Sagte Liesegang
eBook - ePub

Sagte Liesegang

Roman

  1. 197 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Sagte Liesegang

Roman

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Alfons Liesegang, 62, Seismologe, soeben verstorben, soll einem Engel sein Leben erzählen. Der Clou dabei: So lange er erzählt, so lange darf er nachher noch einmal zurück auf die Welt. Alfons Liesegang beginnt zu reden. Wie lange dauert sein erzähltes Leben? Woran erinnert er sich? Lässt er Unangenehmes aus? Erzählt er ewig - in der Hoffnung auf ewiges Leben?In einem einzigen Monolog, getragen von rhythmischer und bildhafter Sprache, erzählt Liesegang seine Lebensgeschichte. Vom Bruder, der tot zur Welt kam, von der Mutter, die spurlos verschwindet, vom Vater, dem Geologen, der im Keller Steine zerschlägt, von seiner großen Liebe zur Strahlerin Eva Gutknecht, vom Lied der Rolling Stones über den Teufel und von einer Zwergfledermaus, die wie ein Derwisch durch die ganze Geschichte flattert und ihm am Ende das finale Zeichen gibt.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Sagte Liesegang von Ralf Schlatter im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2013
ISBN
9783990390139
„Verzeihen Sie, können Sie das noch einmal wiederholen? Wären Sie so freundlich, das noch einmal zu sagen? Sie werden es nicht tun, ich sehe es Ihnen förmlich an. Dann lassen Sie es mich selber sagen, noch einmal, zu mir, das klingt viel zu unglaublich, was Sie mir da anbieten, lieber Engel. So lange, wie ich rede, sagen Sie – oder soll ich Du zu Ihnen sagen, ja hören Sie mal, wie soll ich wissen, wie man einen Engel anspricht, ich bitte Sie, ich bitte dich, und ehrlich gesagt weiß ich ja nicht einmal, was für ein Geschlecht Sie haben, ich meine, ob du Frau bist oder Mann oder am Ende irgendetwas dazwischen, man spricht in Gottes Namen anders mit einer Frau oder mit einem Mann oder mit etwas dazwischen, aber was rede ich da, es geht mich ja gar nichts an, das Geschlecht eines Engels, und vielleicht hast du ja überhaupt keins, vielleicht müsste ich da in ganz anderen Kategorien denken, aber vielleicht verrätst du mir das alles ja später, falls du noch einmal sprichst, ich sage jetzt einfach mal du zu Ihnen, und so lange, wie ich rede, sagst du, so lange darf ich nachher noch einmal zurück auf die Welt.
Mein lieber Engel. Was für eine, mit Verlaub, bizarre Situation. Einfach reden soll ich also, muss ich, nein, muss ich nicht, darf ich, aber ich bitte dich, wer lässt sich eine solche Gelegenheit entgehen, ich bin sicher, da hat noch jeder mitgemacht, der zu dir in den Himmel gekommen ist, einfach reden reden reden und dann noch einmal zurück, ein bisschen Zeit auf der Welt verbringen, und ich sags dir gleich zu Beginn, ich bin da ganz bescheiden, mit wenig zufrieden, das käme mir natürlich zugut, ich wüsste, was ich machen würde, auch wenn es nur für eine halbe Stunde wäre, aber unter uns gesagt, ich hoffe schon, mir fällt ein bisschen mehr ein als nur für eine halbe Stunde, wie wärs mit tausendundeiner Nacht, und die würde ich, das verrate ich dir gleich, allesamt in der Höhle von Škocjan verbringen, in dieser unvorstellbaren Kathedrale unter Tag.
Aber das ist eine andere Geschichte, die folgt ja vielleicht noch – also, wo war ich stehen geblieben. Einfach reden also soll ich. Aber das Schönste kommt ja erst noch. Dein Nachsatz, lieber Engel. Und ich weiß nicht, ob das der Anflug eines Lächelns war in deinem Gesicht, und wenn, dann war es ein abgründiges Lächeln, ein hinterhältiges Lächeln, dein Nachsatz, von der Wortwahl ganz zu schweigen, das kann kein Zufall sein, ich bin ja beileibe nicht der Erste hier, das hast du dir zurechtgelegt, da bin ich mir sicher, so lange, wie ich rede also, so lange darf ich noch einmal zurück auf die Welt, und das Thema meines Redens sei, in deinen Worten: ‚nur mein Leben‘.
