Die Dringlichkeit und die Geduld
eBook - ePub

Die Dringlichkeit und die Geduld

  1. 140 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Die Dringlichkeit und die Geduld

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Für die Recherchen zu seinem Roman Die Wahrheit über Marie stieg er sogar zum ersten Mal in seinem Leben auf ein Pferd; für den gleichfalls in dem Buch beschriebenen Herzinfarkt wollte er es dann doch nicht so weit treiben, es auf einen Selbstversuch ankommen zu lassen", schreibt Bernard Pivot, Frankreichs Literaturpapst, in seiner begeisterten Kritik über dieses neue Buch Jean-Philippe Toussaints, das im März anlässlich seiner aktuellen Ausstellung im Pariser Louvre "Toussaint: La Main et le Regard - Livre/Louvre" erschien: luzide Aufsätze über Literatur, Lesen und das eigene Schreiben, eine charmante Hommage an die Literatur, brillante Texte, anekdotisch-unterhaltsame Miniaturen, die mit großer intimer Kenntnis und Wissen über große Literatur sprechen. Wie beiläufig, unterhaltsam und doch so ungeheuer scharfsinnig führt Toussaint den Leser in sein literarisches Universum, erzählt von seinen Lektüren, von seinen ersten Schritten als junger Autor, von den berühmtesten der berühmten Autoren der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts und blickt humorvoll-analytisch hinter die Kulissen der Weltliteratur. Die literarischen Begegnungen mit Proust, Kafka und Dostojewski und die Erweckungserlebnisse, die diese Lektüren zur Folge hatten, runden das Bild ab. Und dann natürlich die folgenschwerste Begegnung, die Begegnung mit dem Werk Becketts, dem er dann eines Tages in einem dunklen Flur persönlich gegenübersteht. Jean-Philippe Toussaint lebt in Brüssel und auf Korsika. Zuletzt erschien in der FVA sein Roman Die Wahrheit über Marie. Der 2012 erschienene Band "Die Dringlichkeit und die Geduld" erhielt begeisterte Kritiken und erreichte Platz 2 der Essay-Bestsellerliste von L'Express in Frankreich. "Ich empfehle die Lektüre von Die Dringlichkeit und die Geduld allen, die davon träumen zu schreiben oder gerade damit angefangen haben." Bernard Pivot, Le Journal du Dimanche

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Die Dringlichkeit und die Geduld von Jean-Philippe Toussaint im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Philosophie & Philosophische Essays. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

