehte sich noch einmal um und schenkte mir einen flüchtigen Blick, nach einigen Metern hielten sie vor einer Tür auf der anderen Seite des Flurs. Zhang Xiangzhi steckte die Magnetkarte ins Schloß, und ich sah, wie beide das Zimmer betraten – und erst in diesem Augenblick kam mir zum erstenmal der Gedanke, der mich gleichgültig ließ, daß die beiden einmal ein Liebespaar gewesen sein könnten, daß sie es vielleicht sogar noch waren.
In meinem Zimmer erledigte ich sofort einige Telefonate, um meine Heimreise zu organisieren. Zuerst geriet ich an eine Telefonistin, die mich mit einem breiten, freudlosen »Ouais« begrüßte (in Wahrheit sagte sie »Wei«, »Hallo« auf chinesisch, was sich genauso lässig anhörte wie das abgegriffene, umgangssprachliche »Ouais« für das hochfranzösische »Oui«, ja). Nachdem ich mehrmals erfolglos versucht hatte, das Reisebüro, über das ich die Reise gebucht hatte, zu erreichen, rief ich die Air France-Niederlassung in Peking an, und es gelang mir, gegen Zahlung eines Aufpreises mein Ticket umzubuchen (ab jetzt war ich auf dem Flug AF 129 am nächsten Morgen gebucht). Erschöpft und mit leerem Kopf legte ich mich auf mein Bett und schlief auf der Stelle ein. Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen habe. Als ich erwachte, fiel breit die Sonne in mein Zimmer, es war schwül, ich schwitzte in meinen Kleidern, das Hemd klebte mir am Körper, ich hatte mich seit dem Vortag nicht mehr gewaschen, nicht einmal die Schuhe ausgezogen. Ich tastete mich ins Badezimmer, prüfte mein ausdrucksloses Gesicht im Spiegel, die Augenringe, die aufgequollenen Lider, meinen glanzlosen, verhangenen, noch ganz verschlafenen Blick, die Pupillen hatten eine dunkelgraue Farbe mit einem stumpfen, metallischen Schimmer, sie schwammen im fast milchigen, von einigen geplatzten Blutäderchen durchzogenen Weiß des Auges. Von Draußen drang undeutliches, von der Doppelverglasung des Fensters gedämpftes Stadtgemurmel herein, Motorengeräusche und diffuses Gehupe. Ich ging zum Fenster, die Scheiben waren schmutzig, voller Staub und Dreck, die sichtbaren Folgen der Umweltverschmutzung, die sich hier geradezu ins Glas gefressen hatte. Ich schaute auf die Straße hinunter, betrachtete den Pekinger Morgenverkehr, Autobusse im Stau, fremde und ferne Passanten, die sich eher im Wattenebel meiner Phantasie fortzubewegen schienen als tatsächlich auf den Straßen von Peking, wo sie sich befanden. Seit dieser Nacht, seit dem Anruf von Marie nahm ich die Welt wie unter einem permanenten Jetlag wahr, in einer leichten Verzerrung der Realität, einer Distanz, einer Verschiebung, einer winzigen, jedoch fundamentalen Unstimmigkeit zwischen der gleichwohl vertrauten Welt, die man vor Augen hat, und der entfernten, nebelhaften und abgehobenen Art, in der man sie wahrnimmt.
Ich hatte mich geduscht (und ein frisches Hemd angezogen, ich fühlte mich etwas besser), dann verließ ich mein Zimmer und klopfte an die Zimmertür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Es dauerte eine Weile, bis Zhang Xiangzhi mit mißtrauischem Blick, sein Telefon am Ohr, öffnete. Er ließ mich ohne ein Wort zu sagen eintreten, grüßte nur mit den Augen und machte mir Zeichen, auf dem Bett Platz zu nehmen. Das Zimmer glich im wesentlichen meinem, die gleichen Doppelbetten, die gleiche Tapete, die gleichen Wandleuchten und Tischlampen, nur herrschte hier bereits eine ziemliche Unordnung, überall lagen Kleidungsstücke herum, auf den Stuhllehnen, auf dem Fernsehapparat, eine Hose lag auf dem Boden, ein Stapel sauberer T-Shirts auf dem Schreibtisch neben einem Tablett mit benutzten Tassen und gebrauchten, schlaffen Teebeuteln, die in kleinen bräunlichen Teepfützen badeten. Aus dem Badezimmer drang das Geräusch fließenden Wassers (Li Qi mußte am Duschen sein, ich erkannte ihre Kleider wieder, die unordentlich neben ihrem geöffneten Koffer lagen). Ich hatte mich kaum aufs Bett gesetzt, als die Tür zum Badezimmer aufging und Li Qi in einem dampfenden Lichthof erschien, sie hatte ein kleines Handtuch um den Körper geschlungen, ein anderes, größeres, weites und flauschiges um den Kopf gewickelt. Lächelnd kam sie auf mich zu, der Duft von Shampoo umgab sie, sie zupfte das winzige Handtuch an ihrer Taille zurecht, um besser ihre Nacktheit zu bedecken (doch als sie es sich auf die Hüften schob, entblößten sich dafür ihre Brüste). Sie umschiffte einen Stuhl, auf dem Socken zum Trocknen lagen, und nahm einen kleinen Slip aus ihrem Koffer, ein paar Gramm blassen Stoffs, den sie in ihrer Hand zusammenknüllte, bevor sie wie der Wind wieder im Badezimmer verschwand.
