Welt aus Glas
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Welt aus Glas

  1. 608 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Jillian und Jacob Armacost betreiben die größte Galerie für Glaskunst New Yorks. Dabei sind sie ein denkbar ungleiches Paar: Während Jillian seit einem Kindheitserlebnis eine Passion für die Blütenlampen von Tiffany hat und mit Mitte Zwanzig bereits eine führende Expertin für Glas ist, treibt der fast dreißig Jahre ältere Frauenheld Jacob die Galerie mit einem absurden Kauf um ein Haar in den Ruin.Jillian trifft eine Entscheidung: Sie wird sich von Jacob trennen. Zuvor aber muss sie die Zukunft der Galerie sichern. Eine äußerst wertvolle Sammlung von Glasvasen in Italien erscheint als die letzte Rettung; ohne einen Moment zu zögern, reist sie nach Europa. Jacob, der nichts von ihren Plänen ahnt, ist unterdessen mit einer Kundin aus den besten Kreisen New Yorks an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze unterwegs, um auf seine Weise wieder an Geld zu kommen. Zur gleichen Zeit, als Jillian in Mailand und Venedig ihren größten Coup landet, wird Jacob in Mexiko entführt.Jillian und Jacob haben ihre Schicksale dem Glas anvertraut. Jillian spekuliert auf die Ewigkeit, Jacob auf ein intensives Jetzt. Durchsichtig und doch unnahbar, lebendig und doch unbewegt ist die Welt aus Glas. Sie bedeutet viel Geld für den, der erkennt, was er sieht. Doch besitzt der einzelne Mensch in einer Welt aus Glas noch eine Seele? Wilde Verfolgungsjagden durch die Straßen von Tijuana und erotische Eskapaden in San Diego und Venedig treiben die Handlung voran. Im neuen großen Roman von Ernst-Wilhelm Händler ergänzen sich "action" und "reflection" auf außerordentliche und spannende Weise.

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Information

Venedig sehen
Seit ihrer Zeit auf der High school war Jillian jedes Jahr in Venedig gewesen. Erst mit Jacob, dann allein. Wie immer hatte sie Quartier im Hotel Des Bains auf dem Lido gemacht, wie immer erwartete sie ein Hoteldiener am Bahnsteig, um ihr Gepäck in Empfang zu nehmen.
Im Zug hatte sie die Überweisung der eineinhalb Millionen Dollar für van Bronckhorst fertiggemacht, den ersten Teil des Kaufpreises für die beiden Etagen der Spring Street. Gegen die Tageshelle verteidigte sich Jillian mit einem Sweatshirt, das lange weite Ärmel und eine große Kapuze hatte. Nachdem sie die ausgefüllte Überweisung verstaut hatte, schlief sie.
Vom Bahnsteig begab sie sich in den Wartesaal, wo sie bis zum Sonnenuntergang las. Den Umschlag mit der Überweisung hatte sie dem Hoteldiener mitgegeben, er sollte per Luftpost an die Citibank geschickt werden.
In der Abenddämmerung wirkten jede Calle, jeder Corte, jeder Campo, jeder Kanal, jede Uferbefestigung, jede Brücke wie für sie komponiert und hießen Jillians Blick mit einer beruhigenden Ordnung und Stille willkommen. Kein Szenario, das nicht schon in ihrem Gedächtnisspeicher vorhanden gewesen wäre.
Aber je tiefer Jillian in die Stadt eindrang, desto mehr traten die Nähte zwischen den ineinandergefügten Oberflächen hervor. Jacob zitierte gern den deutschen Literaten Walter Benjamín: Leben heiße, Spuren zu hinterlassen. Die Menschen, die ihr in den engen Gassen, auf den Plätzen, auf den Brücken und auf den Kanalufern begegneten, vermochten es nicht, die Stadt zu berühren. Sie waren nicht dazu imstande, Spuren zu hinterlassen. Venedig kultivierte die Unheimlichkeit, die in der Frage lag, ob es nur diese Menschen, Jillian eingeschlossen, waren, die es nicht fertigbrachten, die Stadt zu berühren, oder ob Venedig prinzipiell unberührbar war.
