Das Blütenstaubzimmer
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Das Blütenstaubzimmer

  1. 140 Seiten
  2. German
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Das Blütenstaubzimmer

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Jo, die Protagonistin des Romans, hat gerade ihr Abitur gemacht. Kurz entschlossen entscheidet sie sich, zu ihrer Mutter in das südliche Land zu reisen, in dem diese mit ihrem neuen Mann lebt. 12 Jahre haben sie sich nicht gesehen, die Annäherung erweist sich als schwierig. Ganze zwei Jahre, viel länger als sie geplant hatte, bleibt sie schließlich in dem Haus von Alois, dem schwermütigen Maler. Als dieser bei einem Autounfall stirbt und ihre Mutter sich im Blütenstaubzimmer einschließt, so, als wolle sie sich lebendig begraben, ist es Jo, die sie retten kann. Doch zu größerer Nähe kommt es nicht. Desillusioniert und abgestoßen von den Lebenslügen der Erwachsenen vollzieht Jo Schritt für Schritt die Trennung. Wie eine Schlangenhaut wirft sie die Welt ihrer Kindheit ab.In kurzen, glasklaren Sätzen entsteht das Lebensbild einer jungen Frau von heute. Mit nur wenigen Federstrichen zeichnet die Autorin Orte und Unorte für echte und inszenierte Leidenschaften und besticht dabei durch ihre Bilder, die von überraschender und treffsicherer Schärfe sind. "Es geht um die Unbehaustheit, um die Grundstimmung der Verlorenheit - um meine Generation", so die 23jährige Autorin in einem Interview.Das Blütenstaubzimmer kann als ein geglückter literarischer Entwurf einer neuen Generation gelten, als literarischer Zugang zu der Welt der jungen Menschen im ausgehenden Jahrtausend.Zoë Jenny gewann 1997 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für ihren Roman das 3sat-Stipendium. Noch im gleichen Jahr folgten weitere Auszeichnungen: der Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und der aspekte-Literaturpreis des ZDF.Das Blütenstaubzimmer, ihr literarisches Debut, erreichte bisher eine verkaufte Gesamtauflage von über 100.000 Exemplaren und wurde in 26 Sprachen übersetzt.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783627021818
II
Außer ein paar ausgemergelten Katzen, die sich fauchend um die herumliegenden Abfälle streiten, sind die Gassen um die Mittagszeit leergefegt. Der Wind trägt den Geruch der von der Hitze erwärmten Pisse durch die Häuserreihen, vermischt mit dem Geruch von Desinfektionsmitteln und Tomatensauce, der aus den geöffneten Küchenfenstern dringt. Teller werden scheppernd auf Tische geknallt, die Stimme eines Kindes dringt aus einem Hauseingang.
Hinter dem Bankgebäude liegt der Park. Dort sitzen Mütter mit Thermoskannen und belegten Broten auf den Bänken und schauen ihren in den Sandkästen spielenden Kindern zu. Heute ist der Park leer, und ich gehe wie immer auf den Musikpavillon zu, in dem wahrscheinlich nie gespielt wird, auch sonntags nicht, denn er ist mit Brettern zugenagelt. Ich setze mich daneben auf eine Bank und warte, bis es Zeit ist, Lucy abzuholen.
Jeden Montag fahren wir im Bus in die Stadt, ich begleite sie zu Doktor Alberti, gehe dann hierher und warte, bis die fünfzig Minuten um sind. Fünfzig Minuten dauert die Therapiestunde; viel zu kurz, hat sich Lucy einmal beklagt, weil sie erst nach einer Dreiviertelstunde richtig in Fahrt komme. Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, was sie dann redet, wenn sie in Fahrt ist, aber ich sehe Lucy in dem Sessel sitzen, die Arme über die Lehnen hängend und an die Wand blickend, mit geschlossenem Mund. Nicht ablehnend oder auffordernd, nur natürlich muschelhaft verschlossen, der Mund einer Stummen. Oder sagt sie ihm alles und mir nichts? Alles bekommt Doktor Alberti erzählt, ein kleiner dicker Mensch wahrscheinlich, mit schwarzen Haarbüscheln auf den Handrücken, einer, der seinen Namen und Titel auf ein Messingschild graviert hat und sich Seelenheiler nennt. Ich habe gelacht, als Lucy das Wort zum ersten Mal ausgesprochen hat, und sie gefragt, ob man eine Seele denn heilen könne, etwa wie ein gebrochenes Bein.