Nur mein Leben also. Nur mein Leben. So so. Von Anfang an? Von Schluss an? Egal, nehme ich an. Mein Leben. Von Anfang oder von Schluss an. Da hast du mich jetzt aber kalt erwischt, wenn man das als Toter so salopp sagen darf. Mein Leben. Ja verflucht nochmal. Was interessiert dich ausgerechnet mein Leben. Am Ende weißt du alles schon und willst nur hören, wie ich es dir erzähle. Machst dir einen Sport daraus. Weißt am Ende genau, was wahr ist und was nicht. Du kannst es dir zusammenreimen, kennst die anderen Versionen, von den Leuten, die schon hier waren. Mein Bruder? War der auch hier, obwohl er noch gar nicht reden konnte? Mein Vater? Hat wohl geschwiegen. Meine Strahlerin? Hat sie geredet oder einfach nur gestrahlt? Meine Mutter? Nein, das kann nicht sein. Oder hast du etwa nur den Anfangsbuchstaben L? Oder nur die Zweiundsechzigjährigen? Hörst du mir überhaupt zu? Oder geht es dir beim einen Ohr rein und beim andern wieder raus? Und für mich ist es die künstliche Lebensverlängerung? Der überirdische Strohhalm? Hat ein Engel überhaupt Ohren? Das kann doch alles gar nicht wahr sein. Weißt du was, ich könnte ja genauso gut jetzt schon schweigen, dann wäre es überstanden. Aber du weißt genau, dass ich das nicht fertigbringe, und ich selber weiß es natürlich auch, zu feig zum Schweigen, die Hoffnung stirbt zuletzt, und weißt du was, du wirst dir noch wünschen, ich würde schweigen, dermaßen werde ich dich zutexten, und nichts werde ich auslassen, gar nichts, du kannst die Uhr starten, Herr oder Frau Engel, lass die Zeit laufen, ich werde mir den Mund wundreden, so etwas hast du noch nie gehört, und anfangen will ich vorne, ganz vorne will ich anfangen, und dann ausschweifen, schöner gehts nicht, irgendeinen Sinn wird das Ganze schon haben, das wird sich ergeben, da bin ich mir sicher, mach dich auf etwas gefasst, nicht alles wird schön sein, mein lieber Engel, das sei dir vorneweg gesagt, aber bitte, das hast du dir ja selber eingebrockt.
Vielleicht hat das Unheil ja schon mit der Geburt begonnen. Ich kam erstens zwei Wochen zu spät und zweitens mit den Füßen voran zur Welt. Ich habe mich später oft gefragt, was das für ein Zeichen war, denn an Launen der Natur glaube ich als Seismologe nicht, hätte die Natur Launen, gäbe es die Natur schon lange nicht mehr, es reicht schon, wenn die Menschen dauernd irgendwelche Launen haben und an der Natur auslassen, mit den Füßen voran also kam ich zur Welt, und ich habe mich später für das eine Bild entschieden, für das Bild, das ich am eigenen Leib erfuhr in diesem Aquatic Center.
Aquatic Center, wie die Schwimmbäder ja heute heißen, voll von Strudeln und Rutschbahnen und künstlichen Wellen, die dazu verdammt sind, nicht vorwärts zu kommen, nie einen Strand sehen, auf dem sie auslaufen können. Veronika hatte mich mitgeschleppt ins frisch eröffnete Aquatic Center, das muss im Herbst ’77 gewesen sein, und da stand ich, oben an der Wasserrutschbahn, offensichtlich unfreiwillig, mit einer unförmigen Bermudabadehose, sie klebte feucht an meinen Schenkeln und stand da und dort in Luftblasen so seltsam ab, das Haar nass an den Kopf gedrückt, da stand ich also, ich schmücke das Bild noch ein wenig aus, das gibt mir Zeit, es roch nach Chlor und nassen Handtüchern und das Kindergeschrei war atemlos und raumfüllend, und ich frage mich, warum sich Kinder anschreien, wenn sie sich freuen, und warum sie, wenn sie älter sind, sich nur noch anschreien, wenn sie sich nicht mehr freuen. Da stand ich also, oben an der Rutschbahn, und da gab es diese kleinen Untersätze, so eine Art Teppich, auf den man sich setzen musste, um hinunterzurutschen, und da muss wohl ein solcher Teppich dort gelegen haben, ich wich einem Mädchen aus, das sich an mir vorbei in die Rutschbahnröhre stürzte, und geriet dabei auf diesen Teppich und es wischte mich regelrecht weg, ich brachte nicht einmal mehr die Arme nach hinten, um mich irgendwie abzustützen, es wischte mich weg, ich knallte auf die Rutschbahn und mit den Füßen voran und den Armen nach oben, als wolle ich Halt suchen in dieser haltlosen Röhre, verschwand ich im Rutschbahntunnel, und ein paar Sekunden später spuckte es mich unten aus und ich glaube, es schlug mich dann noch auf den Boden des viel zu niedrigen Beckens, und für dieses Bild habe ich mich dann entschieden, so, genau so geriet ich auf die Welt.
