Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor
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Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor

Erzählung

  1. 160 Seiten
  2. German
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Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor

Erzählung

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Über dieses Buch

Gustav Julius Kaufmann will "das Weite suchen", als er am Tag seines 32. Geburtstages Stadt und Arbeitsplatz einfach hinter sich lässt, um sich hinter Glattbrugg, Rümlang, Oberglatt, Niederhasli, Dielsdorf, Ober- und Niederweningen in die Büsche zu schlagen, immer Richtung Westen.Auf nach Maliaño! Nach Maliaño und zu Ida Nordpol Zeppelin, deren Stimme er bereits aus dem Weltempfänger kennt, wo sie verkündet hat: "Das ist eine meteorologische Sensation. Ich sehe es auch auf dem Radarbild ganz deutlich. Das sind die Vorläufer eines Hochdruckgebiets, und das Hochdruckgebiet kommt von Osten. Es sieht beständig aus und ist eigentlich gar nicht möglich. Ich nenne es Gustav."Mit traumwandlerischer Sicherheit wird Gustav sein Maliaño erreichen und dort vielleicht erfahren, was ihm eigentlich bestimmt ist: eine wundersame wetterbedingte Liebes-geschichte. Die Neuauflage der seit einiger Zeit vergriffenen Preziose Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor soll Gelegenheit bieten, diese wunderbar poetische Erzählung (wieder) zu entdecken.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783990390474
III
Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin liebten sich ein Kilogramm Salz lang.
(Eigentlich würde dieser eine Satz ja reichen, und mit diesem Satz wäre auch die Würde von Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin gewahrt, denn Liebende brauchen nicht zu lesen, was in Klammern steht. Und sie brauchen auch nicht zu wissen, wie lang ein Kilogramm Salz ist und ach wie viel zu viele Methoden es gibt, Salz zu verbrauchen, und dass es letztlich an dem Mann lag, der aus dem Salzwasser kam und quasi gar nicht anders konnte. Wir werden sehen.
Gustav saß also auf der Bank, schaute um sich und sah Häuser, durchaus ein paar Dutzend, Bäume dazwischen, Eichen die meisten, den Kirchturm, romanisch wahrscheinlich, beleibt, rundlich, aber nicht protzig, irgendwie karg, mit Sicherheit alt und auch von hier aus nicht zu übersehen. Dann erhob sich Gustav Julius Kaufmann, ließ die Zahnseide liegen und ging direkt auf das Haus von Ida Nordpol Zeppelin zu. Von Weitem sah er die Antenne, das Haus stand abseits und erhöht, am nördlichen Dorfrand. Gustav näherte sich jetzt also von unten dem Haus, und Ida Nordpol Zeppelin sah ihn nicht, denn es war schon Nachmittag, und sie schaute zum Fenster hinaus Richtung Osten. Ein Junge schob eine Seifenkiste über die Straße und machte dazu Motorengeräusche. Gustav nickte ihm zu. Ein Mädchen stand im Garten neben dem Haus und schaute ihn mit großen Augen an. Gustav blieb am Gartentor stehen. Das Mädchen ließ die Hacke fallen und lief ins Haus, über den Plattenweg, immer eine Platte überspringend. Da unterbrach Ida Nordpol Zeppelin zum ersten Mal seit sieben Jahren ihre Wettersendung, stand auf, stieg die Treppe hinunter, fuhr sich mit der Hand, während sie die Treppe hinunterstieg, noch einmal durch die frisch frisierten Haare, strich ihr Kleid glatt und stand dann in der Haustür. Gustav stand vor dem Gartentor. Dazwischen lag der Plattenweg. Die Anzahl der Platten war ungerade. Sie mussten also, wenn sie beide gleichzeitig losgingen und gleich schnell gingen, entweder eine Platte zwischen sich lassen oder aber auf ein und derselben Platte, ganz nah beieinander, stehen bleiben. Und genau das taten sie. Und aus diesem Grund sah Gustav Julius Kaufmann das Gesicht von Ida Nordpol Zeppelin nicht so genau, denn er sah es von ganz nah und verschwommen und ein wenig wie eine Spiegelung auf der gewölbten Seite eines Löffels. Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe. Ida Nordpol Zeppelin ließ ihren Kopf leicht zur Seite kippen. Nein, nicht zum Küssen. Sie sagte zu Dora Nordpol, sie solle ein wenig mit Emil Nordpol spielen gehen auf der Straße. Dora Nordpol nickte und lief davon. Dann ließ Ida Nordpol Zeppelin ihren Kopf auf die andere Seite kippen, und dann küssten sie sich. Ich blicke, Klammer hin oder her, dezent weg, spule ein wenig vor und halte lediglich fest: Die erste Nacht von Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin in Maliaño war eine sogenannte tropische Nacht. Das heißt, die Temperatur fiel in jener Nacht nie unter zwanzig Grad Celsius. Auch die Nacht darauf war eine tropische Nacht und die Nacht darauf auch und kurz und gut: Ida Nordpol Zeppelin hatte es gewusst. Nicht nur hatte sie sich frisieren lassen und ihr Sonntagskleid angezogen, bevor Gustav Julius Kaufmann kam. Sie hatte außerdem ein Endlosband eingelegt mit den Worten „Das Hochdruckgebiet Gustav ist da. Es kam von Osten. Es bringt uns heiße Tage und sieben tropische Nächte. Lassen Sie nachts die Fenster offen. Ziehen Sie so wenig wie möglich an. Trinken Sie viel. Machen Sie Liebe.“
Als Neuenschwander, der von Zeit zu Zeit bei Kaufmann zu Hause anrief, meist nach Büroschluss, wenn Frau Lenherr schon weg war, das hörte, legte er sofort auf, löste den Krawattenknopf ein wenig und rief gleich noch einmal an. Dann schielte er zur Tür hinaus, ob Frau Lenherr nicht vielleicht doch noch da wäre. Er hätte sie glatt zum Essen eingeladen oder mindestens auf einen Drink, sicher aber hätte er eine aufmunternde Bemerkung gemacht oder sie einfach gefragt, wie es ihr denn eigentlich so gefalle an ihrem Arbeitsplatz, und dann hätte er gelächelt. Sie war schon gegangen. Neuenschwander legte auf, rückte die Krawatte zurecht und nahm einen großen Schluck Mineralwasser.
Hinter dem Mischpult, unter der Dachschräge, lag ein großer quadratischer hellbeiger Futon, auf drei rechteckigen dunkelbeigen Tatamis. Es roch nach Sonne und trockenem Schilfgras. Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin ließen sich auf den Futon sinken und verhielten sich im Folgenden ganz gemäß den Anweisungen auf dem Endlosband.
Ein Futon ist übrigens eine Art japanische Matratze, bestehend aus Schichten von Schurwolle, Baumwolle, Rosshaar, Kokosfasern und Naturlatex, und auf die Tatami, zu Deutsch ganz einfach Matte, legt man den Futon. Eine Tatami ist aus gepresstem Reisstroh gemacht, fünfeinhalb Zentimeter dick, mit einem Schilfgrasgeflecht abgedeckt und mit einem schwarzen Leinenband eingefasst, und sollte nie mit Schuhen betreten werden. Das alles wusste Gustav ganz genau.
Und das kam so und ist mir bei der Rückblende entgangen und kann jetzt getrost erzählt werden, während Gustav und Ida den Anweisungen auf dem Endlosband folgen: Eine Woche nach Gustav Julius Kaufmanns Geburt hielt ein Kleinlastwagen von United Parcel Service vor dem roten Häuschen im Dorf am Fuß des Berges mit dem Loch drin, und ein Mann in einem braunen Overall ließ ein riesenhaftes Paket auf dem Gehsteig liegen. In dem Paket waren ein zweimal zwei Meter großer hellbeiger Futon und drei rechteckige dunkelbeige Tatamis. Als Paula Kaufmann die Quittung unterschrieb und den Mann im Overall fragte, wer denn der Absender sei, blätterte er in seinem Ordner, drückte Paula einen Lieferschein in die Hand und sagte: „Linda und August Oldendorff, Osaka.“ Dann stieg er in den Kleinlaster und fuhr weg.
