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  1. 160 Seiten
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Über dieses Buch

Sätze wie Atemzüge, gestoßen aus einem Körper, der dem Druck nicht mehr standhält. Eine Sprache im Einklang mit der inneren Bewegung der Protagonistin, die an ihren Gedanken entlanggleitet, die Glasglocke abtastend, in der sie eingeschlossen ist. Eine physische Sprache, die sich am körperlichen Empfinden der Heldin orientiert, an ihrer Taubheit, an ihrer Entfremdung von sich selbst.Julia Wolf erzählt mit außerordentlicher stilistischer Begabung von einer jungen Frau, die sich ihren Dämonen stellt. Vor vielen Jahren, als Ingrid die Welt nicht mehr aushielt, nahm sie ihre Sachen und verschwand. Raus aus dem kleinen, erdrückenden Vorort und dem Haus mit ihrer kranken Mutter, weg von dem Gedanken an Moritz, der nicht zu ihr stand. Doch jetzt ist sie schon Jahre in der Großstadt, und die Luft wird immer dünner. Ihr Bruder vertickt Drogen und ihre Kollegin in der Live-Sex-Bar liefert sie ans Messer. Als alle sie verraten haben, wird ihr klar: Wohin sie auch geht, ihre Erinnerungen nimmt sie mit. Und die Überzeugung, nichts wert zu sein. Um das zum Verschwinden zu bringen, muss Ingrid endlich handeln. Am Silvesterabend fliegt sie nach New York...

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783627022211

SECHS

Es ist Sommer, und Ingrid ist achtzehn. Schule mittelmäßig beendet, aber beendet, fürs Erste ein Job an der Tankstelle. Die Zukunft ein Wort. Was zählt: Ingrid ist achtzehn und lässt sich von niemandem mehr durch die Gegend tragen. Eine Hand unter den Knien, die andere in ihrer Achsel, nein, das will sie nicht mehr. Da gibt’s ein paar Jungs, aber keiner von denen nennt Ingrid Mädchen, das wagen die nicht.
Gordan ist auf und davon. Er wohnt jetzt bei einer Blondine namens Kerstin oder Nadine, in einer Souterrainwohnung im hässlichen Nachbardorf. Manchmal treffen Ingrid und Gordan sich auf der Tanzfläche, zufällig, dann gibt’s ein großes Hallo. Dann überschlägt Gordan sich beinahe vor Freude, schmeißt Runden für Ingrid und ihre Jungs. Schwesterchen ist eine ganz coole Socke geworden, muss man mal sagen. Weiß sich zu bewegen. Sie hat so eine Art, sich beim Gehen zu strecken, wie Fußballer es tun. Und in Schwesterchens Bauchnabel funkelt’s, wie cool. Hübsch und cool ist eine Kombination, die Jungs mögen. Ingrid weiß das, aber es hat nichts mit ihr zu tun. Sie hat gespart, der Job an der Tankstelle, 483 Mark. Das Geld liegt in einem Schuhkarton unter dem Bett, noch überlegt Ingrid, was anstellen damit. Wegfahren, nichts wie weg von hier, aber wohin?
Während Ingrid noch spart und überlegt, tut sich etwas im Haus am Rande des Ackers. Es trällert und duftet. Die Mutter hat eine neue Frisur. Ingrids Ahnung bestätigt sich. Eines Nachmittags betritt sie die Küche und sieht einen Mann vor dem Kühlschrank stehen. Der Mann bemerkt Ingrid nicht gleich. Steht einfach nur da und starrt in den Kühlschrank. Ingrid bewegt sich, gibt Laut, die Tochter des Hauses. Der Mann erschrickt und ist unendlich verlegen, Ich, was soll ich sagen. Ingrid sagt gar nichts, sie lächelt und reicht ihm die Hand. Der Mann vor dem Kühlschrank heißt Gerald. Der Händedruck völlig in Ordnung, fest und nur ein klein wenig feucht. Gerald ist dünn. Einer, der in seiner Freizeit kilometerweit rennt. Ein Mann aus Haut und Sehnen, mit Turnschuhen, mit Brille. Schütteres blondes Haar, Schnauzbart. Ingrid greift nach der Saftpackung und dreht sich um. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie Gerald den Kopf schüttelt, er schämt sich, vor fremder Leute offenem Kühlschrank gestanden zu haben.