Ein paar Skater rollen über den Platz, die T-Shirts schlottern ihnen um die Knie, als sie um den Pavillon kurven; zwei Mädchen mit Schulranzen aus gelbem Nylon setzen sich auf eine Bank neben mir, packen ein Computerspiel aus und spielen um die Wette. Aus dem Kästchen piept und zischt es, und das Mädchen, das das Kästchen jetzt in den Händen hält, beißt mit den Zähnen auf der Unterlippe herum, während die andere auf den kleinen rechteckigen Bildschirm starrt und aufgeregt »Jetzt schießen. Schieß doch endlich!« ruft.
Der Weg zu Doktor Albertis Praxis führt in die Altstadt zu der Kirche, die seit einigen Jahren nicht mehr zugänglich ist, weil sie, wie mir Lucy gesagt hat, renoviert werden soll. Die Kirche steht erhöht oberhalb einer mächtigen Treppe, wie eine Mumie eingefaßt in ein eisernes Gerüst, das in der Mittagssonne glänzt. Auf den Stufen der Treppe sitzen junge Leute, die essen, schlafen oder teilnahmslos auf den Platz hinunterblicken. Vorbei an den teuren Geschäften und einer Bank, gelange ich zu der Rolltreppe, die mich in die Unterirdische Stadt bringt. Die Unterirdische Stadt trennt die obere Stadt in zwei Teile und wird als Unterführung benutzt. Unlängst hat man hier Skelette gefunden, und seither ist die Unterirdische Stadt eine Attraktion für Touristen. Rasch gehe ich durch die schwach beleuchtete, schmale Gasse. Es riecht nach kalten Steinen, und es ist immer feucht hier unten, auch im Hochsommer. Unter einer Glasscheibe, in der Erde versenkt, ist eines der Skelette ausgestellt; der Schädel, die Beckenknochen und Splitter vom Unterschenkel liegen sorgfältig angeordnet da. Vermutlich ein achtjähriger Junge, ist der Informationstafel zu entnehmen. Am Gitter davor stehen einige Touristen und flüstern. In den unbeleuchteten Nischen treffen sich die Drogensüchtigen. Sie stellen Kerzen auf, damit sie ihre Venen besser finden. Bisweilen erkennt man ihre ausgemergelten Gesichter im flackernden Licht einer Kerze oder sieht einen Steinquader, bespickt mit Kerzenstummeln, die die Reinigungstruppe, die allabendlich durch die Unterirdische Stadt zieht, vergessen hat. Ein unaufhörliches Hämmern erfüllt die Unterirdische Stadt; noch immer wird gegraben.
Am anderen Ende der Gasse bringt mich eine Rolltreppe wieder an die Oberfläche. Helligkeit und Hitze knallen auf mich herunter, so sehr, daß ich mir für einen Moment wünsche, wieder nach unten zu gehen. Oben angekommen, sehe ich als erstes das Reiterdenkmal. Fremd und unwirklich steht es neben einer dicht befahrenen Straße. Dahinter ragen die Kamine und Wohntürme in den blauen Himmel. Vor dem Reiterdenkmal sitzt ein Mädchen und spielt Cello. Man hört das Cello nur, wenn die Ampeln auf Rot wechseln und die Autos anhalten. Sie trägt blaue, über den Knien abgeschnittene Trainingshosen und schwarze Schnürstiefel. Ihr blondgefärbtes Haar ist nachlässig hochgesteckt. Eine Brille mit großen orangefarbenen Gläsern verdeckt die Hälfte ihres Gesichtes. Ich erinnere mich, daß ich sie auch das letzte Mal hier gesehen habe, auch das vorletzte Mal und alle Male, die ich hier vorbeigegangen bin. Sie scheint nichts anderes zu tun zu haben, und ihr Anblick bleibt in meinem Kopf, bis ich bei Albertis Praxis ankomme. Aufgeregt gehe ich vor dem Haus auf und ab. Es ist immer, als hätte ich Lucy schon lange nicht mehr gesehen, weil ich mich, sosehr ich mich auch anstrenge, an ihr Gesicht nicht erinnere. Sobald sie aus der Tür tritt, begrüßen wir uns mit abgehackten Bewegungen und gehen dann schweigend nebeneinander die Straße hinunter zum Restaurant.
