Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam
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Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam

  1. 280 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Wie ein Blitz schlägt Frank Z., ein Musiker aus Kalifornien, an einem heißen Sommerwochenende des Jahres 1969 in den beschaulichen Ort in der Wetterau ein. Aus der Dorfdisko hört man zwar schon Beatmusik, aber der Alltag in Randstetten ist von den wilden Sechzigern noch weit entfernt. Als der amerikanische Hippie mit seinem VW Käfer wegen einer Panne liegenbleibt, gerät das Leben der Ortsbewohner in Unordnung. In der Pension "Zum Grünen Baum" begegnet er Ev, der siebzehnjährigen Tochter des Hauses. Ev verliebt sich in ihn und eine bislang verschwiegene Geschichte droht sich zu wiederholen. Doch die Veränderungen, die das plötzliche Auftauchen des Amerikaners in Gang gesetzt hat, sind längst nicht mehr aufzuhalten.Aufbruch und Umbruch bestimmen dieses Sommerwochenende in der Wetterau. Mit sicherem Gespür für Stimmungen und die Seelenzustände ihrer Figuren gelingt es Britta Boerdner, die Atmosphäre der Zeit einzufangen und durch ihre präzise Sprache in flirrendes Schwingen zu bringen."Besser kann die Liebe nicht anfangen als mit Frank Z. im Grünen Baum – Britta Boerdner erzählt von der Herzensprovinz in uns allen und eröffnet den Lesern damit eine Welt: die kleine Welt ihrer Heldin Ev, in die die große weite Welt samt E-Gitarre und Schnauzer einbricht, geschrieben in einer Sprache, die das Unglaubliche mühelos glaubhaft macht." (Bodo Kirchhoff)

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783627022457

In-A-Gadda-Da-Vida

1.

Ev ist spät dran. Traut sich nicht in den Gastraum hinunter, obwohl sie doch will, dass er sie so schnell wie möglich wiedersieht, sie nicht vergisst. Sie ist früh wach, legt sofort die erste Mix-Kassette ein, ohne den richtigen Song zu finden, dann die nächste, spult vor und zurück wie eine Weltmeisterin. Liegt auf dem Bauch, die Arme aufgestützt, vor sich den Rekorder, kein Lied ist ihr recht, sie sucht nach etwas Bestimmtem, weiß aber nicht, wonach. Irgendwo in der Mitte der Kassette sind ein paar Songs, die richtig gut sind. Je mehr Band der Rekorder zu spulen hat, desto langsamer wird er, leiert, als wäre er der Aufgabe nicht gewachsen. Sie spielt mehrere Lieder an, hält keines durch, denkt bei allen daran, wie sie Frank wohl gefallen, denkt bei Sugar, Sugar (irgendwie nicht modern genug) schon an Crimson and Clover (zu lahm), hält immerhin One von Three Dog Night, das sie manchmal spätabends noch hört, wenn sie schon im Bett liegt (sehr erwachsen), eine knappe halbe Minute durch. Fühlt sich, als hätte sie zu viel Kaffee getrunken, und die ganze Musiksucherei wird plötzlich zu einer Sucht nach der richtigen Musik zum feeling, immer wieder überlaufen sie Schauer, aber innerlich, würde sie sagen, wenn sie es Lilli beschreiben würde. Genau das richtige Ziehen im Lied muss es sein, eine Entsprechung zu dem, was sich in ihr verwandelt hat, den Kopf und das Herz verdreht und ihr auch den knurrenden Magen beschert hat, weil sie gestern nur zwei Brötchen