Li Qi zog sich weiter an, kam noch ein paarmal nachdenklich zurück ins Zimmer, um sich eine Bürste aus ihrem Koffer zu holen oder sich vor dem Fenster die Haare zu föhnen. Zhang Xiangzhi hatte vorgeschlagen, in einem kleinen Restaurant unweit vom Hotel, das er kannte, etwas essen zu gehen, und wir wollten gerade das Zimmer verlassen, als ich im Spiegel mir gegenüber Zeuge einer irritierenden Szene wurde. Li Qi, die so gut wie fertig war, frisiert und mit geschminkten Augen, packte gerade einige Papiere in ihre Handtasche, als Zhang Xiangzhi sich ihr, wie ich sehen konnte, unauffällig längs des Bettes näherte, dem nassen und zerknautschten Haufen von Handtüchern auf dem Teppichboden ausweichend, um ihr den kartonierten Umschlag mit den fünfundzwanzigtausend Dollar zuzustecken, den ich ihm im Auftrag von Marie bei meiner Ankunft in Shanghai überreicht hatte. Ganz offensichtlich geschah es hinter meinem Rücken, nachdem er sich vergewissert hatte, daß ich nicht hinschaute, mit anderem beschäftigt war, und mich überkam ein merkwürdiges Unbehagen. Natürlich konnte es auch ein anderer Umschlag sein – aber daran zweifelte ich, hatte ich den Umschlag doch eindeutig wiedererkannt, die gleiche Farbe, das gleiche Format, die gleiche leichte Ausbuchtung des Kartons über den Scheinen –, und nichts bewies, daß sich die fünfundzwanzigtausend Dollar noch darin befanden. Er hätte ja das Geld bereits herausnehmen und irgendwelche anderen für Li Qi bestimmten Dokumente hineintun können. Aber wenn nicht, warum hatte er das Geld Li Qi gegeben, und wofür war es bestimmt?
Das Restaurant, in das uns Zhang Xiangzhi führte, nur wenige Straßen vom Hotel entfernt, im Herzen einer verkehrsreichen Durchgangsstraße, hatte nichts Chinesisches (es war chinesisch und mitnichten bemüht, das plakativ hervorzukehren). Die Wände weiß und schmucklos, keine Sachen, die herumhingen, keine Lackarbeiten oder Sänften, in dem weiträumigen Eßsaal, der sich über zwei Stockwerke erstreckte, standen einfach nur runde Tische. Am Eingang wurde Zhang Xiangzhi von einem jungen Typ in schwarzer Hose und weißem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln begrüßt, der uns zu einem der großen runden Tische auf der oberen Etage führte und dort Platz nehmen ließ. Ich hatte mich neben Li Qi gesetzt, mein Blick fiel auf ein großes Aquarium, das gerade entleert worden war. Die Fische, vorübergehend in eine Reihe von Plastikeimern umgesetzt, die auf einem der Nebentische standen, drehten in den gelben Behältnissen ihre Kreise und schlugen dabei mit leisen Flossenschlägen kleine Wellen. Durch die cremefarbenen Wände der Eimer hindurch konnte man sehen, wie sie ihre Bahnen zogen. Das Aquarium selbst war trockengelegt, innen lagen eingerollte Bewässerungsschläuche, es stand auf einer Art Truhe, die weit geöffnet war und den Blick auf eine Gasflasche und ein Gewirr verrosteter Rohre freigab, zwischen den Verschlingungen und Bögen der Rohre hockte in einer ziemlich verrenkten Haltung ein Mann, den Kopf zwischen den Schultern und die Arme tief in diesem Gewirr, quälte er sich damit, mit einem Schraubenzieher irgend etwas zu befestigen oder herauszureißen. Zhang Xiangzhi studierte die Karte und gab die Bestellung auf, während ich weiterhin zerstreut dem Typen unter dem Aquarium zuschaute, wie er ein paar Schrauben über seinem Kopf abschraubte, sicherheitshalber noch einen letzten Dreh ansetzte, schließlich die Klappe zum Aquarium vorsichtig mit beiden Händen hob, und schon tauchte sein Haupt im Aquarium auf, sorgenvoll und verdrossen (er schlug die Augen nieder, um mich zu grüßen, als sich unsere Blicke kreuzten).