Was zunächst eine Welt von solider Struktur zu sein schien, stellte sich als Bricolage heraus. Je mehr Perspektiven sich abwechselten, desto deutlicher wurden die handwerklichen Mängel der Verbindungen zwischen den Oberflächen: Schnittspuren, die zu scharfen Grenzen der Gegenstände. Ausgefranste Ränder. Instabilität. Nur Spuren von Leben hätten die Oberflächen verbinden können.
Die Gedämpftheit der einzelnen Szenarien rief grundsätzlich den Eindruck von Verborgenheit oder Abwesenheit hervor. Sie verlangten, in der Hoffnung studiert zu werden, daß der Betrachter Details ausmachen konnte, die ihnen Bedeutung sicherten, während zugleich ihr Bild vor seinen Augen verschwand.
Jillian mußte an eine Skulptur denken, die sie einmal in einem Museum in Los Angeles gesehen hatte: die Kunststoff-Nachbildung eines verunglückten Autos, eines 1991er Pontiac Grand Am. Das Fiberglas war grau gespritzt gewesen.
Immer beschworen die Oberflächen das Dahinter, das unbekannte andere. Ein Keil wurde zwischen den sichtbaren Inhalt und seine Bedeutung getrieben. Zugleich wiesen sie auf die Existenz einer Leerstelle in der Erfahrung hin, die das – stabilisierende oder destabilisierende? – Eindringen der Phantasie nicht nur ermöglichte, sondern geradezu erzwang. Auf diese Weise erzeugten sie eine machtvolle Erinnerung daran, daß jede Betrachtung ein Lesen erforderte, weil nur der überhaupt einen Zugang zu ihrer Bedeutung erlangen konnte, der immer auch über das hinaussah, was im Bild war.
Gleich zu Beginn war Jillian von der durch zahlreiche Schilder gekennzeichneten Route abgewichen, die über den Ponte Rialto zur Piazza San Marco führte. Bestrebt, möglichst kleine Gassen zu nehmen, durchquerte sie Santa Croce und San Paolo in ausgreifenden Zickzacklinien.
Die Glassammlung, so stellte sich Jillian vor, wäre in einem Palazzo wie dem untergebracht, den die Damen Bordereau aus Henry James’ Aspern Papers bewohnten. Ein grau- und rosafarben angestrichenes Gebäude, nicht älter als drei oder vier Jahrhunderte, an einem kleinen Kanal, der auf beiden Seiten von schmalen Fußwegen gesäumt war. Pilaster und Bogen verzierten den steinernen Balkon, der sich über die ganze Länge der Fassade vor dem Piano nobile erstreckte. Neben dem Palazzo umschloß eine hohe Mauer, über und über mit Flickstellen bedeckt, mit ausgewässerten Rissen, abbröckelndem Putz und hervorstehenden Backsteinen, einen verwilderten Garten, aus dem kümmerliche Bäume und kahle Spaliere über den Mauerrand hinausragten.
Jillian stieß nur auf einen Kanal mit Fußwegen auf beiden Seiten, der Kanal war vergleichsweise breit und die Fußwege lärmig begangen. Der Palazzo der Damen Bordereau befand sich in einem Quartier perdu, damit war sicherlich nicht Santa Croce, San Paolo oder San Marco gemeint, sondern Cannaregio, Dorsoduro oder Castello.
Leid und Lust. Freude und Schmerz. Das schienen Jillian Worte, die nicht für sie gemacht waren. Wenn andere Menschen sich freuten oder litten, und wenn sie auch noch die entsprechenden Worte benutzten, dann taten sie in Jillians Augen nichts anderes, als sich selbst zu stilisieren, um den Unterschied zu betonen, den sie in der Welt machten. Das galt auch, wenn jemand Schmerzen hatte. Jillian weigerte sich nicht nur, Schmerzen zu zeigen, sie weigerte sich, Schmerzen zu haben. Jillian war sicher, daß sie, daß ihre Existenz einen Unterschied in der Welt machte, daß die Welt ohne sie anders aussehen würde. Aber es bestand keine Notwendigkeit, dauernd darauf hinzuweisen.