gegessen hat und abends nach dem obligatorischen Salamibrot bei der Oma in der Küche nichts mehr essen konnte. Gar nicht denken kann an Essen. Der Hunger nun aber nicht unangenehm, eher eine Leichtigkeit in ihrem Körper. Sie findet sich sowieso zu dick. Erst in der letzten Petra hat sie eine Zeichnung von Reiterhosen an der Außenseite zweier Oberschenkel gesehen, dazu gestrichelt die ideale Oberschenkellinie, daneben der Text, dass man Reiterhosen nicht früh genug Einhalt gebieten kann, darunter ein Vorschlag für eine Eierdiät. Auch ihre Mutter hat den Artikel gelesen, das sah sie an den Brötchenkrümeln im Falz der Petra. Das Knurren im Bauch ist nun also genau das Richtige, sie fühlt sich lebendig damit, es ist, als verdichtete sich alles in ihr, ein Schärfen der Konturen von innen heraus, bei dem die Ränder, die Geräusche im Haus und auf der Straße, die kommende Woche, ausgeblendet sind. Sie kann sich nicht vorstellen zu frühstücken, ihr Magen ist ein Knoten beim Gedanken daran. Stattdessen springt sie auf vom Bett und vor den Spiegel, um ihre Schenkel zu überprüfen, gerade läuft Lay Lady Lay, auch nicht das Gelbe vom Ei. Es muss noch etwas geben, das besser passt, Elvis vielleicht, oh Gott, nein, da fällt ihr ihre Mutter wieder ein. Irgendwie ist das alles nichts. Erst bei You’ve Made Me So Very Happy und einem Blick aus dem Fenster in den blauen Samstagshimmel über Randstetten hält sie inne, ein Song, den sie eigentlich zu aufgesetzt findet, immer wenn es schön wird, folgt ein Taktwechsel, der aber nun ganz anders klingt, zu ihr passt mit seinen klaren Bläsern, die sie so sehr treiben, dass sie sogar vor ihrem Spiegel auf und ab hüpft dazu, ihre Haare fliegen lässt, mit beiden Augen in die Sonne schaut, sich beim Umdrehen ihr Schienbein am Bettkasten stößt und schließlich duschen geht.
Wieder zurück in ihrem Zimmer, zieht sie sich zweimal um, erst das Hängerchen mit den großen, blassen Blumen, im Frühling hat sie zwei davon genäht, Burda-Schnittmuster, das andere helles Leinen, einfarbig. Das jetzt also angezogen, A-Linie, ganz einfach, und doch irgendwie eine Verbindung zwischen London-Mini und Hippie. Aber zu rausgeputzt für einen Samstagmorgen, also wechselt sie zu ihrer abgeschnittenen Jeanshose, die mit den Fransen, die ihr die Oma einmal spätabends noch umgenäht hat und die deshalb kürzer geworden ist, weil Ev den Saum wieder abschnitt und die Querfäden mit Schere und Daumen herauszog, damit wieder Fransen am unteren Rand entstehen. Ihr hellblaues Trägerhemd drüber mit dem Aufdruck I was in Carnaby Street. In die Riemchenschuhe geschlüpft, dann wieder ausgezogen und die Jesuslatschen an. Vorher noch die Fußnägel ordentlich und doch so ungeduldig geschnitten, dass es beim kleinen Zeh sogar ein wenig blutet. Ein bisschen Spucke auf den Finger. Fuß- und Fingernägel sind wichtig, stell dir vor, du hast einen Unfall und kommst ins Krankenhaus, sagt die Mutter immer. Jeden Tag duschen und ein frischer Schlüpfer, obwohl die Oma, die Waschlappen benutzt, einen für oben und einen für unten, manchmal Ev und Rosi werktags über den Rand ihrer Brille hinweg anschaut und mahnend an die Wasserrechnung erinnert.