Seltsam gebückt und hinkend entstieg ich dem Wasser, die Hose noch unförmiger an mir klebend, und eigentlich könnte man das Bild gleich weiterverwenden, durch den unterirdischen Rutschbahntunnel im slowenischen Karst, seltsam gebückt und hinkend bin ich der Welt ja soeben wieder entfahren, diesem verchlorten, verseuchten, mit Geschrei erfüllten Aquatic Center, und so lange, wie ich rede, so lange schickst du mich sozusagen ins Aquatic Center zurück, was für eine absurde Lage, ich muss es noch einmal sagen, bist du dir dessen eigentlich bewusst, was du da mit mir anstellst, und weißt du was, das mit dem Du vertrage ich nicht, ich kenne dich ja überhaupt nicht und breite hier mein ganzes Leben vor dir aus, so jemanden duzt man nicht. Ja, ich erlaube mir, das festzulegen, so wie es mir passt, lieber Engel, Hauptsache, ich spreche, und wissen Sie was, ich habe keine Angst, noch weiß ich, was ich sagen werde, noch habe ich mein Leben sozusagen vor mir, das war ja erst der Anfang, wenn auch ein schäbiger.
Mit den Füßen voran also kam ich auf die Welt und wissen Sie, was meine Mutter machte? Wissen Sie, was meine Mutter machte, als sie das gesehen hat? Sie hat sich beim Arzt entschuldigt. Entschuldigen Sie, dass ich lache, jetzt, wo ich das sage, ich kann gerade nicht anders, und ich nehme an, auch Lachen gilt als Sprechen, zumindest, wenn ich über mich und mein Leben lache, meine Mutter hat sich tatsächlich beim Arzt entschuldigt, dass ich nicht ordnungsgemäß zur Welt kam. Woher ich das weiß, wollen Sie vielleicht wissen, nun, mein Vater hat es erzählt, Jahre später, am Mittagstisch. Meine Mutter hatte die Nudeln verkocht, sie entschuldigte sich dafür, mein Vater hatte sich gerade mit einem Wassereinbruch im Gotthard-Stollen in Rage geredet, und du hör endlich auf, dich für alles und jedes zu entschuldigen, fuhr er meine Mutter an, und dann erzählte er, zu mir gewandt, von meiner Geburt und dass sie sich dafür beim Arzt entschuldigt habe, und dann brüllte er los vor Lachen und meine Mutter lachte aus Höflichkeit ein wenig mit und eine Träne schlich sich wie ein eingeschüchtertes Kind aus ihrem Augenwinkel. Aber wer will es meiner Mutter verübeln, meine Mutter hat sich ein Leben lang entschuldigt, und ich bin sicher, hätte sie sprechen können, als sie selber zur Welt kam, sie hätte sich persönlich beim Arzt, bei der Hebamme und bei ihren Eltern dafür entschuldigt. Es tut mir leid, sagte sie also, kaum war ich auf der Welt, die Hebamme machte große Augen, der Arzt lachte väterlich und mein Vater, stelle ich mir vor, lachte mit, laut wie immer, und hörte auf, meine Mutter zu lieben. Ich meinerseits schloss die Augen und schrie.
