Das Komplott zu Lima
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Das Komplott zu Lima

  1. 448 Seiten
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Das Komplott zu Lima

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Über dieses Buch

Der neueste Roman des heute 92-jährigen deutsch-argentinischen Autors Roberto Schopflocher erzählt die faszinierende Lebensgeschichte der Elvira Acostas und die dramatische Geschichte der Judenverfolgung im Südamerika des 17. Jahrhunderts.Auf der Flucht vor den in Brasilien eingetroffenen Inquisitoren Lissabons gelangt die neuchristliche Familie Acostas mit ihrem aufgeweckten Töchterchen Elvira nach Buenos Aires, damals noch ein verschlafenes Nest am äußersten Rand des spanischen Weltreichs. Doch auch von hier müssen sie fliehen, quer durch das noch unbesiedelte Südamerika. Cordoba, dann Santiago de Chile, Lima, Tucumán und wieder Buenos Aires: Elvira erlebt aus nächster Nähe das große Autodafé zu Lima im Jahr 1639 und das Erdbeben Santiagos im Jahre 1647. Abenteuerlich und spannend, ist ihr Leben dauernder Gefährdung ausgesetzt, überschattet von den Verliesen der Inquisition, vom Tod ihres zum Galeerendienst verurteilten Gatten und von der Suche nach ihrem Sohn. Mit einer an Stefan Zweig erinnernden, vergessen geglaubten Sprachkraft erweckt der Autor eine noch wenig bekannte Welt zum Leben, bevölkert von Vizekönigen und ihren Schranzen, von Alt- und Neuchristen, Glaubensrichtern und politisierenden Handelsherren, von Silberbaronen und Grabräubern, Schmugglern und Sklavenhändlern, von Gottessuchern, Messiasgläubigen und Abenteurern.

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Information

1 Elvira oder die Parallelwelt

An einem trüben Herbstmorgen anno 1619 durchschneidet ein Zweimaster die lehmbraunen Wellen des Río de la Plata. Mit gestrichenen Segeln steuert er auf den Hafen von Buenos Ayres zu, der südlichsten Einfallspforte des spanischen Weltreichs in dem – stolzem Königswort gemäß – die Sonne niemals untergeht.
Sprühregen unter wolkenverhangenem Himmel. Aus dem Schiffsinnern dringen die Litaneien der Schwarzen, die den Tod eines der ihren beklagen. Ein junges Mädchen steht fröstelnd am Bug des Schiffes und versucht, durch den Regenschleier die Silhouette des Städtchens zu erkennen, dem sie sich nähern: vereinzelte Gebäude, zwischen denen sich ein paar ärmliche Kirchtürme abzeichnen. Santa María de las Buenos Ayres de la Santísima Trinidad. Was für ein langer Namen für eine so winzige Stadt!
Ein junges Mädchen: Elvira Acosta y Enríquez. Elvirilla, die kleine Elvira, »mein kluges Töchterlein« für den Vater, den toleranten Rodrigo. Die »Vergiss-nie-wer-du-bist« für Felipa, die herbe Mutter.
Standhaft verharrt die Kleine auf ihrem Posten, obwohl die Nässe durch ihr dünnes Kleidchen dringt. Was sie jedoch kaum wahrnimmt, denn der Fahrtwind, der ihr die Haarsträhnen ins Gesicht weht, vermittelt ihr ein Gefühl der Freiheit, das sie so sehr erfüllt, dass Wind, Nässe und Kälte unbemerkt an ihr abgleiten. Die Unruhe der letzten Wochen ist vergessen. Das sie erwartende Leben in Buenos Ayres bedeutet ein spannendes Abenteuer für sie. Dem Gewisper der Erwachsenen mit der bangen Frage, ob man sie wohl unbehelligt an Land gehen lassen werde, schenkt sie keine Beachtung, zumal die Optimisten an Bord versucht hatten, derartige Sorgen zu zerstreuen. In Buenos Ayres nehme man alle Immigranten mit Kusshand auf. Die Behörden seien am Bevölkerungszuwachs interessiert, schon alleine, um sich besser vor den Angriffen der wilden Indianerstämme verteidigen zu können, die dort noch immer ihr Unwesen trieben. Und im Übrigen biete jeder Neubeginn Chancen, die es wahrzunehmen gelte. So die Behauptung der Zuversichtlichen.