Aus den Augenwinkeln bekommt Ingrid mit, dass es gut läuft zwischen Gabriele und Gerald. Gerald schenkt Blumen, er holt Gabriele mit seinem Auto ab. Gerald ruft an. Und Gabriele scheint sich Mühe zu geben, sie trällert, trinkt literweise Brennnesseltee.
Gabriele ist glücklich, sie möchte, dass Ingrid mit Gerald und ihr zu Abend isst. Das würde sie freuen, das wünscht sich Gabriele nun mal. Also schiebt Ingrid ihren hübschen, ihren coolen Hintern auf die Terrasse, setzt ihn auf einen der Stühle. Ihr gegenüber Gerald, im blau gebügelten Hemd. Gabriele ganz Gastgeberin, sie rennt hin und her zwischen Küche und Tisch. Ingrid und Gerald rühren keinen Finger, die lassen sich mal so richtig verwöhnen. Ingrids Mundwinkel kräuselt sich, das ist auch schon alles, sie ist bereit, ihren Teil beizutragen zum Glück ihrer Mutter, Ingrid hat Hunger. Ingrid lächelt, und Gerald putzt seine Brille. Schließlich steht das Essen, es dampft, viel Liebe ist drin, man nennt es: Paella.
Bon appétit!
Gabrieles Gesicht glüht. So heiß ist es nun auch wieder nicht, denkt Ingrid und isst. Gerald nimmt einen Happen und legt die Gabel beiseite. Gerald interessiert sich gar nicht so sehr fürs Reisgericht, der interessiert sich mehr für die Tochter des Hauses. Kauend mustert er Ingrid, als er geschluckt hat, sagt er: Der Franz hat es dir also angetan.
Ingrid sieht Gerald an, seine blitzgescheiten Äuglein hinter der Brille, und fragt sich, wieso der vom Franz weiß. Mit Franz war Ingrid hin und wieder am See, mit dem hat sie hin und wieder geschlafen. Ein netter Kerl. Das Besondere an ihm ist, dass er drei Brustwarzen hat. Links hat der Franz eine Brustwarze, rechts hat er zwei. Das sieht hübsch aus, Asymmetrie. Aber angetan wäre wirklich zu viel gesagt. Ingrid blickt in Geralds blitzgescheite, abwartende Äuglein, und da fällt ihr ein, dass Gabriele erzählt hat, was Gerald beruflich macht. Gerald gehört die Buchhandlung in der Fußgängerzone der Kreisstadt, Gerald ist Buchhändler. Und er redet nicht vom Franz mit den drei Brustwarzen und dem Japsen zum Höhepunkt, Gerald redet von dem anderen Franz in Ingrids Leben, dem mit den hohen Ohren und engen Augen, der aufgeschlagen auf dem Badewannenrand liegt. Gerald hat den alten, den zerfledderten Franz gesehen, und jetzt interessiert er sich für die Tochter des Hauses. Ingrid scheint ein Hobby zu haben, das ihm entspricht. Vielleicht lässt sich da eine Leidenschaft teilen, eine Brücke schlagen. Ingrid brummt, sie nickt, der Franz, eine Brücke.