DIE DRINGLICHKEIT UND DIE GEDULD

Wenn ich an einem Buch arbeite, wäre ich gern ein Luftgeist, meine Gedanken im Wind und mit der Hand locker und ungeniert über das Papier hinwegfegend. Aber nichts dergleichen. In Wahrheit bin ich sehr organisiert. Ich zwinge mich, bereite mich vor, muss mich überwinden. Meine Haltung hat etwas Mönchisches, Spartanisches, ich lebe wie ein Einhandsegler. Alles bekommt eine Bedeutung, die körperliche Verfassung, die Ernährung, was man liest. Schreibe ich, gehe ich früh schlafen und trinke keinen Alkohol. Tagsüber gehe ich spazieren, fahre Rad, schwimme – Schwimmen stand nie in Widerspruch zur Klause, im Gegenteil. Bis zum Roman Der Köder arbeitete ich an einem Buch Tag für Tag, die ganze Zeit, ohne Atem zu holen, ohne Unterbrechung, fast ein ganzes Jahr lang an einem Stück. Schreiben war für mich eine schwergängige Maschinerie, die sich für eine längere Dauer in Stellung bringt, etwas Geordnetes, Schwerfälliges, Hemmendes, etwas, das sich verweigert, Schwierigkeiten bereitet und das nur mühsam vorankommt, Schritt für Schritt – eine Ochsentour.
Die schmerzvolle Erfahrung beim Schreiben von Der Köder, eines Buches, das mir nicht von der Hand ging, das ich mehrere Male fast aufgegeben hätte – ich hatte mich verrannt, wusste nicht mehr ein noch aus, biss aber die Zähne zusammen, bohrte weiter, blieb dran, hielt mir das Vorbild Kafkas vor Augen und die schmerzhaftesten Ideale des Schreibens –, führte mich zu dem Entschluss, niemals wieder auf diese Art zu schreiben, ich wollte nicht mehr auf diese Weise leiden, ich musste meine Methode ändern. Von da an habe ich nur noch geschrieben, wenn ich von einem Schwung getragen wurde, während zeitlich genau begrenzter Schreibphasen von zwei Wochen bis maximal drei Monaten, unterbrochen von längeren Perioden, in denen ich andere Dinge machte, in denen ich nicht schrieb, in denen ich lebte – was auch von Nutzen sein kann.
»Es stimmt, ich habe geistig schon immer bemerkenswert gut gearbeitet, hatte nach und nach das Buch in mich eindringen lassen, das ich zu schreiben plante, indem ich einfach dem Faden meiner Gedanken folgte, während ich sachte, ohne ihren Lauf im geringsten zu gefährden, in meinem Geist eine Fülle von Eindrücken und Träumereien, Formgebilden und Ideen, oft unvollständig, verstreut, unvollendet, noch keimend oder schon ausgereift, von Intuitionen und Gedankenfetzen, von Schmerzen und Erregungen einströmen ließ, jetzt blieb mir nur noch, ihnen eine gültige Form zu geben. (…) Und ich wob weiter an dem Gedanken, dass letztlich aus der Perspektive des Schreibens selbst nicht zu schreiben zumindest ebenso wichtig ist wie schreiben.«[1]
Während ich früher, also bis zu Der Köder, ungefähr ein Jahr für das Schreiben eines Buches gebraucht habe, sind es heute, um auf eine effektive Schreibzeit zu kommen, schon eher drei Jahre. Ich arbeite nicht bei mir zu Hause in Brüssel, sondern auf Korsika oder in Ostende. In Ostende miete ich mir ein Appartement. Es ist ein neutraler Ort, ich mag diese Vorstellung, wie ein Einsiedlerkrebs zu leben, der sich Schneckenhäuser sucht, die ihm nicht gehören. An meinen Arbeitsplätzen halte ich mich nur vorübergehend auf, sie finden eine andere Verwendung in meiner Abwesenheit. Andere wohnen dann in dem Appartement in Ostende, und mein großes Schreibzimmer auf Korsika wird anders genutzt, wenn ich nicht da bin. Komme ich an, nehme ich den Ort in Besitz und stelle meine Sachen auf, Computer, Drucker, Arbeitsunterlagen. Reise ich ab, nehme ich alles mit, es bleibt keine Spur meines Aufenthalts zurück.
Mir gefällt der Gedanke, ein Buch als einen Traum von Stein zu definieren (der Begriff stammt von Baudelaire): »Traum« aufgrund seiner Freiheit, die es erfordert, wegen des Unbekannten, der Kühnheit, des Risikos, der Phantasmen, »Stein« wegen seiner Konsistenz, der Festigkeit, der Solidität, des Mineralischen, all dessen, was sich kraft der Arbeit erzeugen lässt, durch die unermüdliche Arbeit an der Sprache, den Wörtern, der Grammatik. Steckt man zu tief mit der Nase in einem Manuskript und hat das Auge zu sehr im Getriebe der Sätze, verliert man leicht die große Linie des Buches. Nun, mir gefällt die Vorstellung von einem Buch als Linie, ich mag diese Abstraktion, bei der die Literatur mit der Musik zusammenwächst und die Linie des Buches sich sanft wiegt, aufsteigt oder fällt, rein nach dem vorgegebenen Rhythmus. Manchmal widerstreitet in mir das Verlangen, Sätze zu schreiben, die von Dauer sind, die einem Aphorismus gleichen, mit der Tatsache, dass solche Sätze unvermeidlich den Lesefluss stören, ihn sogar bremsen. Sie müssen sich notwendigermaßen im Ganzen des Romans auflösen, dürfen seinen Fluss nicht hemmen, sie müssen sich möglichst unauffällig in das Textganze eingraben, um solcherart zu glänzen, ohne zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn etwa am Ende einer Folge sich steigernder Szenen das Buch einen Höhepunkt erreicht hat, wie soll man dann die Erzählung fortsetzen, wie wieder vom Gipfel herunterkommen, ohne dass die Aufmerksamkeit des Lesers abstürzt? Muss die große Linie des Buches immer ein Crescendo sein von der ersten bis zur letzten Zeile? Nein, man kann die Tempi innerhalb auch einzelner Teile des Buches variieren, man kann mit Rhythmusbrüchen spielen, man kann den letzten Satz eines Abschnitts nachhallen lassen. All diese Dinge sind kalkulierbar, sie lassen sich dosieren und aufeinander abstimmen. Das sind technische Details, eine Sache des schriftstellerischen Handwerks. Ein Buch muss dem Leser wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen und nicht wie etwas Vorsätzliches oder Konstruiertes. Aber diese Selbstverständlichkeit muss er, der Schriftsteller, erst konstruieren.
Es sind, glaube ich, beim Schreiben immer zwei Begriffe im Spiel, zwei augenscheinlich unversöhnliche Dinge: Dringlichkeit und Geduld.
Die Dringlichkeit schafft den Antrieb, den Schwung, das Tempo – und die Geduld fordert die Langsamkeit, die Beständigkeit und die Anstrengung. Aber beide sind unabdingbar für das Schreiben eines Buches, die eine wie die andere, in unterschiedlichen Proportionen, in verschiedenen Dosierungen, jeder Schriftsteller entwickelt da seine eigene Alchemie, eines der beiden Merkmale kann dominant, das andere rezessiv sein, wie beim Allel, das die Farbe der Augen bestimmt. So gibt es unter den Schriftstellern die Dringlichen und die Geduldigen, jene, bei denen die Dringlichkeit den Ausschlag gibt (Rimbaud, Faulkner, Dostojewski), und jene, bei denen die Geduld hervorsticht – Flaubert, natürlich, die Geduld in Person.
Normalerweise lenkt die Dringlichkeit das Schreiben eines Buches, und die Geduld ist nur ihre unentbehrliche Ergänzung, die nachträglich die ersten Manuskriptfassungen korrigiert. Bei Proust dagegen scheint es, dass die Geduld der Dringlichkeit vorausgeht. Es gibt bei ihm keine ersten Fassungen von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, er begnügt sich damit, sein Leben zu leben, nimmt sich alle Zeit, so als ob er sich wiederlesen würde, bevor er überhaupt etwas geschrieben hatte. Die Geduld ist sein Leben, die Dringlichkeit ist sein Werk. Aber jede persönliche Eigenart, ein eigenes Werk zu konzipieren, ist eine einmalige Neurose. Kafka setzte sich jeden Abend an seinen Schreibtisch und wartete auf seine Inspiration, die ihm den Elan zum Schreiben verlieh. Er hatte diesen tiefen Glauben an die Literatur, er glaubte nur an sie, er wollte nichts anderes sein als Literatur (»Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will.«), und er hoffte jeden Abend, dass dieser für ihn unerreichbare Idealzustand über ihn kommen werde: Schreiben. Manchmal allerdings kam die Inspiration. Das Urteil hat er in einer Nacht geschrieben, und auch Die Verwandlung entstand im selben Zustand der Gnade. Doch neben diesen fiebrigen, dringlichen Nächten erbrachte das alltägliche Handwerk des Schreibens für Kafka nur eine karge Kollekte. Nichts kommt, niemals. Tag auf Tag notiert er in sein Tagebuch: »Heute nichts geschrieben.« Wie sehr habe ich die Tagebücher Kafkas geliebt, ich habe sie voller Hingabe gelesen, ich habe von ihnen gezehrt, habe sie immer wieder zur Hand genommen und sie studiert, mit Anmerkungen versehen, über sie nachgedacht. Einige der Sätze der Tagebücher sind furchtbar, grausam, hellsichtig, alle sind ergreifend: »Unsicherheit, Trockenheit, Ruhe, darin wird alles vorübergehn.«