Plötzlich aber wird die Kleine von der Erinnerung an den schrecklichen Ausgang ihrer Geburtstagsfeier heimgesucht. Ist es doch nur wenige Wochen her, dass ihre behütete Kindheitswelt jäh zusammengebrochen war: Nachdem sie ihre Geschenke in Empfang genommen hatte, war sie damals mit ihren Vettern und Kusinen im Park herumgetollt, als unverhofft einer der Onkel auftauchte und den Kindern befahl, ihre Spiele unverzüglich einzustellen. Dabei hatte er die Stimme erhoben, bis sie sich überschlug. Was sich anhörte, als schimpfe er mit ihnen. Verstört stoben sie auseinander. Dabei gewahrten sie die fremden Männer mit bösen Gesichtern, die ins Haus eingedrungen waren, um sich des Onkels zu bemächtigen. Dessen Sohn, Elviras Spielgefährte Eusebio, blieb schluchzend zurück.
Schmerzlich überkommt sie die Sehnsucht nach dieser Heimat, die sie so Hals über Kopf hatte verlassen müssen: die Sehnsucht nach dem fröhlichen, bunten Brasilien. Nach ihrem Hündchen Pequi mit dem verständigen Blick. Nach ihrer vielköpfigen Familie auf der Zuckerrohrplantage mit den sich unter tiefblauem Himmel wiegenden Königspalmen. Den Andeutungen der Erwachsenen hatte sie entnommen, dass viele der Onkel und Tanten, Kusinen und Vettern in sämtliche Himmelsrichtungen geflohen waren. Die meisten von ihnen nach der rettenden Karibik. In Orte, deren fremdartige Namen sie sich nicht gemerkt hatte. Dennoch war mehr als einer den Inquisitoren aus Lissabon in die Hände gefallen; wer weiß, was aus ihnen geworden war. Warum nur, warum? Und was ist eigentlich ein Inquisitor?
Während sie weiterhin am Bug des Schiffes steht und der Lärm der aufgeregten Passagiere an ihr Ohr dringt, die sich auf die Landung vorbereiten, beschleicht sie die Angst vor dem Unbekannten. Vermischt allerdings, diese Angst, mit der kitzelnden Neugier vor einer verlockenden Zukunft, die vor ihr liegt. Und als ihr geholfen wird, auf einen der großrädrigen Ochsenkarren zu klettern, der, die Konstellation der Gezeiten nutzend, die Reisenden ans Ufer bringen soll, überkommt sie erneut der unbändige Freiheitsdrang, der alle trüben Gedanken und widersprüchlichen Gefühle hinter sich lässt.
Kaum an Land – der Boden schwankte noch unter ihren Füßen –, mussten die Asylanten erfahren, dass der von den Optimisten als so sicher gepriesene Hafen doch nicht ganz so sicher für sie war, wie sie es sich vorgestellt hatten. Keiner der beiden sie in Empfang nehmenden Funktionäre warf ihnen Kusshände zu, und auch bei der Verteidigung vor Indianerüberfällen schien man nicht auf sie gewartet zu haben. Der etwas besser Gekleidete gab sich als Beauftragter des Santo Oficios zu erkennen. Kein gutes Omen! Der Gouverneur habe in den vergangenen Wochen bereits mehrere Schiffsladungen Portugiesen zurückgewiesen, schnarrte er zur Begrüßung. »Bah! Was sich so als Portugiesen ausgibt!« Als ob man nicht wisse, dass sie nichts weiter seien als Scheinchristen und judaizierende Konvertiten.