Das war Ende Juni 1970, und damals gab es noch kein Internet, sonst hätte Paula Kaufmann einfach die Dame von der Suchmaschine fragen können, wer Linda und August Oldendorff seien, die hätte einen Sekundenbruchteil überlegt und dann listenweise und verlinkt ausgespuckt, dass Linda und August Oldendorff Containerschiffe sind und dass Rick Henry mit August Oldendorff unterwegs war von Japan nach Australien mit einer Ladung Futons und Tatamis und dass Osaka übrigens die Partnerstadt von Hamburg ist und also auch quasi entfernt herum verwandt mit den Oldendorffs aus Flensburg und dass Rick Henry dem Händler noch während des Einladens im Hafen von Osaka mit einem halben Monatssold einen Futon und drei Tatamis abgekauft und der Kran sich daraufhin einmal gedreht und das Paket auf die Linda Oldendorff geladen hat, und von dort ist es dann wie in einem Werbespot für den United Parcel Service auf direktem Wasser- und Landweg um die halbe Welt ins Dorf am Fuß des Berges mit dem Loch drin gekommen. Aber eben. Da stand Paula Kaufmann nun, ahnte zwar, wusste aber nicht und weinte ein wenig. Denn um auch nur ein einziges Wort dazuzuschreiben, hatte Rick Henry im Hafen von Osaka die Zeit, vor allem aber der Mut gefehlt. Paula befestigte den Lieferschein mit einem Magnet am Kühlschrank, und Gustav Julius Kaufmann verbrachte von da an seine Kindheit auf drei Tatamis und einem Futon. In Japan übrigens misst man die Fläche eines Zimmers in Tatamis und nicht in Quadratmetern. Eine Tatami misst neunzig mal hundertachtzig Zentimeter. Gustavs Weltraum maß drei Tatamis. Und glaubt man Paula Kaufmann, so war Tatami Gustavs erstes gesprochenes Wort, wobei ich das ehrlich gesagt für eine mütterlich forcierte Interpretation von kleinkindlichen Urlauten halte. Futon, das glaube ich ihr hingegen sofort, war sein erstes gelesenes Wort, es stand in Großbuchstaben auf dem Etikett am Rand seines Weltraumes.
Obwohl sie viel Wasser tranken und nachts die Fenster offen ließen, waren Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin klebrig. Ihre Haut klebte. Sie blieben regelrecht aneinander kleben. Und Tatsache ist, dass Gustav Julius Kaufmann, wie soll ich sagen, nicht sehr viel Erfahrung hatte im Umgang mit Leuten, die mit der Haut an seiner eigenen Haut kleben bleiben. Da wäre höchstens zu nennen die Beobachtung des kleinen Gustav durch den Türspalt des Behandlungszimmers, als seine Mutter nicht wie üblich auf dem Drehstuhl neben dem Dentalhygienestuhl saß, sondern auf Gustavs Turnlehrer, der seinerseits im Dentalhygienestuhl lag und stöhnte, was aber garantiert nicht an der Zahnseide lag. In diesem Zusammenhang ist vielleicht erwähnenswert, dass Zahnseide auf Portugiesisch fio dental heißt und an brasilianischen Stränden nicht nur Zahnseide bedeutet, sondern auch String-Tanga. Wobei das vermutlich weder Paula Kaufmann noch Gustavs Turnlehrer zu jenem Zeitpunkt bewusst war, und selbst wenn, wer denkt in solchen Momenten schon an Zahnseide, wo auch immer man sie trägt.
Weiter wäre zu nennen das über das halbe Salatbeet sich erstreckende Becken von Erika Zellweger, was aber mehr Gustavs pubertäre Fantasie anregte, als dass es effektiv zur Aufklärung beigetragen hätte. Von brasilianischer Zahnseide ganz zu schweigen.
Und schließlich noch jenes ziemlich erbärmliche Aufeinanderprallen – anders kann es kaum bezeichnet werden – von Gustav Julius Kaufmann und Liliane, der Sekretariatsaushilfe bei Neuenschwander Treuhand, nach dem Personalfest, in mittelschwer alkoholisiertem Zustand, im Abstellraum, auf dem Kopierpapierstapel, und bevor überhaupt irgendetwas hatte geschehen können, flog polternd die Schachtel mit Kaffeeplastiktassen zu Boden, worauf Frau Lenherr die Tür aufriss, Liliane heftig errötend entwich und Gustav einen Stapel Kopierpapier in die Hand nahm, „Muss nachfüllen, hat keins mehr“ stammelte und das Personalfest mitsamt dem Kopierpapier und den Beinen unter den Armen verließ.