Die Geduld

Alles beginnt und alles endet beim Schreiben eines Buches mit der Geduld. Am Anfang muss man das Buch in sich einfließen lassen, das ist die Reifephase, erste Bilder kommen, das Personal deutet sich an. Man sammelt Material, macht Notizen, arbeitet im Kopf einen ersten Gesamtplan aus. Wenn man diese Vorbereitungsphase zu sehr übertreibt, gerät man in Gefahr, den Roman nie zu beginnen (in gewisser Hinsicht das Problem von Roland Barthes), so wie es dem Erzähler von Fernsehen geschieht, der aus übertriebener Skrupulosität und Perfektionswahn sich damit begnügt, sich ständig auf das Schreiben vorzubereiten, »statt der Bequemlichkeit nachzugeben und mich wirklich ans Schreiben zu machen«. Denn auch wenn es von essentieller Bedeutung ist, einen Text lange in sich zurückzubehalten, so ist es auf der anderen Seite unerlässlich, ihn eines Tages auch loszulassen. Ist dann die erste Seite geschrieben, druckt man sie aus und liest sie erneut, man verbessert, streicht, verfolgt die Spur, die sich durch den Text zieht, man korrigiert, fügt ein paar Sätze mit der Hand hinzu, schlägt ein Wort nach, formuliert eine Redewendung neu. Dann druckt man das Blatt erneut aus und fängt wieder an und korrigiert, verifiziert nochmals, druckt wieder aus und liest wieder und so endlos weiter, man sucht die Fehler, schlägt die Schlacke ab, bis zur endgültigen Entpuppung der Druckfahnen.
Wie ich den Moment liebe, wenn ich im Morgengrauen das Manuskript, an dem ich gerade arbeite, vorsichtig aufschlage und im Haus noch alles schläft. Es gibt eine Vielzahl von Strategien, mittels derer man versuchen kann, einen frischen Blick auf ein Manuskript zu bekommen, ihm eine Falle zu stellen, es zu überraschen, so ganz unerwartet, als würde man es zum ersten Male wirklich entd...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Der Tag, an dem ich angefangen habe zu schreiben
  6. Meine Arbeitszimmer
  7. Die Dringlichkeit und die Geduld
  8. Wie ich einige meiner Hotels konstruiert habe
  9. Literatur und Film
  10. Proust lesen
  11. Ich, Rodion Romanowitsch Raskolnikow
  12. Der Tag, an dem ich Jérôme Lindon begegnet bin
  13. Für Samuel Beckett
  14. Das Ravanastron
  15. Im Autobus Nummer 63
  16. Zitatverweise
  17. Impressum
  18. Über den Autor