Noch mal zum Fenster hinausschauen, was draußen los ist. Ob sich das Dorf verändert hat. Ob Frank vielleicht unten entlanggeht, den sie so dringend sehen möchte, obwohl sie sich auch ein wenig davor fürchtet. Weil er sie vielleicht nicht mehr so anlächelt wie am Abend zuvor oder noch genauso lächelt, wo er sie doch jetzt anders anlächeln soll. Sonst niemanden anlächeln soll. Nur sie, als wäre er ein Mann aus einem Film. Wenn er jetzt unten auf der Straße stehen würde, vielleicht allein oder auch mit Rudi zum Beispiel, würde es das Ganze leichter machen. Wäre nicht so direkt, wie im Gastraum plötzlich vor ihm zu stehen und nicht zu wissen, was man sagen soll. Wenn er unten auf der Straße stehen würde, könnte er hochschauen, weil er ahnt, sie ist da. Dann könnte sie ihm zuwinken von hier oben, und sie würden beide lachen. Doch unten auf der Straße ist nur die Oma. Hat schon gefegt, die Zigarettenkippen vom Vorabend sind mit dem restlichen Straßenschmutz in einem Blecheimer gelandet. Auch den Windfang hat sie bestimmt schon abgefegt, er muss im Sommer gegen den Straßenstaub schützen, darauf besteht die Oma. Sie ist allergisch gegen Schmutz, sagt sie, und wenn sie nicht mit Putzen beschäftigt ist, gibt es irgendwo einen Flecken, den sie mit einem Geschirrhandtuch abreibt. Flüchtling! Aber sauber!, sagte das Dorf, nachdem es sie lange beobachtet hatte. Jetzt schrubbt sie tief vornübergebeugt die schwarz-grau gesprenkelte Steintreppe vom Grünen Baum, unermüdlich sind ihre Bewegungen in der leuchtend blauen Kittelschürze, ihre Hände rot und nass am Schrubberstiel, den sie dreht, um mit der Kante etwas von der obersten Treppenstufe zu kratzen. Kaugummireste wahrscheinlich, immer nur nachts ausgespuckt, ein letztes Aufbegehren der Dorfjugend gegen die Langeweile, bevor man nach Hause geht. Schutzlos dabei ihr Nacken, der vorgebeugte Kopf mit den eisgrauen Haaren. Ahnungslos die ganze Oma, die nicht weiß, ihre Enkelin schaut ihr von oben zu. Das immer gleiche Leben. Meine immer gleiche kleine Omi. Am Himmel wird das Blau des Samstags kräftiger, als würde der Tag auf seine Füße gestellt. Plötzlich ist es gar nicht mehr so eintönig wie das Blau des Freitags und aller Tage zuvor, sondern rein und sehr hoch. Von der Farbe her eine Entsprechung zur Kittelschürze der Oma und zu den blauen Teilen in der Collage, die Ev im Winter auf ein Doppelblatt der Wetterauer Zeitung geklebt hat, ein kompliziertes Bild aus ausgeschnittenen Meereswellen, Biafra-Kindern, dem Papst, wie er den Saum eines Kleides küsst, und Nesquik-Werbung (Nesquik schmeckt und gibt mehr Mumm!). Sie summt zur Musik, wo sie auch hinschaut, sieht sie etwas, das etwas anderem ähnelt. Die Kittelschürze, der Himmel, die Meereswellen. Das rote, runde Zierkissen auf dem Boden, das später aufs gemachte Bett kommt, das Poster mit dem runden Peace-Zeichen, ein rotes Amulett, in Frankfurt gekauft, in ihrem Zimmer hat sie es an einen Nagel in der Wand gehängt. Rudis kugelrundes Gesicht in ihrer Vorstellung. Ihre braunen Halbschuhe, die Farbe ihrer Schultasche, das Leder von Franks Jacke (in ihrer Vorstellung).
Nach dem Duschen hat sie die Sucherei auf dem Kassettenrekorder aufgegeben, stattdessen ihr Kofferradio angeschaltet, AFN, bei Mrs. Robinson setzt sie sich für einen Moment auf ihr Bett und kann nicht anders, singt zum Schluss mit, bis die Musik allen Raum einnimmt und sich ihr Kopf anfühlt wie mit reinster Luft gefüllt oder, noch besser, mit Helium, wie es für die Luftballons benutzt wird, und man nach dem Einatmen nur noch rumalbert, bis einem die Tränen vor Lachen übers Gesicht laufen, weil die eigene Stimme plötzlich zur Micky Maus geworden ist.