Dem ist hinzuzufügen, dass mir zwei Jahre zuvor ein Bruder quasi vorausgegangen war. Mein Vater, der gelernte Geologe, sprach noch Jahre später nur von der Verwerfung. Mein Bruder kam zwar ordnungsgemäß mit dem Kopf voran zur Welt, aber war schon tot, als er in den Rutschbahntunnel hineingeriet. Von einer Verwerfung spricht man, wenn zwei Gesteinsmassen auseinanderbrechen oder gegeneinander verschoben werden, nicht selten mit einem Erdbeben verbunden, und ab und zu tritt durch den Riss die Erde flüssig aus und erstarrt, sobald sie an der Luft ist, ich habe dieses Bild nie richtig verstanden, aber vielleicht hat mein Vater damit nur sich und seine Mutter gemeint, die zwei Gesteinsmassen, die damals auseinanderbrachen, so jedenfalls habe ich es mir zusammengereimt, als mein Vater etwas von einer Verwerfung stammelte, es war das erste und letzte Mal, dass ich ihn so richtig betrunken sah, es war am Abend nach dem Tag, als meine Mutter gegangen war, endgültig ausgeflogen, zusammen mit Lias Keuper, unserem Kanarienvogel. Lias Keuper kam Tage später wieder, setzte sich aufs Fensterbrett und piepste, Mutter hingegen blieb verschwunden, doch davon später mehr, und schauen Sie mich doch nicht so fragend an, mein lieber Engel, Lias und Keuper sind Gesteinsablagerungen im Jura, zweihundert Millionen Jahre alt, mein Vater war Geologe, er hat den Vogel getauft, wie alt sind Sie eigentlich?
Ich kam zur Welt und schrie und wer weiß, vielleicht hatte ich damals noch die unschuldige Illusion, ich könnte mit Schreien meinen Vater übertönen, ich war ja gerade erst auf der Welt, da sind Illusionen noch möglich und erlaubt, später konnte ich mir nicht mehr anders helfen, als das Weite zu suchen, oder besser die Stille in der Tiefe, das war die Zeit, als ich anfing, mein Ohr an die Erde zu halten. An die frühe Jugend erinnere ich mich kaum, und das hat mich oft geärgert und ich frage mich, ob das die Evolution so hingebogen hat, dass sich der Mensch nicht an die eigene Kindheit erinnert. Mit anderen Worten, all jene Menschen, die das einmal konnten, die mit einem Kindheitserinnerungs-Gen, sind daran zugrunde gegangen, haben es nicht ausgehalten, die Erinnerung an diese Unschuld, an diesen Spieltrieb, an diese grenzenlose Fantasie, diese unergründliche Weisheit in den Augen und diese Farbstiftbilder, das hat sie in den Wahnsinn getrieben, die Erinnerung daran, wie sie all das eines Tages verloren haben, und also haben sich die anderen fortgepflanzt, die Nüchternen, die Erwachsenen, die Wohlüberlegten, haben sich nüchtern, erwachsen und wohlüberlegt fortgepflanzt, schauen ihren Kindern zu auf dem Spielplatz und denken keine Sekunde daran, sich selber darin zu sehen. Und wie es sich für die Evolution gehört, ab und zu taucht wieder eines auf, eines dieser Gene, Variation und Selektion, hat es Darwin genannt, aber das mit der Selektion ist so eine Sache, schauen Sie sich doch an, was aus denen wird, die meisten nennen sich Künstler und bleiben allein und meistens arm, bei der Selektion bleiben sie zwangsläufig sitzen, den Rest nennt man Kindskopf, und dass Kindskopf ein Schimpfwort ist, halte ich bis jetzt für eine der schlimmsten Verfehlungen der deutschen Sprache, das ist noch weit verheerender als die Fehlbesetzung des Wortes Hämorrhoiden, doch das ist eine andere Geschichte, die folgt später, da können Sie sich noch auf etwas gefasst machen, mein lieber Engel, und Sie brauchen mich gar nicht so streng anzuschauen, ich weiß, ich schweife ab, ich spiele quasi auf Zeit.
Von der frühen Jugend also kaum etwas, außer die Fotos. Erst schwarzweiß mit verzierten Rändern, dann farbig und verschwommen und immer wieder die Bergspitzen. Und auf den Bergspitzen immer Vater, bärtig und braungebrannt, mit kariertem Hemd, und daneben ich. Und als mein Vater schon nicht mehr auf der Welt war, das heißt, wie soll ich sagen, tief in der Welt drin, da habe ich sie alle aus den Alben gerissen, all diese Fotos von den Bergspitzen, und habe sie alle nebeneinandergelegt, und wissen Sie, was ich gesehen habe? Auf allen Fotos steht Vater weiter oben. Diese Bergspitzen sind ja selten planiert und auf die planierten sind wir grundsätzlich nicht gegangen, Vater war schon ein Gipfelkreuz suspekt, es mussten die unzugänglichen Spitzen sein, die schroffen, die kaum begangenen, und immer stand er zuoberst hin und ich suchte mir wohl oder übel einen Standplatz weiter unten und Mutter musste knipsen und mehr als einmal wäre sie um ein Haar den klassischen Bergfotografentod gestorben, weil Vater sie lautstark und gegen den Wind anschreiend nach hinten dirigiert hat. Ein einziges Mal nur überrage ich Vater. Auf dem allerersten der Bergspitzenbilder, schwarzweiß und mit verziertem Rand, auf dem Tödi. Vater bärtig und stolz und ich schlafend in der Rückentrage, den Kopf abartig zur Seite gekippt, und es ist wohl die Ironie der Geschichte, dass ich diesen Moment des Triumphes verschlafen habe, wobei von Triumph ja nicht eigentlich die Rede sein kann, denn Vater hatte mich schließlich auf den Tödi hochgeschleppt.