Schullektüre?, fragt Gerald. Ingrid schüttelt den Kopf. Höchst erfreut greift Gerald nach seiner Gabel, er schiebt sich Reisgericht in den Mund und seine Freude erlischt. Gerald kaut schnell und schluckt, was hat er denn? Gerald nimmt einen großen Schluck Weißwein, spült nach. Er legt die Gabel beiseite. Verschränkt die Hände ineinander, legt sie auf seine Brust. Mit dem Franz kennt Gerald sich aus, er beginnt zu erzählen. Das ist der Moment, in dem es Ingrid aus ihrem Wohlwollen herauskatapultiert. Genau genommen ist es der Blick, über den Rand der Brille hinweg. Ingrid erträgt diesen Blick nicht. Wenn einer sie so ansieht, hört Ingrid nicht zu. Ingrid lässt Gerald reden, sie lächelt und kaut, das ist ihr Beitrag zum Glück ihrer Mutter. Mehr geht nicht. Gerald hält einen Vortrag über den einen Franz, während Ingrid an den anderen denkt, ihr fällt nichts Besseres ein. Der ist ja wirklich ganz nett, aber dieses Japsen, es sind die kleinen Geräusche, die Ingrid nicht an ihm mag. Ingrid überlegt, Franz ein letztes Mal anzurufen, noch einmal zum See, dann Schluss machen, ohne Begründung. Vielleicht zuckt Franz nur mit den Schultern, Ingrid weiß nicht, was Franz von ihr will, sie will es nicht wissen.
Ingrid isst zwei Teller Paella, Gerald zwei Bissen. Gerald doziert, und Ingrid lächelt. Sie trinken Weißwein, der Abend plätschert dahin, Ingrid schenkt zur Beschleunigung nach. Fast hätten Ingrid und Gerald Gabriele vergessen. Sie bringt sich mit einer Frage wieder ins Spiel: Schmeckt es dir nicht?
Die Mutter glüht immer noch, stellt Ingrid fest.
Gerald blickt auf seinen Teller hinab. Naja, sagt er, ein wenig versalzen, findet ihr nicht?
Gerald entpuppt sich als wahrheitsliebender Mensch. Ein Aufrechter, der nichts isst, was ihm nicht schmeckt. Auch keiner Frau zuliebe.
Mir schmeckt’s, sagt Ingrid kauend, doch Gabriele ist schon im Haus verschwunden.
Entfremdung also, sagt Gerald, ein ungelöster Konflikt zwischen Arbeit und Ich.
Samsa, sagt Ingrid und meint eigentlich So, so: Du bist also ein ganz schlauer Kerl, Gerald. Ein Buchhändler mit germanistischer Bildung. Doch weil Ingrid sich verspricht, kann Gerald nicken, er kann über den Rand der Brille hinwegsehen und zufrieden sein mit der Tochter des Hauses. Ingrid zieht in Betracht, sich die Zunge abzubeißen und sie ihm auf den Teller zu spucken. Sie stellt es sich vor, leidenschaftslos, eine Option.
Ingrid lässt Gerald reden und schiebt ihren Teller von sich. Sie ist satt, ihr hat’s geschmeckt. Sie nimmt einen großen Schluck Wein. Gerald tut es ihr gleich, der kann gleichzeitig reden und trinken. Ingrids Blick fällt auf den Stuhl, auf dem Gabriele eben noch saß. Der ist immer noch leer. Ingrid denkt an ihr rotes Gesicht, wo bleibt Gabriele?
Ich seh mal kurz nach, ob ich helfen kann, unterbricht Ingrid Geralds Vortrag. Ein wohlerzogenes, ein milde gelangweiltes Mädchen. Ingrid steht auf, sie lässt Gerald sitzen.