Sein Begleiter in schäbigem Wams vertrat die Zivilregierung. Er ließ sich zum vor Anker liegenden Schiff rudern, um die Schmuggelware auszumachen, die er – nicht zu Unrecht, wie sich schnell herausstellte – an Bord vermutete. Er tastete Säcke ab und bohrte Fässer an. Beide Beamte aber hatten es vor allem darauf angelegt, die Flüchtlinge zu schikanieren. Die Dokumente, die sie als Altchristen auswiesen, riefen bei ihnen nur abfälliges Grinsen hervor. Die Spatzen pfiffen vom Dach, wie man sich derartige Bescheinigungen der Reinblütigkeit erschleiche.
Während sich der Zivilbeamte mit dem Kapitän der Brigantine zurückzog, um über die Höhe des Bestechungsgelds zu verhandeln, das lockergemacht werden musste, um das Schmuggelgut auszulösen, nahm sich der Vertreter des Glaubenstribunals die Reisenden vor. Als ein Sklave seiner Pflichten sei er gehalten, die Anordnungen des Inquisitionskommissars zu befolgen. Bedauerlicherweise sei er kein Familiar des Heiligen Tribunals, keiner der »Vertrauten« mit ihren beneidenswerten Privilegien, sondern nichts weiter als ein kleiner Schreiber, der Frau und Kinderchen zu ernähren habe. Arm, aber ehrlich. Mit dem goldenen Herzen am rechten Fleck, wenn es darum gehe, jemandem eine Gefälligkeit zu erweisen.
Das harte Spanisch des Beamten klang befremdlich in den Ohren der Brasilianer, die das melodische Portugiesisch sprachen. Doch das Stichwort des Amtsinhabers, in dessen Brust ein goldenes Herz pochte, hatten sie trotz der Sprachbarriere richtig erfasst. Eifrig gestikulierend erklärten sie sich bereit, die Gefälligkeiten des pflichteifrigen Herrn gebührend zu honorieren. Allerdings möge der Caballero berücksichtigen, dass sie ins Unglück geratene Auswanderer seien, deren Vermögen man eingezogen habe. Was, wie Rodrigo Acosta hastig versicherte, keineswegs als Kritik am Heiligen Tribunal aufzufassen sei. Aber wie dem auch sei, fügte er verbindlich lächelnd hinzu, vielleicht ließen sich ein paar Pesos für einen gefälligen Caballero auftreiben.
Sie fuhren zusammen, als der goldehrliche Sklave seiner Pflichten aufbrauste. Ein paar Pesos? Habe er richtig verstanden? Er besitze seinen Stolz und lasse sich nicht beleidigen. Wie gesagt: arm, aber grundehrlich.
Einer der Flüchtlinge erhöhte das Angebot auf zwei Dublonen, das Äußerste, was zu geben sie in der Lage seien.
»Pro Kopf?«
»Nein, für die ganze Gesellschaft.«
Dann eben nicht, erwiderte der Funktionär achselzuckend. Die Señores könnten ja nach Brasilien zurückkehren. Und zwar am besten mit demselben Schiff, das sie hergebracht habe. Illegal, mit gefälschten Papieren. Gottesleugner. Spione womöglich, verbündet mit den holländischen Ketzern.
Wieder war es Acosta, der das Wort ergriff. Lächelnd. Devot. So dass sich seine kleine Tochter für die Selbsterniedrigung des Vaters schämte. Weder er noch seinesgleichen hätten etwas mit den Holländern zu tun, beteuerte er katzbuckelnd. Und alle seien sie rechtgläubige Christen und gehorsame Untertanen Ihrer allerkatholischsten Majestät, die ja bekanntlich auch in Portugal das Sagen habe, oder zumindest hatte.