Zuletzt die eine oder andere Augenwinkelaufnahme aus dem einen oder anderen expliziten Film im sri-lankischen Mannschaftsraum im Bauch von Mathilde Oldendorff.
Und jetzt also klebte er an Ida Nordpol Zeppelin und wusste im Grunde nicht so richtig, was er damit anfangen sollte. Ida Nordpol Zeppelin ihrerseits hatte seit Otto Zeppelin Übermuts nächtlichem Gewittertief vor nun auch schon wieder sieben Jahren keinen Mann mehr gehabt, geschweige denn an einem geklebt. Und jetzt also klebte sie an Gustav Julius Kaufmann und wusste im Grunde nicht so richtig, was sie damit anfangen sollte. Es war still. Still wie im Auge des Orkans. Und warum sollte es im Auge eines Hochdruckgebietes nicht auch so still sein können wie im Auge des Orkans. Der drei Tatamis große Weltraum im Zimmer im Haus in Maliaño war eine Woche lang die Mitte des Hochdruckgebietes. Nur ein leiser Luftzug war auszumachen. Er brachte das Mikrofon zu kaum wahrnehmbarem Baumeln. Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin lagen still, mitten im Hochdruckgebiet, und ich stelle mir vor, wie sie eins wurden. Und wie sie langsam anfingen zu schwitzen. Und ich stelle fest: Wären sie umsichtig gewesen und hätten das ausgeschwitzte Salz gesammelt und aufbewahrt, vielleicht hätten sie damit eine Art Notvorrat anlegen können. Aber wer macht das schon in solchen Momenten, Notvorräte anlegen. Gustav Julius Kaufmann und Ida Nordpol Zeppelin lagen still und wurden eins, sieben Tage und sieben tropische Nächte lang.
„Bitte zwei Kisten Mineralwasser bestellen! Danke! Gruß, Neuenschwander“, stand auf dem Post-it-Zettelchen, als Frau Lenherr am Morgen des achten Tages ins Büro kam. Sie klebte es kopfschüttelnd auf Lilianes Schreibtisch und startete ihren Computer.
Am Morgen des achten Tages schien die Sonne durch das Fenster im Osten. Sie erwachten. Gustav Julius Kaufmann blinzelte zum Fenster hinaus und nieste. „Gesundheit!“, sagte Ida Nordpol Zeppelin. Es war das erste Wort, das sie sprach. Gustav lächelte und sagte: „Danke!“ Ida Nordpol Zeppelin lächelte zurück. Gustav sah zum ersten Mal ihr Gesicht aus einer gewissen Distanz. Ihre Augen waren groß und schwarz. Ihre Nase war ein wenig schief und mit Sommersprossen bedeckt. Und was der Ehrlichkeit halber angefügt werden sollte: Als Ida Nordpol Zeppelin lächelte, sah Gustav, dass sie ziemlich schlechte Zähne hatte. Er erschrak natürlich, als er das bemerkte, und fragte sich, ob er ihr irgendwann erklären müsste, wie man Zahnseide benützte, und ob es in Maliaño überhaupt Zahnseide gab. Er verdrängte die Gedanken, indem er ihren Mund kurzerhand wieder mit dem seinen zudeckte.