In Fußballer-Manier geht Ingrid den Flur entlang auf die Küche zu. Letzte Schritte und eine Vorahnung, Ingrid stößt die Küchentür auf. Sie hat es gewusst. Dort sitzt die Mutter, neben der Flasche, ihr Lippenstift ist verschmiert. Sie blickt Ingrid mit wässrigen Augen an. Ingrid steht auf der Schwelle, sie weiß, jetzt könnte sie noch. Das Glück der Mutter sich selbst überlassen und gehen. Doch Ingrid kann nicht, sie entscheidet sich anders. Ingrid entscheidet, dass Gabriele sich so was nicht leisten kann. Der Buchhändler ist womöglich die letzte Chance auf einen Mann an ihrer Seite. Und das willst du doch? Das ist es doch, was du dir wünschst? Was soll dann der Scheiß? Ingrid packt ihre Mutter am Arm, zerrt sie ins Gäste-WC, Ingrid hält das Haar ihrer Mutter im Nacken zusammen, die neue Frisur. Ingrid steckt ihrer Mutter den Finger tief in den Hals. Da wimmert die Mutter und kotzt. Vom Klo zum Waschbecken, etwas zu grob, Spül dir den Mund aus. Gabriele auf einen Stuhl in der Küche. Gerald mitteilen, dass es einen Moment dauert, nicht lang, sie bereiten gerade Dessert. Gerald putzt seine Brille, denkt über Entfremdung nach, dazu trinkt er Weißwein. Der ist versorgt. Zurück in die Küche. Dort sitzt Gabriele und hat schon wieder ein Glas vor sich stehen. Ingrid nimmt es ihr weg. Ingrid kocht einen Kaffee, einen sehr starken Kaffee, sie will ihrer Mutter helfen, auch wenn sie nicht weiß, warum. Ist eben die Mutter. Aber Gabriele zu hüten ist schwer. Die ist ein Sack Flöhe. Während Ingrid froh ist, die eine Gabi draußen zu wissen, dem dozierenden Buchhändler gegenüber, ist die andere Gabi schon in den Keller hinunter, zu ihrem Schnapsversteck. Ingrid kann ihr gerade noch rechtzeitig die Flasche entreißen. Doch es hilft alles nichts. Die nächste Gabi hat schon eine Sektflasche am Wickel. Ingrid, die in der Küche die rote Grütze auf Schüsseln verteilt, fährt beim Knallen des Korkens zusammen. Zur Feier des Tages!, schreit die Sektgabi, als Ingrid auf die Terrasse tritt. Ingrids letzte Hoffnung besteht darin, dass Geralds Äuglein hinter der Brille auch schon zu flackern beginnen. Vielleicht merkt er es nicht. Ingrid also zurück in die Küche, doch da sitzt noch eine Gabi, inmitten der Scherben, überall rote Grütze, sie wollte doch nur. Die Schälchen bringen, okay, aber habe ich nicht. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich da hinsetzen und den Kaffee trinken, die ganze Kanne am besten? Gabi, mit offenem Mund: Sieht das schön aus! Und sie hat recht, die Glassplitter funkeln wie Diamanten im Rot der Grütze, einen Moment lang, Mutter und Tochter mit offenem Mund, einen Moment lang Mutter und Tochter vereint. Doch das tut nichts zur Sache. Du sollst dich hinsetzen und – aber den Rest des Satzes hört Gabi nicht mehr, denn im Wohnzimmer dreht eine andere Gabi die Musik auf volle Lautstärke. Das Kleid mit Grütze bekleckert, in der Hand ein Glas, in dem es nur so sprudelt und schwappt, tanzt Gabriele: If you want my body and you think I’m sexy, come on, sugar, let me know … Da weiß Ingrid, dass alles zu spät ist.
Ingrid setzt sich an den Küchentisch und raucht eine Zigarette. Sie trinkt die Flasche, die Gabi hat stehen lassen, in einem Zug leer. War nicht mehr viel drin. Ingrid schickt Franz eine Nachricht: Ruf mich nie wieder an. Dann geht sie rüber ins Wohnzimmer, tanzen.