Der Beamte gab sich nachdenklich. Letztlich, so räumte er zögernd ein, letztendlich dürfe man es mit der Rassenreinheit nicht allzu genau nehmen. Dass man die Ahnenprobe nur bis zu den Großeltern ausdehne, habe wohl seine guten Gründe. Andernfalls nämlich verblieben hierzulande kaum noch Spanier, deren gutes westgotisches Blut nicht durch irgendeine jüdische oder maurische Urgroßmutter verseucht sei. Leider! Leider! Er schwieg. Seinen zusammengekniffenen Lippen war anzusehen, dass er daran denken musste, wie häufig die Stadtväter den Anweisungen Madrids zuwiderhandelten, indem sie dem einen oder anderen Bader-Chirurgen, Müller oder Apotheker – samt und sonders Neuchristen mit fragwürdiger Glaubensstärke – das Niederlassungsrecht gewährten, weil ihre Fertigkeiten der Bevölkerung von Nutzen waren. Er raffte sich auf: In Anbetracht des guten Eindrucks, den die Herren auf ihn machten, wolle er mit sich reden lassen. Man sei schließlich kein Unmensch. Allerdings seien zwei Dublonen doch etwas zu dürftig, denn letztendlich …
In diesem Augenblick zog ein Häuflein halbnackter schwarzer Sklaven an ihnen vorbei. Die menschliche Handelsware, dazu bestimmt, in Buenos Ayres versteigert zu werden, lenkte Elvira von den Verhandlungen der Erwachsenen ab. Peitschenschwingende Aufseher trieben die aneinandergeketteten Afrikaner an Land. Ihre Anwesenheit unter Deck hatte man zwar gerochen und gelegentlich sogar vernommen, doch während der ganzen Überfahrt waren sie keinem der Passagiere begegnet. Elvira graute es vor den hervorquellenden Augen in ihren angstverzerrten Gesichtern. Doch mehr noch berührten sie drei greinende Kinder – ein Mädchen und zwei Buben, nur Haut und Knochen alle drei –, die den Herumstehenden unverständliche Worte zuriefen. Die Verzweiflung jedoch, die aus ihrem Gebrüll sprach, bedurfte keines Dolmetschers. Obwohl Elvira an die Existenz von Sklaven gewöhnt war, erreichte sie wohl zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben ein Hauch der menschlichen Tragödie, die sich hinter einem jeden dieser Geschundenen verbarg. Längst hatte sie die Gruppe aus den Augen verloren, als ihr einfiel, dass sie dem stolpernden Mädelchen eine ihrer Puppen hätte schenken können. Nun war es zu spät für diese Geste der Solidarität. Aber die Reue für dieses Versäumnis rumorte weiter in ihr. Eines Tages würde sie beteuern, dem schwarzen Kind tatsächlich eine ihrer Puppen gegeben zu haben – je älter sie wurde, umso überzeugter glaubte sie an diesen Akt der Menschenliebe: eine Scheinerinnerung, mit der sie, sobald es sich regte, ihr Gewissen beruhigte.
Dagegen entfiel ihr zunächst die sich unmittelbar daran anschließende Szene. Erst viele Jahre später sollte sie sich ihrer entsinnen. Und zwar ausgerechnet dann, als sie sich selbst einer lebensbedrohenden Lage ausgesetzt sah. Erst bei jener Gelegenheit fiel ihr wieder ein, wie damals plötzlich einige Mönche aufgetaucht waren, die dem Feilschen mit den Behörden ein abruptes Ende bereiteten und die Ankömmlinge ins Refektorium ihres Klosters führten, wo ihnen eine dickflüssige Suppe vorgesetzt wurde. Keiner der auf diese Weise Begünstigten ahnte, dass sie vom Protestakt der mutigen Klosterbrüder profitierten, die eine unterschiedliche Behandlung von Alt- und Neuchristen als die Folge einer verwerflichen Doktrin verurteilten.
Dies also war die Ankunft der Familie Acosta in Buenos Ayres. Genau betrachtet, war die Ortschaft nichts weiter als ein größeres Dorf: etwa zehn spärlich bebaute Häuserzeilen, die sich einige Quader tief am Strom entlangzogen, der so breit war, dass das gegenüberliegende Ufer nicht zu erkennen war. Ein kleines, im Umbau befindliches Fort an der Böschung: der Wohnsitz des Gouverneurs. Drei Klöster. Das Cabildo, in dem die Ratsherren ihre Sitzungen abzuhalten pflegten. Die von den Einheimischen großspurig als Kathedrale bezeichnete Kirche an der Plaza mayor, dem Hauptplatz. Ein winziges Spital. Das Negerdepot. »Unsere neue Heimat«, wie Rodrigo seiner Tochter mit dem ihm eigenen leicht spöttischen Unterton erklärte, während er gleichzeitig den Kopf schildkrötenartig vorschob, was aussah, als erreiche ihn eine leise Botschaft aus der Ferne.