Was weiß ich sonst noch aus diesen Jahren? Lärm bleibt in meiner Erinnerung und Zimt – Lärm, wenn Vater zu Hause war, das Steingeklopfe im Keller, wenn er seine Fundstücke mit dem Geologenhammer zertrümmerte, Lärm während des Abendessens, wenn das Radio in überhoher Lautstärke lief, als wollte Vater damit die Wortlosigkeit seiner Steine kompensieren, Musik und Nachrichten füllten den Raum aus und wehe, man sprach dazwischen, wehe, man richtete das Wort im falschen Moment an ihn, da kam die Eruption über ihn, dass die Teller auf dem Holztisch klirrten, und damals kam die Sehnsucht nach Stille in mir auf und ich erinnere mich, dass ich in den Keller lief, wo aus der Wand heraus ein Stück nackter Fels ragte, und legte mein Ohr an den Stein und horchte hinein, und während der Lärm von fern und ungehalten tobte, da floss durch den Fels und mein Ohr die unendliche Stille der Weltkugel in meinen Kopf und ich ließ mich nach und nach davon erweichen und wenn es rundum lautlos geworden war, schlich ich mich nach oben, Vater hatte mit einem Türknall das Haus verlassen, auf dem Tisch stand ein letzter, verlassener Teller Milchreis mit Zwetschgen und meine Mutter schaute mich hilflos und liebevoll an und streute Zimt darüber.
Andere Väter seiner Generation ließen sich volllaufen, aus lauter Unfähigkeit zu sprechen und weil sie es selber schon von ihrem Vater gelernt hatten, dass man als Mann nicht spricht, sondern handelt, also sich volllaufen lässt. Mein Vater ließ sich nie volllaufen in diesen Nächten, mein Vater wanderte. Ich muss, was heißt, ich muss, ich darf hier noch und ausführlich erwähnen, dass unser kleines Einfamilienhaus in einem Viertel stand, in dem die Straßen die Namen von Blumen haben. Unser Haus stand an der Edelweißstraße. Und ein Viertel weiter kamen die Bergnamen. Wenn mein Vater also die Tür hinter sich zuschlug, dann ging er los, bis ans Ende der Edelweißstraße, überquerte den Anemonenweg, ging weiter die Veilchenstraße entlang, dann links durch die Tulpenstraße und am Ende der Tulpenstraße begannen die Berge. Ich weiß das aus zwei Gründen, ich bin ihm einmal gefolgt, als er ausbrach, und später dann lernte ich den schnellsten Weg zur Jungfraustraße kennen, aber diese Geschichte folgt noch, die heb ich mir auf. Mein Vater also bog in die Alpenwelt ein, ging mit ausladendem Bergschritt den Mönchsweg hinunter, traversierte zur Eigerstraße, die Jungfraustraße ließ er links liegen und am Ende des Säntiswegs machte er rechtsumkehrt und ich sprang ins nächste Gebüsch, es war eine Rosenhecke, ich unterdrückte den Schrei und wollte Vater passieren lassen, aber er blieb stehen und pflückte eine Rose vom Strauch, in dessen Tiefe ich saß, starr vor Angst, zum Glück waren die Straßenlampen damals noch seltener gesetzt und allgemein dunkler. Die Rose stand tags darauf auf dem Tisch und ich setzte mich ganz behutsam, ließ mir den zerstochenen Hintern nicht anmerken und wunderte mich, dass diese Rose offenbar imstande gewesen war, meine Mutter zu besänftigen. Zumindest schien es so, aber wer schon einmal eine Rose von Nahem gesehen hat, der weiß, dass es nichts Verschwiegeneres gibt als eine Rose. Das ist wohl so eine Art Homöopathie, die Unfähigkeit zu sprechen mit einer Rose zu entschuldigen. Vielleicht steht die Rose ja auch für meine Mutter, die Verschwiegenheit jedenfalls passt, die entrückte Schönheit auch, nur das plötzliche Verschwinden nicht. Meine Mutter die Rose, mein Vater der Stein. Jedes Mal brachte er von seinen nächtlichen Wanderungen durch die Schweizer Alpen auch einen Stein nach Hause, keine Ahnung, in welche Gärten er dafür stieg, die Rose stellte er auf den Tisch, den Stein legte er auf einen Haufen und haute ihn irgendwann im Keller stumm in Stücke.