Wenn Jillian ihr Leben insgesamt betrachtete, überwog da die Zufriedenheit oder die Unzufriedenheit? Vor dem Erhalt der Bestätigung, daß Benford den zweiten Teil des Kaufpreises überwiesen hatte, hätte sie ein Mehr an Unzufriedenheit, danach ein Mehr an Zufriedenheit behauptet. Jillian empfand sich in ihren Gefühlen nicht als schwankend, und sie war es nicht. Es lag nicht an ihr, sondern an der Frage: Denn die setzte voraus, daß man Zufriedenheit und Unzufriedenheit wie qualitativ gleiche Größen, jedoch mit entgegengesetzten Vorzeichen unmittelbar gegeneinander aufrechnen konnte. Aber das funktionierte nicht. Kein Ausmaß an Unzufriedenheit, mit was auch immer, wie groß auch immer, konnte angeben, wie groß ein Ausmaß an Zufriedenheit sein mußte, um es aufzuwiegen. Die E-mail der Bank mit der Bestätigung von Benfords Zahlung bewies nicht das Gegenteil. Es war nicht möglich, die Zufriedenheiten und die Unzufriedenheiten aus dem Lebensstrom herauszureißen und sie daneben auf dem Ufer einander gegenüberzustellen. Andere Menschen hatten eine Vorstellung davon, wie Glück und Unglück auf die Menschen verteilt waren, wieviel Unzufriedenheit ein Mensch im Durchschnitt oder ein Durchschnittsmensch hinnehmen mußte, um wieviel Zufriedenheit damit zu erkaufen, und wieviel Zufriedenheit und Unzufriedenheit das typische Menschenleben aufwies. Andere benutzten ihre Vorstellung des Durchschnitts, um sich selbst einzuordnen. Jillian besaß keine Vorstellung eines Durchschnitts, und sie hatte nicht das Bedürfnis, sich in bezug auf andere Menschen einzuordnen. Für Jillian war es das gleiche, ob sie der zufriedenste oder der unzufriedenste Mensch, der glücklichste oder der unglücklichste Mensch der Welt war. Das war genauso wichtig oder unwichtig wie die Frage, ob jemand blaue oder braune Augen hatte.
Die Menschen standen zueinander in Beziehung, waren aufeinander angewiesen, ob sie es wollten oder nicht. Die Zufriedenheit oder die Unzufriedenheit des einen war an die Zufriedenheit oder die Unzufriedenheit des anderen gebunden. Wer sich von dieser Bedingtheit befreien wollte, machte sich unfehlbar eine von zwei sehr gegensätzlichen Illusionen: Entweder meinte er, von den Menschen überhaupt nichts zu begehren, oder er glaubte, nur solche Wünsche zu haben, die ihm die Menschen jederzeit erfüllten, weil es sie nichts kostete.
Es gab niemanden, der über allen Menschen stand, genauso wie es niemanden gab, der unter allen Menschen stand. Deswegen liebte Jillian das Geld: Es war Werkzeug des ewigen, unrettbaren und unhintergehbaren Aufeinander-angewiesen-Seins der Menschen, aber zugleich machte es dieses Aufeinander-angewiesen-Sein völlig durchsichtig. Jillian verstand nicht, wie sich jemand darüber beklagen konnte, daß das Geld alle menschlichen Beziehungen bestimme und sie geldförmig mache. Das Gegenteil war der Fall. Die Beziehungen der Menschen regierten die Welt. Sie bestimmten die geldmäßigen Verflechtungen, sie machten das Geld menschenförmig. Sicher hatte das Geld einmal gleichberechtigt neben den Dingen gestanden. Aber je abstrakter das Geld und seine Erscheinungsformen wurden, je formbarer es sich in seinem Begriff darstellte, desto wirksamer konnte es die Vielfalt der menschlichen Beziehungen fördern, desto besser konnte es deren Vielfalt darstellen.