Ich aß fast nichts, ich hatte keinen Hunger. Unschlüssig, lustlos pickte ich mit den Stäbchen winzige Stücke aus dem weißen Fleisch des Fisches und garnierte sie mit winzigen Portionen Reis, die ich nur mit Mühe hinunterbrachte. Ich beobachtete Li Qi, die mit gesundem Appetit aß und sich entspannt und unbefangen mit Zhang Xiangzhi auf chinesisch unterhielt, sie lächelte, hantierte sicher und geübt mit ihren Stäbchen. Die beiden waren derart in ihr Gespräch vertieft, daß sie mir so gut wie nichts mehr übersetzten. Li Qi hatte mich nur wissen lassen, daß sie heute den ganzen Tag beschäftigt sei, Zhang Xiangzhi mir Peking zeigen würde. Von Zeit zu Zeit, während sie sich weiter Tee nachschenkten, den Deckel umgekehrt auf die Teekanne legten als Zeichen, daß die Kanne leer sei und man nochmals heißes Wasser nachschenken möge, und ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen, drehten sie leicht das große runde Tablett in der Mitte des Tisches, um das eine oder andere Gericht in Reichweite ihrer Stäbchen zu bringen, um sich hier ein Häppchen Fisch und da ein Stück vom gewürzten Schweinefleisch zu nehmen, die sie kurz in ihre Schüsseln legten, bevor sie sie zum Munde führten. Ich betrachtete das runde Tablett, das sich vor meinen Augen hin- und herdrehte, und plötzlich ging mir auf, daß genau so, wie sich jedesmal meine Wahrnehmung des Tisches veränderte, wenn sie das Tablett drehten – wobei die Schalen unbeweglich auf ihrem Fundament blieben und ihr Verhältnis zueinander sich nicht veränderte –, sich auch gerade eine Veränderung darin abzeichnete, wie ich die seit dem Vortag eingetretene Beziehung zwischen uns drei sah, und daß zahlreiche Fragen, die mir bis dahin rätselhaft erschienen waren – insbesondere die Frage, warum uns Zhang Xiangzhi nach Peking begleitet hatte –, sich jetzt in einem neuen Licht beantworten, ja sich sogar auf die denkbar einfachste Weise vernünftig erklären ließen, je besser ich die Situation verstand – oder zu verstehen glaubte, denn vieles blieb mir doch weiter im Dunkeln. So verstand ich in diesem Augenblick, daß Zhang Xiangzhi uns nicht aus irgendeinem mutmaßlich boshaften oder machiavellistischen Grund nach Peking begleitet hatte, sondern einfach deswegen, weil ihn Li Qi gebeten hatte, mir Gesellschaft zu leisten und die Stadt zu zeigen, während sie selbst beschäftigt war (was ich als eine gewisse Unverfrorenheit, ja Inkonsequenz Li Qis verstanden hatte, war in Wahrheit freundliche Aufmerksamkeit). Und daß Zhang Xiangzhi ständig um mich war, seit wir Shanghai verlassen hatten, was mich zunächst mißtrauisch, um nicht zu sagen eifersüchtig gemacht hatte, in einer Art kleinlicher Beschränktheit, die mich in ihm lediglich einen Störenfried hatte sehen lassen, der meine Pläne durchkreuzte, mußte wohl ebenfalls Zeichen seiner Großzügigkeit und Zuvorkommenheit mir gegenüber sein. Und wie ich sie da mir gegenüber essen sah, ging mir plötzlich auf, daß jedesmal, wenn sie oder er das Tablett in der Mitte des Tisches drehte, um ein Gericht in die Nähe der eigenen Stäbchen zu bugsieren, tatsächlich eine neue Konfiguration im Raum geschaffen wurde, die in Wahrheit keine tatsächliche Veränderung der Realität mit sich brachte, sondern nur eine andere Facette ein und derselben Realität war. Und so streckte ich den Arm aus, um mich ebenfalls an diesem Spiel zu beteiligen, griff den Rand des Tabletts und drehte es langsam zwischen uns in der Tischmitte und fragte mich, welche neue Anordnung der Realität uns dadurch wohl geboten würde – denn vielleicht sollte ich ja noch weitere Überraschungen erleben.