Noch hatten sie kein einziges Gramm Salz verschüttet. Und auch noch keines gegessen. Sie erhoben sich vom Futon, zogen sich an, gingen nach unten, und Ida Nordpol Zeppelin kochte Fischsuppe. Sie schmeckte nach Meer, nach Mathilde Oldendorffs Küche, nach der Bucht am Fuß des Hügels und nach der Linie am Horizont. Sie war versalzen. Nach dem Essen ging Gustav mit Dora und Emil ins Dorf. Ida hatte gesagt, sie sollten ihm alles zeigen, Gustav hatte sagen wollen, er kenne eigentlich schon alles, wollte aber die Kinder nicht enttäuschen und ging mit. Emil zog an einer Schnur seine Seifenkiste hinter sich her, Dora den Handwagen für die leeren Milchtansen. Und weil Gustav das Dorf ja schon kannte, halte ich an seiner Stelle fest: Das Dorf auf dem Hügel war eigentlich wie das Dorf am Fuß des Berges mit dem Loch drin. Es hatte alles, was ein Dorf braucht: eine Schule, ein Feuerwehrhaus, ein Gemeindehaus, eine Kneipe. Nur ein Altenheim sah er nicht. Und zu fragen, ob es hier auch eine freiberufliche Dentalhygienikerin gab, traute er sich nicht. Auf dem Rückweg kam Wind auf, und vom Meer her sah man eine schwarze Wand auf den Hügel zukommen. Ida Nordpol Zeppelin konnte gerade noch rechtzeitig über ihren Sender die Sturmwarnung herausgeben. Dann brach das Gewitter los. Es war noch mächtiger als das, mit dem Otto Zeppelin Übermut gekommen war. Das Wasser fiel wie eine einzige Wand aus Schiffstauen vom Himmel. Ida Nordpol Zeppelin saß im Zimmer am Fenster und erzählte vom Regen. Gustav saß auf dem Futon und hörte zu. Ida Nordpol Zeppelins Stimme klang anders als aus dem Weltempfänger. Sie war nicht mehr sepiafarben. Man konnte sie jetzt sehen und riechen. Jetzt gerade roch die Stimme nach Regen, der eine tagelang vertrocknete Luft flutet, der die Böden sättigt und die Straßen zum Überlaufen bringt. Manchmal versprach sich die Stimme und räusperte sich. Und während sie sprach, strich sich Ida Nordpol Zeppelin die Haare aus dem Gesicht oder fuhr mit den Fingerbeeren die Tischkante entlang. Kleine Wasserspritzer entwichen der Wand aus Schiffstauen und sprangen ins Zimmer herein, neben Gustav auf den Futon.
Ich schleiche mich kurz aus dem Zimmer, auf die andere Seite der Wand aus Schiffstauen, für die Einführung der folgenden drei japanischen Redewendungen: tatami suiren heißt so viel wie Schwimmübungen machen auf einer Tatami, also etwas völlig Nutzloses tun. Hanjo heißt „eine halbe Tatami“, aber auch „einen Schauspieler auspfeifen“, und schließlich: „Zu einer neuen Tatami gehört auch eine neue Frau.“
Und da saß Gustav also, auf einer neuen Tatami und mit einer neuen Frau, und eigentlich hätte man sich schon fragen können, was er hier für seltsame Schwimmübungen machte, neben dieser Frau, von der er nur die Stimme kannte und das Gesicht ein klein wenig. Und was dachten die beiden Kinder wohl von einer halben Tatami, die eines schönen Tages, übelriechend, in von oben bis unten schmutzigem Anzug und völlig abgelaufenen Halbschuhen daherkam und ernsthaft glaubte, ein Hochdruckgebiet spielen zu können. Wobei ich das ehrlich gesagt ganz lustig fände, als Kind mit jemandem zu spielen, der ein Hochdruckgebiet spielt. Ich wäre dann ein Tief und würde das Hoch angreifen. Und der Dritte, also Emil Nordpol zum Beispiel, wäre der Nebel und könnte alles nach Belieben verschleiern. So geschah es dann natürlich prompt: Dora Nordpol griff Gustav Julius Kaufmann an und Emil tat sein Bestes, es zu verschleiern. Aber das war dann kein Spiel mehr. Doch dazu später.
Solange das Gewitter noch anhält, füge ich hinzu: Futon kommt vermutlich von futo und kann, neben Matratze, auch heißen: „ehe ich michs versah“ oder „Kai“ oder „Briefumschlag“. Und ehe sichs Gustav versah, kamen dann am Kai an der Küste vor Maliaño diese Briefumschläge an, und diese Briefumschläge hingen in Plastik gehüllt am Hals eines Mannes, und dieser Mann klammerte sich an eine Tatami – und wer dieser Mann war und woher die Tatami kam, auch dazu später.