In dem Gedanken, daß das Geld eine Parallelwelt zu den Menschen und zu den Dingen bildete, fand Jillian etwas immens Tröstliches. Das Geld war eine Sphäre, in der alle Dinge und alle Menschen gedoppelt waren und in der sich alle tatsächlichen und denkbaren Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen als sich ständig verändernde Wertverhältnisse darstellten. Das Geld war die reine Form für die Menschen und die Dinge. Diese reine Form war viel übersichtlicher als die ursprüngliche Welt, und in mehr als einer Hinsicht konnte Jillian sich leichter in dieser Welt bewegen als in der ursprünglichen.
Aquarellzeichnungen verblaßten, Bleistift- und Tuschezeichnungen vergilbten, Ölbilder krakelierten. Holzplastiken zersprangen, Metallplastiken nahmen Patina an, Silber lief an. Nur Edelsteine und Gold blieben, was sie waren. Aber wer konnte mit Edelsteinen und Gold etwas ausdrücken. Die Glasobjekte, sofern sie nicht in Gebrauch waren und Abnutzungsspuren annahmen, sofern sie nicht mutwillig oder versehentlich zerstört wurden, veränderten sich nicht. Genau wie das Geld nutzten sie sich nicht durch den Gebrauch ab, der ihrem Wesen entsprach.
Es war für Jillian unvorstellbar, sich mit anderen Objekten als mit Gläsern zu beschäftigen. Genauso undenkbar war es für sie jedoch, mit den Gläsern in einer Weise umzugehen, bei der das Geld keine wesentliche Rolle spielte. Das Cornington Museum of Glass hatte ihr eine Stelle als Kuratorin angeboten. Sie verwandte sehr viel Zeit auf die Kataloge ihrer Galerie, die Museumskatalogen und anderen wissenschaftlichen Publikationen in nichts nachstanden. Aber lieber wäre sie gestorben, als eine Kuratorenstelle anzunehmen. In dem Moment, in dem ein Museum ein Objekt erwarb, entzog es dieses endgültig und unwiderruflich – das Museum verkaufte niemals etwas aus seinen Beständen – der Sphäre des Vergleichens und Bewertens und damit in Jillians Augen dem Leben. Jillian war keine Sammlerin. Niemals hatte sie den Impuls, bestimmte Stücke möglichst lange zu behalten, sie nicht herzugeben.
Es gefiel Jillian, wie sich in der Summe, die der Kunde für das Glas bezahlte, alle Werte verdichteten, die das Glas verkörperte. Der Entwurf durch den Künstler, die Karriere des Modells in der Manufaktur, die Herstellung des Stücks durch einen bekannten Glasmeister, die Seltenheit des Stücks, der Grad seines Gelingens, die Einmaligkeit des Stücks, wie ähnlich waren die ähnlichsten Stücke, in welchen Sammlungen kam das Modell vor, in welchen Sammlungen kamen welche vergleichbaren Einzelstücke vor. Jedes Glas wirkte auf so vielfältige Weise in Raum und Zeit, allen diesen räumlich und zeitlich auseinanderliegenden Wirkungen entsprachen Werte, alle diese Werte konzentrierten sich im Preis, den der Kunde für das Glas bezahlte.
Das Gesetz von Jillians Leben bestand darin, daß sie das Glas und das Geld liebte und daß niemand, der mit ihr zu tun hatte, das eine ohne das andere haben konnte.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Nicht weil sie beabsichtigte, die vereinbarten Summen nicht vollständig zu zahlen. Jillian hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Glas. Das Ziel, die Spring Street in reduzierter Form zu erhalten, schien ihr bis zu einem gewissen Grad ein Verrat am Glas. Glas und Geld, die beiden Dinge waren in ihrem Leben immer gleichberechtigt gewesen. Jetzt gab es eine Reihenfolge: zuerst das Geld, dann das Glas. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf eine fürchterliche Weise abhängig vom Geld.
In der Zwischenzeit hatte Jillian den Canal Grande bei San Tomà erreicht, sie wartete auf das Vaporetto und überlegte, ob sie mit der Linea 82 zu San Samuele auf die andere Seite übersetzen oder ob sie die Linea 1 nehmen und auf dem Canal Grande unter dem Ponte dell’Accademia bis zur Piazza San Marco oder gleich bis zum Hotel Danieli weiterfahren sollte.