Gabrieles Gesicht glüht, aber anders als vorher. Diese Musik ist Gabis Leben, für Momente wie diesen lebt Gabi, oh Rod. Ingrids Mutter ist leicht, sie schwirrt, gleich fliegt sie davon. Ingrid zögert nicht lange, sie dreht die Musik noch etwas lauter. Auch Gerald ist von der Terrasse hereingekommen. Hey, Buchhändler!, schreit Ingrid. Lächelnd nimmt Gerald die Brille ab. Er versucht, die Welle zu reiten, Ingrid rechnet’s ihm an. Sie weiß es zu schätzen, dass er nicht abhaut, nicht gleich, denn abhauen wird er, so viel steht fest. Aber erst einmal wippt der Gerald in Gabis Richtung. Gabriele schmeißt die Hände in die Höhe und schlägt ihm dabei fast ins Gesicht. Der Gerald duckt sich, wippt aber weiter. Ingrid grölt leise, was für ein Spaß. Gabi gibt Gerald einen Kuss auf die Wange, Ingrid kriegt auch einen ab. Gerald bemüht sich, Ingrid sieht es ihm an, aber es hilft nichts. Er findet den Rhythmus nicht. Dieser Tanz ist ein Kampf. Zwischen Tochter und Mutter, zwischen zwei Krähen. Zwischen Tochter und Mutter und vielleicht noch Rod Stewart. Gerald hat nichts damit zu tun, kann nichts damit anfangen. Aus den Augenwinkeln sieht Ingrid Geralds Gesicht. Sie sieht sein Gesicht und weiß, dass er Gabrieles Atem gerochen hat. Die Säure hat sich in sein Gesicht gefressen und in sein Herz. Ingrid schließt die Augen und sieht Gerald nie wieder. Wie die Haustür ins Schloss fällt, ist nicht zu hören, die Musik ist zu laut. Well, You can love me tonight if you want, but in the morning make sure you’re gone. Was ist denn das auch für einer, der Gerald, prustet Gabi an Ingrids Hals: Redet die ganze Zeit nur von Käfern! Das geht nicht in der Musik unter, das hört Ingrid deutlich. Ingrid riecht den Atem der Mutter. Und die Wut, die die ganze Zeit schon da war (ein Käfer), die Wut gewinnt. Es ist keine blinde Wut, sondern eine kalte. Es ist eine alte Wut. Ich. Hasse. Dich. Ich tanzt zum Sofa hinüber, tanzend greift Ingrid hinter das Sofa und findet die Flasche. Das Knacken des Drehverschlusses, Ingrid packt die Mutter im Nacken, wie dünnes Holz, sie könnte ihn brechen. Ingrid gibt der Mutter zu trinken. Die Mutter hat Durst. Nicht so gierig, schön schlucken. Ingrid zählt bis drei, nein, fünf, dann setzt sie die Flasche erneut an. Schön. Langsam. Und schlucken. Ingrid zählt bis fünf. Dabei tanzt sie weiter, sie dreht sich einmal um die eigene Achse, um Gabi, die Flasche. Dann setzt sie an. Gabi will nicht. Gabi will nicht mehr trinken. Ihr ist schon. Ganz. Schwindelig. Das kommt vom Tanzen, sagt Ingrid und setzt die Flasche an. Du musst trinken. Gabi gehorcht. Ihr Kopf fällt an Ingrids Brust, Ingrid gibt ihrer Mutter die Flasche. Du bist nicht meine Mutter, murmelt Ingrid, dicht an Gabis Ohr. Sie hat’s nicht gehört, sieht aber auf. Vier, fünf, sagt Ingrid. Pirouette. Was wie wo, Gabis Blick kreuz über quer. Wo ist der Mann. Das fällt ihr erst jetzt auf. Wo der Mann ist, ein Schritt zur Seite, einer nach vorn. Ich hab keine Ahnung, aber wir sollten ihn fragen. Gerald, wo steckst du? Wir rufen ihn an. Das ist eine gute Idee. Das sollten wir tun. Gabriele wählt, Ingrid tanzt weiter. Gerald? Gerald?, ruft Gabriele, Gerald, wo bist du? Nicht meine Mutter, Ingrid tanzt auf Gabriele zu. Vergiss es, schreit sie, der kommt nicht zurück! Und ins Telefon schreit sie: Gerald, meine Mutter muss jetzt was trinken! Meine Mutter hat Durst! Dann legt Ingrid auf. Gabriele greift nach der Flasche. Sie taumelt. Knallt gegen die Schrankwand.
Beim Aufwachen Kopfschmerz. Das ist das Erste. Und das Zweite und Dritte. Vier: Sie liegt auf dem Sofa, mit einer Decke. Jemand hat Ingrid zugedeckt. Das muss dieselbe Person gewesen sein, die auch den Zettel geschrieben hat. Die Person ist rübergekommen, weil die Musik so laut war. Und hat Gabriele gefunden. Und hat einen Krankenwagen gerufen. Weil kein Lebenszeichen. Im Krankenhaus dann doch ein Lebenszeichen: Alkoholvergiftung. Der Name des Krankenhauses und eine Nummer. Gezeichnet: die Nachbarin (die waren zu schwach, das hat ihre Mami gewusst, deswegen hat sie sich auf sie gelegt. Glaub mir, ist besser so). Ingrid schläft wieder ein. Ingrid schläft ein paar Stunden, dann ist sie plötzlich hellwach. Sie steht auf, duscht, packt ihren Rucksack. Nimmt ihre 483 Mark Erspartes und fährt mit dem Fahrrad zum Bahnhof.