Zum Schluss, obwohl sie kaum noch Geduld hat, zieht sie sich den Mittelscheitel noch einmal so kerzengerade wie möglich, ohne Haarspray, ohne den Hinterkopf zu toupieren, wie es Uschi Nerke im Beat-Club macht. Am Haaransatz in der Stirn gibt es immer Schwierigkeiten. Da dürfen die Haare nicht nach oben springen, sieht sonst nach Dauerwelle und Hausfrau aus. Müssen ohne Welle und glatt nach unten, rechts und links vom Gesicht. Im Spiegel sieht sie mit zusammengekniffenen Augen aus wie eine Mischung aus Fremdsprachensekretärin, Swinging London und Hippiemädchen. Als Suzie Q anfängt, mit dieser angezerrten Gitarre, die ihr von hinten das Herz anhebt, hat sie schon viel zu lange herumgetrödelt. Muss jetzt sofort, auf der Stelle, hinaus und hinunter, obwohl es endlich die richtige Musik ist. Oh, Suzie Q, baby, I love you, Suzie Q. Keine Frage, keine Klage, eine unveränderliche Aussage. Schlagzeug, Gitarre, Bass wie Satzzeichen, wie Punkte. Unumstößliche Feststellungen. I like the way you walk, I like the way you talk, Suzie Q. Da weiß es jemand. Niemand im Dorf hat so eine Stimme, niemand wird jemals etwas so wissend sagen, sie werden immer nur jammern oder sich beschweren mit ihren vorwurfsvollen Stimmen, und Ev weiß plötzlich, sie will nichts mehr hören aus dem Dorf.
Ein wirklich allerletztes Mal überprüft sie sich im Spiegel. Die ganze Ev. Singt laut auf Deutsch mit, als sie sich dem Radio entgegenbeugt, um es auszuschalten, deine Haare sind beinahe trocken, Evi Böhm, ein Nonsenstext, der ihr eingefallen ist, weil alles in ihr so schnell wie ein Blitz ist. Und ihre Stimme plötzlich ohne Musikbegleitung, nachdem das Radio mit einem leisen Knacken des An- und Ausknöpfchens still geworden ist. Ihre Stimme klingt so nackt in ihrem Zimmer, dass sie vor sich selbst erschrickt, aber auch so hell wie die eines kleinen Mädchens, so schief, dass sie über sich lachen muss, bevor sie nun wirklich hinaus- und hinuntergeht.
Die Oma hat ihm das Kraftmeierfrühstück für die Fernfahrer und die Vertreter gemacht, die freitags auf samstags nur dann übernachten, wenn es zu spät geworden ist und zu Hause niemand wartet. Heute ist keiner von ihnen da, im Sommer fährt man auch mit einem späten Bierchen im Kopf noch nach Hause, eins Komma drei Promille sind erlaubt, der Mensch hat schließlich auch mal Feierabend.
Ganz allein sitzt Frank im Gastraum. Ein weichgekochtes Ei, die übliche Platte mit Schwartenmagen, Kochschinken, Salami stehen vor ihm. Marmelade, die Wilhelm der Oma bringt, in abgepackten Plastikschälchen. Brombeer, Erdbeer. Im Brotkörbchen nicht nur drei Wasserweck wie üblich, sondern auch eine Graubrotscheibe. Ein Kännchen Kaffee. Ev sieht alles auf einen Blick, noch bevor sie die untersten Treppenstufen erreicht. Nimmt die letzten Stufen so zögernd wie Rudi sonst immer, mit einer Hand auf dem Geländer. Noch oben in ihrem Zimmer hatte sie es eilig, plötzlich schlägt mit jedem Schritt alle gute Laune in eine Art Unterdruck um, der sie verzagen lässt vor dem Mann, der in Fleisch und Blut dort drüben am Tisch sitzt. Vielleicht bin ich ihm zu jung, zu unansehnlich, zu spießig, denkt sie mit jeder Stufe. Vielleicht gehöre ich für ihn zum Dorf wie alle anderen auch. Bild dir bloß nicht ein, du bist was Besonderes, nimmt sie die Stimme ihrer Mutter vorweg. Aber es hilft ja nichts, sie kann sich nicht verstecken wie ein kleines Mädchen. Ist sie ja auch nicht. Einen Fuß vor den anderen.