Die neue Heimat? Elvira konnte sich unter diesem Begriff nichts vorstellen. Gab es denn »alte« und »neue« Heimaten? Kann man die Heimat etwa wechseln wie ein Kleid? Oder ist man gezwungen, mit zwei Heimaten gleichzeitig zu leben? Oder gar mit dreien? Wie etwa ihre wirklichkeitsentrückte Mutter, deren Geist gelegentlich in die Welt der Enríquez y Espinosa abirrte, jener Ahnen, die vor mehr als einem Jahrhundert aus der spanischen Heimat vertrieben worden waren, weil sie sich der Taufe verweigert hatten.
Im Vergleich zu den meisten anderen Einwanderern hatte Rodrigo, wie er selbst gerne von sich behauptete, Glück im Unglück gehabt. Gewiss: Auch er war seines Vermögens verlustig gegangen. Doch ein Kapital war ihm geblieben, das ihm niemand entwenden konnte. Die Beziehung zu seinem Cousin Manuel Bautista Pérez, dem einflussreichen Großkaufmann aus Lima. Der hatte ihn zu seinem Agenten ernannt, um seine Interessen in der praktisch noch unerschlossenen Region am Río de la Plata wahrzunehmen.
Viele Monate verstrichen, bis es ihm gelang, ein paar einigermaßen erfahrene Handwerker aufzutreiben, um den heruntergekommenen Lehmbau instand zu setzen, der seiner Familie als provisorischer Wohnsitz dienen musste. Verloren standen die wenigen Truhen in den kahlen Räumen herum. Das verrottete Strohdach, durch das der Regen auf den Fußboden aus gestampftem Lehm tropfte, und der unkrautüberwucherte Hof, in dem sich die nahezu leeren Stallungen und die fensterlosen, noch unbewohnten Sklavenhütten befanden, bedrückten Elvira nicht weniger als die Enttäuschung über den unfreundlichen Empfang, den man ihnen bereitet hatte.
Wann immer möglich, versuchte sie daher, der düsteren Stimmung im Hause zu entfliehen, die vom geistesabwesenden Schweigen der Mutter ausging. Von ihrer Angewohnheit, Fenster und Türen aufzureißen, sobald sie einen geschlossenen Raum betrat. Vom beunruhigenden Zucken, das ihr ebenmäßiges Gesicht so häufig entstellte. Von der ständigen Ermahnung: »Vergiss nie, wer du bist, Elvi!«, mit der sie eine Vergangenheit heraufbeschwören wollte, die nur noch in ihrer Phantasie lebendig war.
Obwohl es Felipa für äußerst unschicklich hielt, dass ein junges Mädchen unbegleitet durch die Straßen streune, gelang es Elvira, die neue Welt auf eigene Faust zu erforschen. Denn da die Mutter gezwungen war, fast ohne Haussklaven auskommen und sich zudem viel mit ihrem Söhnchen abgeben musste, mit dem kleinen Diego, der an den Folgen einer schlecht ausgeheilten Halsbräune litt, bot sich ihr wenig Gelegenheit, ihre Tochter zu beaufsichtigen. Dazu kam, dass sie, noch während sie mit der Einrichtung ihres Hausstands beschäftigt war, in andere Umstände kam, die ihr sehr zusetzten.