Von der Schule zu erzählen, könnte mir natürlich Zeit im Übermaß verschaffen, stundenlang könnte ich den Stundenplan aufsagen, das wäre nicht einmal eine Wiederholung, denn jeder Tag war ja ein anderer, auch wenn die Tage mir damals wie ein einziger vorkamen, der sich täglich wiederholte. Aber das ist mir ehrlich gesagt zu blöd, diese zweckgerichtete Auslegung des Regelwerks, ich möchte auch jetzt, hier, im Augenblick des Erzählens etwas davon haben, ich war nie einer von denen, die nach der Schule beim Fußballspielen vor dem anderen Tor stehen blieben, die schoben zwar dann und wann den Ball ein, aber hatten nichts vom Spiel.
Wenn ich den Stundenplan also außer Acht lasse, dann sind es die außergewöhnlichen Tage, die aus der Erinnerung herausragen, als wäre die Erinnerung darauf programmiert, als wüsste sie nichts anzufangen in einem Meer ohne Inseln, da hat es die Erinnerung ja ganz wie der Mensch, schauen Sie sich doch einmal die Leute an am Meer, schauen die einfach aufs Meer hinaus? Nein, sie fixieren ein Schiff, das am Horizont vorüberfährt, und sind sie selber auf dem Schiff, dann schauen sie ans Ufer, und wenn sie in den Himmel schauen, dann suchen sie mit den Augen das Wölkchen und sehen dem Flugzeug nach. Das endlose Weite liegt ihnen nicht, sie haben Angst, sie könnten sich darin verlieren, und die Erinnerung hat Angst, sie gehe unter in diesem Meer aus Alltag und Wiederholungen. Warum sind meine Fotoalben voll von Bergspitzen, von den täglichen Abendessen im Lärm aber ist kein einziges Bild vorhanden, von den Rosen auf dem Tisch genauso wenig, nur einmal ist das Haus zu sehen, aber auch nur im Hintergrund, das war, als mein Vater die Tanne in der Gartenecke fällte, die sie bei meiner Geburt gepflanzt hatten. Sie nehme zu viel Licht weg, hatte mein Vater gesagt, in den Händen hält er eine riesenhafte Axt, das rechte Bein hat er auf den gefällten Stamm gestellt wie ein Wilderer auf den erlegten Bären, meine Mutter ist nicht zu sehen, sie musste wohl knipsen, im Hintergrund das Haus, für meinen Bruder hat es leider nicht zu einer Tanne gereicht, wo der kleine tote Säugling hinkam, habe ich übrigens nie erfahren, ich hoffe inständig, er hat irgendwo seine Ruhe gefunden und kam nicht zu den übrigen, wie soll ich sagen, chirurgischen Schlachtabfällen.
Die außergewöhnlichen Tage also bleiben, und von wegen Chirurgen, da könnte ich anfangen beim offenen Beinbruch an meinem zehnten Geburtstag. Es war ein Sonntag und wir machten eine Bergwanderung, was denn sonst. Mein Vater überließ mir großzügigerweise die Gipfelwahl. Ich entschied mich mit dem Finger auf der Landkarte für den Wildspitz, wohl, weil mir der Name gefiel, mein Vater erwiderte meinen Wunschgipfel mit einem kaum hörbaren ‚meinetwegen‘, der Wildspitz, ein grasbewachsener Voralpenberg, war ihm eindeutig zu wenig wild, und oben stand prompt ein Gipfelkreuz. Ich weiß nicht, wie er auf die Idee kam, ob es sein Frust war über den zahmen Wildspitz oder die Absic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Zitat
  3. 1
  4. 2
  5. Autor
  6. Impressum