Nacheinander glitten ein Vaporetto der Linea 3 und eins der Linea 4 an San Toma vorbei. Das Boot der Linea 3 kam von der Haltestelle vor dem Bahnhof, dasjenige der Linea 4 von der Haltestelle am Ponte Rialto, beide Boote legten als nächstes bei San Samuele, bei der Accademia und vor San Marco an, dort kehrten sie um und fuhren durch den Canale della Giudecca zurück.
Schließlich legte ein Boot der Linea 82 und dann eins der Linea 1 an, Jillian rührte sich nicht von der Stelle. Sie ließ ihren Blick bis zum Ponte Rialto gleiten. Es bereitete ihr nur geringe Mühe, die Menschen in den Gondeln, in den Vaporetti, in den Motorbooten und auf der Uferpromenade und der Brücke gar nicht mehr zu sehen. Sie stellte sich vor, die Flaschen in den Restaurants, in den Bars, in den Geschäften und Kiosken um den Ponte Rialto hätten keine Etiketten. Die Keksschachteln mit den bunten Abbildungen in den Bars und Geschäften waren nicht beschriftet. Die Bücher in den Wohnungen auf der anderen Seite des Canal Grande hatten keine Schutzumschläge, auf den Buchrücken waren keine Titel eingeprägt oder aufgeklebt. Die roten Telefone in den Plexiglashauben neben dem Ponte Rialto waren nur in Metall gegossene Nachbildungen. Alle Lichtschalter in den Gebäuden zu beiden Seiten des Canal Grande waren Attrappen, die Lichter brannten immer oder nie.
Venedig konnte seine Geschichte nicht aus den Geschichtsbüchern tilgen. Das beabsichtigte die Stadt auch gar nicht. Aber sie war entschlossen, nicht mehr Schauplatz von etwas Bedeutendem zu sein. Die Stadt unternahm alles, damit sich das Bild, das sich der Besucher von ihr machte, nicht mit den Absichten deckte, die er gehabt hatte, als er bewußt oder unbewußt begonnen hatte, sich das Bild zu machen. Diese Differenz führte der Stadt die Energie zu, die sie brauchte, um weiterzuleben. Dafür nahm sie auch in Kauf, daß die Leute ständig nach Indizien vergangener Größe suchten. Keine andere Stadt der Welt ließ den Besucher so tief, so detailliert in die Zukunft blicken: in eine völlig leere, ereignislose Zukunft.
Jillian konnte sich nicht entscheiden, also entschied sie sich, das nächste Vaporetto zu nehmen, das bei San Tomà anlegte. Es war eins der Linea 82, das sie zu San Samuele hinüberbrachte.
Durch die Calle delle Carozze und die Calle Tedeschi gelangte sie in die Calle degli Zotti und, ohne daß sie es im geringsten beabsichtigt hätte, zur Galerie von Marina Barovier.
Um diese Zeit hätte das Geschäft längst geschlossen sein müssen, die massiven Metalljalousien vor der Eingangstür hätten heruntergelassen sein und die Schaufenster im Dunkeln liegen müssen. Aber die Eingangstür stand offen, die vergitterten Schaufenster waren gleißend hell beleuchtet, und aus dem Inneren der Galerie drang das Geräusch lauter Gespräche.
Jetzt konnte sich Jillian erinnern, kurz vor ihrem Abflug nach Europa eine Einladung zu einer Vernissage erhalten zu haben. Sie wußte jedoch nicht mehr, um welche Show es sich handelte.
Ihrer Kollegin wollte Jillian nicht begegnen. Sie mußte vermeiden, andere auf die Sammlung aufmerksam zu machen, auf deren Spur Bova sie gebracht hatte.
Während sie überlegte, wie sie sich dem Geschäft nähern konnte, um etwas zu sehen, ohne gesehen zu werden, bog ein Mann in einem blauen Anzug mit einem schimmernden Metallaktenkoffer in die Gasse mit der Galerie ein. Hastig und ruckhaft gehend, blickte er sich ständig nach allen Seiten und auch nach hinten um. Die Schritte seiner massiven schwarzen Lederschuhe hallten in der Gasse, der Aktenkoffer in seiner Hand war ständig in Bewegung, der Ausschnitt des weißen Hemds mit der roten Krawatte unter der lichtschwachen nächtlichen Beleuchtung der Gasse ein tanzender Lichtpunkt.