In dem großen, nie vollen Saal mit Spiegeln an den Wänden sitzen ein altes Paar mit einem Hund unter dem Tisch und drei Männer, die kurz aufblicken und ihr Gespräch erst weiterführen, als wir uns gesetzt haben. Lucy hat ihre langen Haare nach hinten gebürstet und zu einem Knoten zusammengebunden. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch zur Seite.
»Das war’s dann. Ich gehe nicht mehr hin. Ich brauch’s nicht mehr.«
»Es geht dir also besser?«
»Ja verdammt, es geht mir besser. Du solltest mich nicht bemitleiden. Außerdem habe ich auch bisher dein Mitleid nicht gebraucht«, sagt sie gereizt.
»Ich bemitleide dich nicht. Aber die letzte Zeit war ziemlich . . . ich möchte nur nicht, daß du dir etwas antust.«
Die Kellnerin kommt an den Tisch und bringt die Speisekarten.
Lucy legt ihre zur Seite und beugt sich vor.
»Du hast befürchtet, daß ich mich umbringen könnte?«
Ich nicke, und Lucy wirft den Kopf zurück und beginnt zu lachen. Einer der drei Männer am Nebentisch blickt auf und sieht ihr dabei zu. Dann beugt sie sich wieder vor.
»Meine liebe Jo«, sagt sie, »vor drei Monaten bin ich unfreiwillig dem Tod sehr, sehr nahe gewesen. Ich glaube kaum, daß ich danach noch Lust habe zu sterben. Wirklich verrückte Gedanken hast du, meine Liebe.« Darauf nimmt sie die Karte und blättert darin. Das Gesicht der Kellnerin, die an den Tischen vorbeihuscht, hat die gleiche altrosa Farbe wie ihr Kleid, wie die Tischtücher, die Wände und der Teppich, der sich nur in einem Halbkreis um die Eingangstür bräunlich verfärbt hat. Der Mann, der vorhin Lucy beim Lachen beobachtet hat, redet jetzt lauter, ich sehe es ihr an, daß sie sich darauf konzentriert, was er sagt, aber seine Stimme wird vom flappenden Geräusch des Ventilators über uns verschluckt. Der Mann schielt unaufhörlich aus den Augenwinkeln herüber. Als die Kellnerin sich bückt, um eine zu Boden gefallene Serviette aufzuheben, treffen sich über ihrem Rücken sein und Lucys Blick. Ich erzähle etwas von Blumen, die ich in einem Geschäft gesehen habe, prachtvolle Blumen, aber Lucy hört nicht mehr zu. Abrupt schiebt sie den Teller von sich weg und erklärt, daß sie nachher nicht mit mir nach Hause kommt. Sie will noch in die Stadt. Schließlich sei ein besonderer Tag heute, sie habe Alberti alles gesagt, alles sei raus, Alois ist und bleibt tot. Sie sei endgültig fertig damit. Ich verlasse das Restaurant mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein.
Lucy lügt. Diese beiden Worte tauchen auf, zerplatzen wie Blasen an der Oberfläche, verschwinden wieder und werden deutlicher, bis sie schließlich prall und fest im Kopf sitzen. Doktor Alberti weiß gar nichts. Lucy hat ihn Sitzung für Sitzung angelogen. Jetzt, wo sie ihre Lügen für die Realität hält, braucht sie ihn nicht mehr. Es ist, als hätte ich für einen kurzen Augenblick in ein unaufgeräumtes Zimmer gesehen, dessen Besitzer vergessen hat, die Tür zu schließen. Aber die Tatsache, daß Lucy gelogen hat, entfernt sie mir nicht, nein, sie scheint sich sogar noch fester in die Haken verwickelt zu haben, die ich seit meiner Ankunft vor einem Jahr in großem Bogen nach ihr ausgeworfen habe.