Auf jeden Fall hat ihn die Oma gut eingedeckt. Als müsste er nach den Ereignissen am vorangegangenen Abend wieder zu Kräften kommen. Als wäre es der Oma peinlich, was sich zugetragen hat. Ist es ja auch. Ev mag gar nicht daran denken, was er davon hält, wenn sich erwachsene Männer dermaßen besaufen, dass sie sich nur noch schwitzend anblöken und ein Vater seinem Sohn vor aller Augen ins Gesicht schlägt. Sie hofft, er hat nicht allzu viel davon mitbekommen, und wenn doch, weiß er, bitte, bitte, sie gehört nicht zu diesen Leuten, und wenn er es nicht weiß, dann soll er entdecken, wie anders sie ist, wie sehr sie es wert ist, entdeckt zu werden. Genau, sie ist es wert. Du bist meiner Liebe wert, sagt man das nicht so? Oder: Du bist meiner Liebe nicht wert. Bei diesem Gedanken wird ihr auf der zweituntersten Treppenstufe, kurz vor der Entscheidung, einfach zu ihm hinzugehen und guten Morgen zu sagen, ganz heiß im Gesicht. Angefüllt mit Scham über diesen seltsamen Gedanken an die Liebe und weil sie im Kopf allem vorausgeeilt ist, weil ihr genau das jetzt bestimmt ins Gesicht geschrieben steht, sie sozusagen nackt vor Frank stünde, will sie nichts anderes als unsichtbar werden. Sie brächte sowieso kein Wort heraus. Leise genug ist sie ja, er hat sie bis jetzt nicht bemerkt, so scheint es. Schnell schiebt sie einen nächsten Gedanken hinterher, um den peinlichen Gedanken von eben auszumerzen, noch immer glüht ihr Gesicht, sie weiß gar nicht, warum sie dieses schale Gefühl hat, weiß nicht einmal mehr genau, was sie eben dachte, irgendetwas mit Liebe und Wert, ein Satz aus einem alten Film, wie er der Oma gefallen könnte, ein Satz, der mit Brokat umstickt zu sein scheint, so absolut, dass er schon wieder falsch klingt, schwarz-weiß nach Zarah Leander und selbst gewählter Einsamkeit, auf jeden Fall erschreckend für diesen Samstagmorgen, an dem doch gar nichts passiert ist. Und weil man den Zustand nicht erfassen kann, in dem man sich befindet, sich selbst nicht wahrnimmt, niemals beurteilen kann, wie die Dinge wirklich stehen, flieht Ev in der Ahnung dessen, was auf sie zukommt, in das nächstbeste Überschaubare, mit dessen Hilfe sie sich aus verträglichem Abstand sehen, Luft schöpfen, lachend neben sich stehen kann. Rasch macht sie also mit dem letzten Schritt von der Treppe auch einen wohltuenden Schritt zur Seite, steht sich selbst zur Seite mit dem Gedanken, wie sie nämlich Lilli erzählen würde, was gerade passiert. Hinter ihre Hoffnung auf die Liebe schiebt sie also einen ganz anderen Satz, der alles auf den banalen Boden der einzigen Tatsache bringt; brennt darauf, ihn Lilli bald sagen zu können, möchte beinahe schon alles, alles hinter sich gebracht wissen, weil es erst hinterher wirklich wahr wird, erst dann, wenn sie es ausspricht und ihre Aufregung in Lillis vor Begeisterung weit geöffneten Augen gespiegelt sieht: Oh mein Gott, Lilli, du ahnst es nicht, wie aufregend das alles ist, er ist so süß, er ist so toll, so männlich!, und seine Stimme solltest du erst mal hören, und überhaupt, weißt du was?, ich glaub, ich hab mich total in ihn verliebt! Schon jetzt freut sie sich darauf, später am Telefon alles haarklein mit Lilli durchzusprechen, hört quasi schon Lillis Stimme, die hundertprozentig sagen wird, Och komm, wie jetzt, erzähl! Aber alles von Anfang an!