Jillian stand im Eingang eines anderen Geschäfts, das nicht durch Außenjalousien, sondern durch Gitter hinter den Schaufenstern im Inneren des Geschäfts gesichert war. Als der Mann Jillian sah, zuckte er zusammen und ging noch schneller. Nicht älter als vierzig Jahre, hatte er zentimeterkurzes rötliches Haar und einen rötlichen Bart. Es war ihm nicht möglich stillzuhalten. Während er die Objekte in den Schaufenstern der Galerie betrachtete, ging sein Arm mit dem Aktenkoffer ständig vor und zurück. Nachdem er länger vor den Schaufenstern verweilt hatte, als man es ihm zugetraut hätte, rannte er fast in die Galerie hinein.
Vorsichtig trat Jillian auf die Gasse hinaus und wollte sich an der Häuserzeile zu der Galerie hinschleichen, aber sie mußte erneut innehalten.
Aus der gleichen Richtung wie vorher der Mann mit dem Aktenkoffer kam jetzt eine Frau auf die Galerie zu. So hastig der Mann ausgeschritten war, so langsam bewegte sich die Frau. Sie ging nicht, sie schlurfte. Nicht nach rechts und nicht nach links blickend, fixierte sie unverwandt die beleuchteten Schaufenster der Galerie. Sie trug ein wohl dunkelblaues langärmliges Kleid, das über den Knien endete, sie hatte kräftige Waden und große Füße. Ihre halblangen blonden Haare wirkten unfrisiert und ungewaschen. Es war Jillian nicht möglich, ihr Alter zu bestimmen. Das Gesicht mit der großen Nase und dem breiten Mund wies tiefe Furchen auf. Ihre Augen glänzten gelb und grün.
Die Frau mußte Jillian gesehen haben, aber sie nahm nicht die geringste Notiz von ihr. Als die Frau an ihr vorbeiging, konnte Jillian an ihrem Hals eine Perlenkette mit sehr großen Perlen erkennen. Wie vorher der Mann ging die Frau zunächst auf die Schaufenster der Galerie zu. Es genügte ihr jedoch, die ausgestellten Stücke von weitem zu erfassen. Weder beschleunigte sie ihren Schritt, noch verlangsamte sie ihn, als sie in die Tür der Galerie trat.
Jillian war stehengeblieben, solange sich die Frau auf der Straße befunden hatte, jetzt würde sie sich nicht mehr abhalten lassen, die Schaufenster in Augenschein zu nehmen, weder durch ankommende Besucher noch durch solche, di...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Ernst-Wilhelm Händler in der Frankfurter Verlagsanstalt
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Auf der Flucht
  7. Eine Flora im Dunkeln
  8. Die Falle Tijuana
  9. Shopping in Milano
  10. Polizeikontrolle
  11. Sales Whiz
  12. Mögliches Ende
  13. Die Vermessung der Welt
  14. Trailer Trash
  15. Die Unsichtbare I
  16. Jacob, in der Sonne
  17. Chuy
  18. Shotgun Wedding
  19. Test
  20. Leave
  21. Das Geld und die Wahrheit
  22. Huitzilopochtli
  23. Flunky
  24. Die Kunst als Erlösung
  25. »Hast du jemals richtig geliebt?«
  26. Venedig sehen
  27. Bilanz
  28. Die italienische Schauspielerin
  29. Das Sommerkleid
  30. The Assignation
  31. El Cártel
  32. Fünftausend Lire für ein Lächeln
  33. Was ist die Seele?
  34. Die Unsichtbare II
  35. Libertad
  36. Golgatha
  37. The Constitution of Liberty
  38. Vergangen, vergessen, vorüber
  39. Im Körper der anderen
  40. Die Hochzeitsplanerin
  41. Auf der Empore
  42. Crucifixus Etiam
  43. Wetterleuchten
  44. iNO VAYA UD!
  45. Die andere Seite des Himmels
  46. A Higher Echelon