An der Bushaltestelle wartet auch das alte Paar aus dem Restaurant. Sie reden auf den kleinen schwarzen Hund ein, der vor ihnen sitzt und hechelt, weil ihn die Hitze quält. Beim Einsteigen stützen sie sich aufeinander ab und murmeln sich Mut zu; ihre Füße kreisen unsicher in der Luft, bis sie endlich auf dem ersten Trittbrett zu stehen kommen und dort, in der Sicherheit, eine Weile klebenbleiben. Ich würde die Alten gerne von hinten die Stufen hinaufschieben, damit’s schneller geht, statt dessen blicke ich auf ihr schütteres weißes Haar und atme ihren säuerlichen Geruch ein. Ich kann alte Leute nicht ausstehen. In möglichst weiter Entfernung von ihnen setze ich mich ans Fenster.
Ich bin noch nie von der Stadt allein in Lucys Haus zurückgefahren. Es sind erst wenige Wochen vergangen, seit ich sie aus dem Blütenstaubzimmer herausgeschleppt habe. Manchmal wecken mich Geräusche von draußen, und ich kann beobachten, wie Lucy in der Morgendämmerung, wenn noch alles still ist, im Garten die Blütenköpfe zwischen die Finger nimmt und daran riecht. Mit den Fingernägeln zwickt sie die länglichen Staubblätter von den Stengeln und sammelt sie ein. Dann geht sie ins Blütenstaubzimmer und schüttelt den Staub herunter. Der Blütenstaub liegt überall am Boden und auf dem Fensterbrett unter den hohen Kellerfenstern. Eine Matratze mit einem Laken, der einzige Gegenstand im Raum, liegt auf der Erde zwischen den Kellersäulen. Auf dieser Matratze hatte sie gelegen, nachdem Alois gestorben war. Am Morgen nach der Beerdigung habe ich aus einem Fenster im Eßzimmer beobachtet, wie ein Müllwagen vor das Haus fuhr und Lucy und ein paar Männer alles, was Alois gehört hatte, in den Müllcontainer warfen. Die Bilder, die zu groß für den Container waren, hackte ein Mann mit einem Beil in kleinere Stücke. Gleich nachdem sie weggefahren waren, ging auch Lucy fort. Erst spät abends kam sie mit einem Korb voll frisch gepflückter Blütenköpfe zurück. Dies ging einige Tage so, und während dieser Zeit beantwortete sie keine meiner Fragen, sprach nie ein Wort. Als der Boden in Alois‘ leergeräumtem Atelier ganz mit Blütenstaub bedeckt war, schloß sie sich darin ein. In die schwere Eisentür, die in das Atelier führt, hatte Alois ein kleines Fenster eingebaut, damit Lucy sehen konnte, ob er gerade malte oder in der zwischen den Kellersäulen aufgespannten Hängematte lag. Nur dann durfte sie zu ihm hineingehen. Durch dieses kleine runde Fenster aus Plexiglas habe ich Lucy immer wieder zugerufen. Anfangs habe ich ihr auch mit beiden Armen in der Luft zugewinkt, was ich aber bald aufgab, weil sie nie zum Fenster sah. Ich versuchte, sie mit allen möglichen Vorschlägen herauszulocken. Erst waren es Ausflüge, dann Reisen in andere Länder. Zuletzt schilderte ich ihr den Plan einer Weltreise. Ich zeichnete die Route auf ein Papier und heftete es ans Fenster, damit sie es sehen und darüber nachdenken konnte. Am folgenden Morgen rief ich ihr zu: »Was ist, gehen wir?«
Sie regte sich nicht. Ich trat gegen die Tür, die sich auch nicht bewegte, als ich fluchend dagegenrannte. Das Mutterbündel, das ich durch das kleine Fenster anstarrte, lag da und schwieg. Das winzige, kaum sichtbare Beben des Atems in ihrem Körper war das einzige Lebenszeichen. Ich bat sie, mir wenigstens ein Zeichen zu geben, daß sie mir zuhörte; sie rührte sich nicht. Schließlich drohte ich ihr mit eiserner Stimme, die Ärzte einer psychiatrischen Klinik zu holen und nach ihrer Einlieferung das Haus in Brand zu stecken. Sie blieb bewegungslos, stumm, mit dem Gesicht nach unten auf dem Laken. Von Zorn gepackt, rannte ich in den Garten, nahm die Schaufel, die an einer Mauer lehnte, und zertrümmerte die Kellerfenster. Das helle Klirren der zerspringenden Scheiben erfüllte während langer Sekunden die Luft. Erst als alle fünf Fenster eingeschlagen waren, warf ich die Schaufel hin und stieg in den Keller. Lucy hatte sich mittlerweile erhoben, ich sah sie nicht einmal an, sondern ging geradewegs zur Tür, um sie von innen zu öffnen. Mit kleinen Schritten folgte sie mir darauf in die Küche. Dort begann sie zu weinen. Alle Energie war aus mir herausgeschüttet, mir war, als hätte ich keinen Körper mit Knochen und Muskeln drin, sondern bestünde nur noch aus weicher haltloser Masse. Während Lucy am Tisch saß und weinte, schnitt ich verbissen, mit zitternden Knien, das Brot für unser Abendessen.