Doch Beatriz kam pünktlich und gesund zur Welt. Die Mutter allerdings erholte sich nur langsam von der Geburt. Dass sie nicht genug Milch für das Neugeborene hatte, gab der ohnehin ständig von bösen Ahnungen Heimgesuchten Anlass zu weiteren Sorgen. Unberechtigte Sorgen, denn die von einer schwarzen Amme gestillte Beatriz strotzte vor Gesundheit. Was die Mutter jedoch nicht von der Gewissensqual befreite, die ihr die Taufe ihrer Kinder bereitet hatte. Als sie von ihrem Mann auf die Konflikte hingewiesen wurde, die eine Verzögerung der Taufe unweigerlich nach sich ziehen würde, zitierte sie die Heilige Schrift im altertümlichen Ladino ihrer Vorfahren aus Hispanien: »Vor fremden Göttern sollst du dich nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich bin ein eifervoller Gott, der die Schuld der Väter an den Kindern am dritten und vierten Grad ahndet.«
Beatriz wurde selbstverständlich der Taufe unterzogen. Dass Felipa das Weihwasser verstohlen abwischte, bemerkten zu ihrem Glück die wenigsten. Sie hatte versucht, die vorausgegangene Diskussion vor Elvira geheim zu halten. Vergeblich! Ohne die Erwachsenen mit Fragen zu belästigen, nahm die Kleine Kenntnis von diesem Gespenst aus der Vergangenheit. »Manchmal kommt es mir vor, als könne Elvira durch Bretter ohne Löcher gucken«, beklagte sich Felipa bei ihrem Mann. »Da kann sie mir leidtun«, die rätselhafte Erwiderung Rodrigos.
Der behandelte sein Lieblingskind nachsichtiger als die strenge Mutter. Elvira, die reifer wirkte, als es ihren Lebensjahren zustand, durfte ihn manchmal zu den aus Schilf und Lehm errichteten Lagerschuppen in der Nähe des Anlegeplatzes begleiten. Dort beaufsichtigte Rodrigo die Mestizen und Schwarzen, die getrocknete Häute stapelten und mit Ballen aromatisch duftender Kräuter hantierten. Ein Fernkaufmann vom Format eines Manuel Bautista Pérez hatte nämlich bei vielerlei Geschäften des Kontinents die Hand im Spiel. So partizipierte er unter anderem am Handel mit den Landesprodukten Paraguays, die er auf einer Flotille von Lastkähnen stromabwärts transportieren ließ: Ballen mit Tabak und Mateteeblättern, Töpfer- und Flechtwaren. Für diesen Zweig seiner Handelstätigkeit kam ihm dieser Vetter (um genau zu sein, nur ein angeheirateter Cousin zweiten Grads) wie gerufen; schon lange war er auf der Suche nach einem verlässlichen Kontakt in dieser gottverlassenen Gegend gewesen.
Wenn Elvira, in eine Ecke gedr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Motto
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Die Route
  7. Vorspiel
  8. 1 – Elvira oder die Parallelwelt
  9. 2 – Doña Ana oder die Begegnung zweier Königinnen
  10. 3 – Juan auf Freiersfüßen oder im Schatten des Herrn
  11. 4 – Rodrigo oder verflucht mit allen Flüchen des Alten und des Neuen Paktes
  12. 5 – Baltasar oder das Tausendjährige Reich des Friedens
  13. 6 – Teresilla oder die erste Kunde von Maldonado de Silva
  14. 7 – Manuel Bautista oder Lima, die Stadt der Heiligen Drei Könige
  15. 8 – Mencía Luna oder das Zittern der Mimosen
  16. 9 – Der Sendbote aus Amsterdam oder das letzte Abendmahl
  17. 10 – Juan Sáenz de Mañozca oder das Raunen der Mauern
  18. 11 – Cristóbal oder mit Milde und Barmherzigkeit
  19. 12 – Maldonado de Silva oder Eli, Eli! Lamah sabactani?
  20. 13 – Doña Felipa oder die Geisterschlacht
  21. 14 – Andresillo oder das Erdbeben von Chile
  22. 15 – Violante oder die transkontinentale Treibjagd
  23. 16 – Blanca oder die messianischen Zeitläufte
  24. 17 – Andrés oder der Christus der Pönitenz
  25. 18 – Diego oder die Rückkehr nach Hause
  26. Glossar
  27. Impressum
  28. Über den Autor