Er sitzt also am gleichen Tisch wie am Abend zuvor, liest in einem Buch, das er mitgebracht hat, oder macht sich Notizen, das wiederum kann sie nicht genau erkennen, als sie jetzt die Kehre der Treppe nimmt, am Tresen vorbei in das offene Stück Flur hin zur Küche geht, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Die Luft anhält dabei. Am besten, er hätte tatsächlich auf der Straße gestanden und sie ihm von ihrem Fenster aus gewinkt, das wäre wenigstens ein Anfang gewesen.
Alles verändert sich, sie fühlt es, ohne es benennen zu können, hat es schon beim Aufwachen gespürt oder vielleicht sogar noch früher. Wie Spielkarten, von denen man nur noch die grauen Rückseiten sieht, wenn sie auf den Tisch gelegt werden, wenden sich einzelne Dinge von ihr ab. Es kommt ihr vor, als hätte sich das schon vor einiger Zeit ereignet, doch erst jetzt kann sie es sehen. Das Alte bleibt zurück, es kann nicht anders. Das Neue, das kommt, etwas Unbestimmtes, das noch nicht zu greifen ist, ein seltsames Gefühl von luftleerem Raum ist es, eine Prüfung, die sie bestehen muss.
Vierundzwanzig Grad zeigt das Thermometer an der Tür zum Hinterhof. Ganz offensichtlich haben alle anderen ihr schon vorausgelebt, sind früher aufgestanden, denn auch in der Küche läuft das Radio, ungewöhnlich eigentlich, weil die Oma gerne ihre Ruhe hat, höchstens mal einen Sender mit Volks- oder Chormusik hört. Kein schöner Land in dieser Zeit. Jetzt aber spielt das Ende von Suzie Q, AFN also auch hier, und Ev sieht sofort, warum. Ihre Mutter, die samstags gerne ein bisschen länger schläft, sitzt am Küchentisch, liest Zeitung. Auf Rudis Platz sitzt sie, direkt mit dem Gesicht zur Durchreiche in den Gastraum. Hat ihr Haarteil noch nicht an, sondern ihre Haare nur mit der großen silbernen Bananenklammer hochgesteckt. Sie und die Oma, die schon wieder die Küche beherrscht, müssen sich gestritten haben, so eckig, wie die Oma zwischen Spüle und Arbeitsplatte hantiert und das Besteck extralaut in die Schublade wirft. Die Mutter erwidert Evs Guten Morgen nur mit einem kurzen Blick und einem Nicken. Sogar Rudi, der manchmal nicht vor Mittag aus dem Bett kommt, ist schon auf den Beinen, schmiert sich im Stehen am Kühlschrank ein Brot, lässt dabei hinter der geöffneten Kühlschranktür eine Tube Senf fallen, tritt, als er sie aufheben will, mit seinem ersten Schritt auf die Tube, noch bevor seine schwere Hand sie erreicht, und eine gelbe Senfwurst schießt über den Boden in Richtung Oma. Herrgott noch einmal, Ungeschickt lässt grüßen, sagt die Oma und wirft, obwohl sie gar nicht werfen kann, aber so wütend ist, dass man ihr anmerkt, sie würde ihm den am liebsten um die Ohren hauen, wirft ihm, fast ohne hinzuschauen, einen Lappen zum Aufwischen zu, den er nicht richtig fängt und auf sein Leberwurstbrot fallen lässt. Ev hält lieber den Mund, will sowieso keine Aufmerksamkeit. Wäre lieber ein Mäuschen, das schnell wieder aus der Küche huscht, bevor jemand auf sie aufmerksam wird. Will sich ja nur schnell einen Kaffee holen, dann wieder in den Gastraum. Steht jetzt hinter der Oma, kommt aber nicht an die Tassen, die auf dem Abtropfgestell stehen, will an ihr