Der Bus rast den Hügel hoch ins Dorf. Es ist die Endstation, aber die Alten rühren sich nicht, und sowie ich an ihnen vorbeigehe, sehe ich, daß sie, die Köpfe aneinandergelehnt, eingeschlafen sind. Ich hatte erwartet, daß ein Haus sich leerer anfühlt, in dem plötzlich jemand fehlt. Aber es fühlt sich nicht leerer an seit dem Tod von Alois; nur die Bilder sind weg, die überall an den Wänden hingen, Gegenstände sind verschwunden, die Bibliothek ist ausgeräumt. Lucy hat Vasen, Schalen und Körbe gekauft, um sie in die leeren Ecken zu stellen. In meinem Zimmer hat sich nichts verändert. Auf dem Tisch liegen die Bücher, die ich mitgenommen, aber noch nicht gelesen habe. Daneben die Postkarten, auf die ich schon die Marken geklebt habe, aber dann ist mir niemand eingefallen, dem ich sie hätte schreiben können.
Einmal im Monat erhalte ich einen Brief von Vater. Die Briefe kommen in einem länglichen Kuvert und sind nie mehr als eine Seite lang. Eigentlich müßte ich sie mit einem Brieföffner aufschneiden, ganz langsam. Aber ich reiße sie auf der Stelle auf, lese, während ich die Treppe hinaufgehe, und bin fertig damit, bevor ich in meinem Zimmer bin. Es steht immer auch ein Gruß an Lucy dabei; aber ich habe die Grüße noch nie ausgerichtet. Ich möchte nicht sehen, wie sie abwinkt und keine einzige Frage stellt. Lucy hat noch nie etwas gefragt.
Von meinem Bett aus sehe ich den Himmel, der unverändert blau ist. Von Zeit zu Zeit durchkreuzen Vögel das blaue Rechteck. Aus dem Nachbardorf höre ich das Rattern von Preßlufthämmern. Es werden Hotels und breitere Straßen gebaut für die hunderttausend Pilger, die im Jahr zweitausend im Nachbardorf, einem berühmten Wallfahrtsort, erwartet werden. Ich sehe diese Masse von Menschen einer dunklen Welle gleich über das Gebiet hereinbrechen. Falls ich bis dahin überleben sollte, werde ich vierundzwanzig sein.
Die Helligkeit draußen verursacht mir Kopfschmerzen. Auf der Suche nach einer Schmerztablette stehe ich plötzlich in Lucys Zimmer. Das schmale Bett neben dem Fenster ist ungemacht. Hinter ihrem Bett steht ein Kinderbettchen, auf dem alte Puppen sitzen. Anstatt nach einer Schmerztablette weiterzusuchen, beginne ich, alles anzuschauen, was sich auf Lucys Tisch befindet. Sonst würde ich das nie tun; aber jetzt fühle ich mich dazu berechtigt und weiß gleichzeitig, Lucy würde mich davonjagen, wenn sie sähe, wie ich hier in ihren Sachen schnüffle. Unter einem Schreibblock liegt eine Fotografie. Drei Leute sind darauf abgebildet, die unter einem Baum sitzen, im Hintergrund ein See. Im Vordergrund Lucy, die mit halbgeschlossenen Augen abwesend zur Seite blickt. Alois hat den Arm um sie gelegt.