Vom Land in die Stadt. Eine Stadt: Skyline etc. Ingrid verlässt die Stadt mit der Skyline, die Stadt mit der Zickzacklinie am Himmel. Sie fährt mit dem Zug.
Und als sie ankommt, was? Es ist dunkel. Sobald es hell wird, wenn der neue Tag beginnt, wird sie wissen, was tun. Fürs Erste geht Ingrid in eine Kneipe am Bahnhof und bestellt Bier. Das ist der Plan. Das ist ein realistischer Plan: den kalten Schweiß vergessen, das Herz beruhigen mit ein paar Bier. Dann ist es sicher irgendwann vier Uhr, und dann ist es auch schon fast fünf, dann wird es sicher bald hell. Ein neuer Tag, ein neuer Plan. Nur dass da in der Bahnhofskneipe ein Typ ist, der lässt Ingrid nicht unsichtbar sein. Das kann der nicht, der kommt nicht darauf klar, dass eine Frau am Tisch sitzt und sich betrinken will, ohne zu lächeln dabei. Der Typ hält Ingrid für ein trauriges Mädchen. Und Ingrid: Ich seh immer so aus. Der Typ lässt nicht locker, ein trauriges Mädchen, das muss man doch aufheitern können. Nach anderthalb Bier ergreift Ingrid die Flucht, der Typ ist der Jäger, sie die Gejagte, aber nur bis zur Kneipentür.
Draußen ist Ingrid allein. Draußen atmet Ingrid die Nachtluft, drüben, im Zoo, schreit ein Affe.
Ingrid weiß nicht, wohin. Sie geht die Straße entlang, am Ende der Straße ein Park. Ein Loch in der Nacht. Ingrid setzt ihren Fuß auf den Kiesweg, tut ein paar Schritte ins Loch hinein. Aber dann, aus dem Gebüsch: eine Stimme und Rascheln. Eine Hand, die nach Ingrid greift. Pass auf, Mädchen, hier ist die Stadt, und nicht irgendeine. Auf dem Absatz, Ingrid macht kehrt, rennt zum Bahnhof zurück.
Ingrid setzt sich neben einem Geldautomaten auf den Boden. Sie legt den Kopf auf die Knie, Ingrid schläft ein.
Später wacht sie auf, weil der Typ aus der Kneipe mit den Fäusten gegen die Glasscheibe hämmert. Ingrid wendet einen alten Trick an, sie schließt die Augen, und als sie sie wieder aufschlägt, ist der Typ nicht mehr da. Es hat funktioniert, Ingrid hat ihn verschwinden lassen. Der Trick funktioniert noch einige Male in dieser Nacht, Typen tauchen auf, und Ingrid lässt sie verschwinden. Irgendwann dann der Morgen, nicht grau, sondern leuchtend, zwitschernd. Ingrid erhebt sich mit knackenden Knien. Sie faltet den Anorak zusammen und steckt ihn in ihren Rucksack. In einer Bäckerei kauft sie sich Kaffee und Kirschplunder. Sie trinkt den Kaffee, raucht einige Zigaretten, bevor sie Brüderchen anruft.
Warte mal, schreit Gordan ins Telefon, Ingrid hört Bässe und Stimmen, Lachen, dann das Klappen der Tür. Gordan ist rausgegangen, jetzt steht er zwischen gekachelten Wänden, Was gibt’s? Ingrid hört den Reißverschluss, kurz darauf ein leises Sirren. Zoff gibt’s, richtig Ärger hat es gegebe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Eins
  5. Zwei
  6. Drei
  7. Vier
  8. Fünf
  9. Sechs
  10. Sieben
  11. Acht
  12. Impressum
  13. Über die Autorin