vorbeigreifen, stößt sie an der Schulter, versucht es auf der anderen Omaseite, doch auch die Oma bewegt sich zu dieser Seite, ein stummes Gefecht, bei dem die eine der anderen im Weg steht, bis die Oma zum zweiten Mal Herrgott sagt, sich umdreht und Ev zornig ins Gesicht schaut. Jesses Maria, kann man denn nicht ein einziges Mal seine Ruhe haben! Sofort beherrscht sie sich vor ihrer Enkelin, die mit offenem Mund und Kinderaugen dasteht, schon einen Kopf größer als sie, und von einer Sekunde zur anderen wird sie vom ungehaltenen Küchengeneral wieder zur Oma. Schaut Ev nicht in die Augen, sondern auf die Lider, auf die Stirn, die Nase, den Mund. So wie früher, wenn Ev blass im Bett lag und sie die Einzige war, die feststellen konnte, wie krank Ev wirklich war. Damals war so viel Omakompetenz tröstend, aber jetzt ruft sie nach der ersten Schrecksekunde in Ev einen Widerwillen hervor, den sie in letzter Zeit häufiger spürt. Was gibt es denn jetzt schon wieder auszusetzen an mir, liegt ihr auf der Zunge, doch sie spricht es nicht aus, einen Disput mit der Oma kann sie sich nicht leisten vor dem Gast, der da draußen sitzt, denn auch die Mutter würde sich einmischen, selbst Rudi würde sie als Blitzableiter benutzen und mit einer seiner Altmännerbemerkungen dazwischenfunken, etwa, dass man ihren BH sehen könne oder ihre Hose zu kurz abgeschnitten sei. Alles würde also sofort in ihrer eigenen Verzweiflung enden, diesem Gefühl, ins Unrecht gesetzt worden zu sein, sich allein zu fühlen und nicht zu wissen, warum. Wenn ihr dann auch noch gesagt wird, sie soll sich nicht so anstellen, soll sich gefälligst zusammenreißen, könnten sogar Tränen folgen. Seltsam, eben hat sie noch über sich gelacht, kaum ist sie in der Küche, möchte sie schreien. Sie weiß auch nicht, was mit ihr los ist.
Zum Glück hat die Oma keinen Krankenbefund. Sagt zumindest nichts. Was auch wieder ungewöhnlich ist. Stattdessen nimmt sie eine der Kaffeetassen von der Spüle, schenkt Ev aus der neuen Gastronomiekaffeemaschine ein, auf die sie so stolz ist, und drückt ihr die Tasse in die Hand. Bohnenkaffee, nicht Kaffee Hag, wie ihn die Übernachtungsgäste bekommen. Milch und Zucker musst du dir aber selber nehmen, sagt sie ganz lieb über die Schulter, dabei ist sie schon ihrer nächsten Arbeit zugewandt, den trockenen Brötchen auf der Arbeitsfläche, die für die Hühner bestimmt sind. Versteh einer die Oma.
Und schon hat sie wieder das Gefühl, draußen im Gastraum etwas zu verpassen. Vielleicht packt er gerade seine Sachen zusammen, weil er jetzt geht, und der kostbare Moment, in dem sie ihn hätte aufhalten können, ist durch ihre Dummheit verstrichen. Endlich also mit ihrer Kaffeetasse in der Hand im Gastraum hinter der Theke. Tief durchatmen, mit der Hüfte an das Unterschränkchen gelehnt, im Rücken den Blick der Mutter durch die Durchreiche. Ev, Schülerin im Fremdspracheninstitut Dr. Erna Hecker, fährt täglich mit Bus und Zug. Ist ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Going Up the Country
  6. Gangster of Love
  7. In-A-Gadda-Da-Vida
  8. Here Comes My Baby
  9. World Keep On Running
  10. Danksagung
  11. Impressum
  12. Über die Autorin