Dieser Arm liegt wie ein fremder Gegenstand hölzern auf ihrer Schulter. Alois‘ Gesicht ist einem Mann mit Schnurrbart zugewandt, Paolo, dem Galeristen aus der Stadt. Er hatte Alois und Lucy letzten Sommer zu einer Party eingeladen. Sie hatten mich mitgenommen. Allerdings nur deshalb, weil Alois nicht wollte, daß ich alleine, und das heißt ohne Aufsicht, im Haus bleibe. Gleich nachdem wir dort eintrafen, stürzten Alois und Lucy in verschiedene Richtungen davon, um Leute zu begrüßen. Ich kannte niemanden und stand da in der Gegend rum wie ein nutzloses Zeug.
Ich erinnere mich an ein Gebäude, das ganz aus Glas und hellem Granit gebaut war, und an den Vorplatz, der glatt und hell im Licht der untergehenden Sonne glänzte, als hätte man ihn gerade poliert. Durch die Luft hörte ich jemanden den Satz sagen »Ideal zum Rollschuhfahren, der Vorplatz«, was mich schrecklich ärgerte, weil doch jeder, der genau hinschaute, sehen mußte, daß man darauf wie auf einer Eisfläche nur herumrutschen und sich die Knie aufschlagen konnte.
Die Gäste waren in einzelnen Gruppen auf dem gestutzten Rasen verteilt. Ich war erstaunt über die vielen Leute, die Lucy kannte. Alois kannte sie auch, schien aber im Gegensatz zu ihr keinen Wert auf ihre Gesellschaft zu legen. Er hatte es sich unter einer der Weiden in einem abgeschabten Ledersessel bequem gemacht, rauchte ununterbrochen Gauloises bleu und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel. Ich überlegte, daß er vielleicht gar nicht in den Himmel schaute, sondern die Leute beobachtete. Es kam mir vor, als ob er über eine Technik verfüge, mit deren Hilfe er die Leute röntgen könne und dabei so aussah, als würde er nur den Gang der Wolken studieren. Bald darauf zog er die ausgestreckten Beine ein und schloß die Augen. Die Männer, die um Lucy herumstanden, lachten mit weit geöffnetem Mund, so, daß man ihre regelmäßigen Zähne deutlich sehen konnte. Lucy hatte mir für diesen Abend ein weißes Kleid gegeben. Stundenlang bin ich darin in hohen Schuhen im Haus herumgewandelt und habe mich immer wieder vor den Spiegel gestellt, bis ich wußte, es war alles gut, und jetzt stand ich da, ein Glas in der Hand, wie eine auseinanderbröckelnde Statue und hoffte, daß mich niemand beachtete. Ich stand still neben einem Baum und sah aufmerksam den Ameisen zu, die eine Straße bildeten und den Stamm rauf und runter rannten. Bis mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Ein schlaksiger junger Mann, ganz in helles Leinen gekleidet, pflanzte sich vor mir auf.
»Nur ein Exzentriker kann sich solche Dinger aufstellen.«
Er sprach von den obszönen Putten, die überall auf Steinsockeln auf dem Rasen herumstanden.
»Paolo ist mein Onkel, ich weiß, wovon ich rede«, sagte er mit Nachdruck.
»Wohnst du bei ihm?« fragte ich.
»Nur während der Semesterferien, die verbringe ich immer hier. Wenn ich mehr Geld hätte, würde ich in ein Hotel gehen.«
»Du magst deinen Onkel nicht?«
»Ich sagte doch, er ist ein Exzentriker.«
Während er mich auf die drei Pfauen aufmerksam machte, die ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte und die vor den Gästen herumspazierten, als ob sie Applaus erwarteten, durchsuchten mich seine kleinen blauen Augen.
»Die Pfauen benehmen sich wie Mannequins auf dem Laufsteg«, sagte er, »wahrscheinlich haben sie sich wochenlang auf diesen Abend vorbereitet.«
»Tiere bereiten sich nie auf was vor«, entgegnete ich.
Er sah wieder zu den Pfauen hinüber.
»In meiner freien Zeit schreibe ich Gedichte«, sagte er nach einer Weile. Ich sah in sein erwartungsvolles Gesicht und wurde nervös, weil ich nicht wußte, wie man auf so eine Mitteilung reagieren sollte, und blickte unschlüssig zu den Weiden hoch. Dann sagte ich, ohne darüber nachgedacht zu haben, daß die Weiden sehr traurige Bäume sein müssen und sich die Äste wohl deshalb zu Bod...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Inhalt
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Kapitel I
  6. Kapitel II