Das Tablett hatte angehalten, und als ich vor mir auf dem Tisch die Gerichte in ihren verschiedenen Schalen betrachtete, die Schweinefleischbällchen mit Peperoni, die Nieren, den abgenagten Fisch, von dem nur noch die Gräten dalagen, die Entenzungen, in einem Rest bräunlicher Soße schwimmend, die als ganze aus der Tiefe der Entenkehle gerissen worden sein mußten und die vom Kehlkopf aus zunächst breiter und am Ende spitzer wurden, und sofort stieg Übelkeit in mir auf beim flüchtigen Gedanken, daß eine dieser kleinen, toten Entenzungen die Zunge Li Qis sein könnte – und dieses schreckliche Bild, das ich, kaum war es aufgetaucht, auch schon zu verjagen suchte, trübte und vergiftete mir die süße und zärtliche Erinnerung, die ich von der wirklichen Berührung mit Li Qis Zunge in meinem Mund von dieser Nacht im Zug bewahrt hatte, und diese immer noch so wundervolle Erinnerung wurde nun von einer anderen Empfindung überlagert, von Ekel, Abscheu und körperlichem Widerwillen, ein derart konkretes Gefühl, daß ich fast schmecken konnte, wie ich in dieser Nacht, gelenkig und lustvoll sich um meine eigene Zunge windend, eine dieser kleinen, spitz zulaufenden, rosabraunen, mit weißen rauhen Geschmackspapillen besetzten Entenzungen im Mund gehabt hatte.
Am Nachmittag zeigte mir Zhang Xiangzhi wie verabredet Peking. Er hatte ein Programm vorbereitet, auf dem der Besuch zweier Tempel stand, die er, meiner Meinung nach, weniger wegen ihrer historischen oder religiösen Bedeutung als vielmehr wegen ihrer praktischen geographischen Lage im Nordosten der Stadt ausgesucht hatte, denn sie befanden sich beide in auffallender Nähe zur Metrostation Yonghegong, an der er, wie ich erst später begriff, um siebzehn Uhr eine Verabredung hatte. Den ganzen Nachmittag führte er mich also in der Gluthitze durch malerische Straßen, deren hervorstechende Eigenschaft es war, daß sie in unmittelbarer Nachbarschaft der Metrostation Yonghegong lagen, in einem extrem eingeschränkten Radius von vielleicht vier Straßenblöcken, im Süden bis zur Dongzhimennei Dajie, im Norden bis zur Andingmendong Dajie (am weitesten entfernt bis zur Metrostation Anding Men, unserem nördlichsten Markierungspunkt, bevor wir kehrtmachten und wieder dieselbe Strecke in denselben schattigen Straßen zurückliefen). So durchstreiften wir diesen kleinen Quadratkilometer der Stadt, der durchaus seinen Reiz, wenn nicht sogar seine interessanten Seiten hatte. Schlechtgelaunt und mit den Händen in den Hosentaschen schlurfte er an meiner Seite durch die von hundertjährigen Zypressen gesäumten Straßen, ohne von seinem mürrischen Mißmut abzulassen. Im Grunde sagte er nichts, machte keine Kommentare, nur manchmal, wenn er sich gleichsam widerwillig seiner Rolle des schweigenden Cicerone entledigte, hob er den Arm in Richtung eines alten Holzportals, von dem die Farbe abblätterte, ließ es mich im Vorbeigehen bestaunen, und murmelte dabei in seinem armseligen Englisch, daß die Straße, auf der wir gerade gingen, eine der letzten Pekings sei, an der es noch vier solcher Portale gebe (ich nickte mit dem Kopf, und damit hatte es sich auch schon wieder mit seinen touristischen Erläuterungen). Neben dieser grundsätzlichen Bedrücktheit, die die Hitze dieses Nachmittags noch verzehnfachte, legte er eine ununterbrochene Freundlichkeit an den Tag und bedachte mich mit tausend kleinen stummen Aufmerksamkeiten. Seit de...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Inhalt
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Sommer
  6. Kapitel I
  7. Kapitel II
  8. Kapitel III