Das Gewitter ging so schnell, wie es gekommen war. Die versammelte Belegschaft der versammelten Großfamilie Oldendorff zog mit einem einzigen Ruck die ganze Wand aus Schiffstauen in den Himmel zurück. Was blieb, war der Geruch der nassen Straße. „Das Wetter wird veränderlich“, sagte Ida Nordpol Zeppelin, schaltete das nächtliche Endlosband an und legte sich neben Gustav auf den Futon. Neben dem Futon stand Ida Nordpol Zeppelins Radiowecker. Dieser Radiowecker sendete selbstredend ihren eigenen Sender. Weil sie selbst aber selbstredend nachts nicht redete, sondern schlief, das heißt, dank des Radioweckers erwachte, sendete der Sender das nächtliche Endlosband. Das besprach sie jeden Abend mit ein, zwei Sätzen zum Wetter in der Nacht und am kommenden Morgen. Und das hörte sie sich an, wenn sie erwachte und kontrollierte dann mit einem Blick aus dem Fenster, ob sie recht gehabt hatte. Wenn die Prognose stimmte, ließ sie sich noch einmal auf den Futon sinken und lächelte. Wenn nicht, dann erhob sie sich dermaßen schwungvoll, dass die Tatamis zitterten, und einmal, als es in Strömen regnete am Morgen und auf dem Endlosband von einer sternklaren Nacht und einem rekordverdächtig heißen Morgen die Rede war, hätte sie Gustav Julius Kaufmann vor Wut beinahe mitsamt dem Futon eingerollt. Denn Futons sollte man am Morgen immer einrollen, damit die Unterseite gut gelüftet wird. Von der Unterseite des Hauses polterten bereits die Kinder, Emil schrie, Dora johlte, denn Dora hatte Emil einen Löffel Nutella auf den Stuhl geschmiert und Emil hatte sich draufgesetzt. Ida Nordpol Zeppelin sprach zwischen zwei Wetternachrichten ein Machtwort. Gustav ging vorsichtshalber einkaufen. Er kam im falschen Moment zurück, die Störung hatte sich noch nicht verzogen, im Gegenteil. Dora beklagte sich gerade über Emil, er habe sie absichtlich mit seiner verdammten Seifenkiste gerammt, Ida Nordpol Zeppelin sagte, „So redet man nicht, woher hast du das“, Dora sagte, „von dem da“, und zeigte auf Gustav. Gustav schüttelte den Kopf und schaute auf Ida. Sie sah müde aus und sprach nochmal ein Machtwort. Gustav spülte vorsichtshalber das Geschirr. Dora machte Hausaufgaben. Emil machte Motorengeräusche. Ida legte schon nachmittags um vier das Endlosband ein und setzte sich vors Haus. Gustav setzte sich zu ihr. Sie saßen schweigend. Irgendwann erhob sich Ida und schickte die Kinder ins Bett. Dann setzte sie sich wieder zu Gustav. Es wurde langsam kühl vor dem Haus. Emil weinte, schlief irgendwann ein. Ida und Gustav gingen nach oben, rollten den Futon aus und legten sich hin. Gustav lag wach und schaute an die Decke. Ida Nordpol Zeppelin schlief, atmete ruhig. Ein leises Surren vom Endlosband. Sonst Stille.
Ich füge flüsternd an: Hätte Gustav sein Radio mitgehabt, hätte er jetzt Ida Nordpol Zeppelins Stimme zuhören können, während sie neben ihm schlief. Vorausgesetzt natürlich, die Kurzwellen hätten das mitgemacht. Von der Senderanlage auf dem Haus in Maliaño einmal hoch zur Ionosphäre und dann gleich so steil wieder runter auf den Futon. Die Stimme sagte: „Das Wetter bleibt veränderlich. Übermorgen aber wird es heiß. Der Altweibersommer kommt.“
Ida Nordpol Zeppelin hatte recht. Am 1. Oktober war es heiß. Heiß gewesen den ganzen Tag und auch abends kein bisschen kühler geworden. Ein Altweibersommertag wie aus dem Bilderbuch. Und so kam es, dass Gustav und Ida aneinander kleben blieben, di...

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  3. II
  4. III
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