Gegen die Laufrichtung
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Gegen die Laufrichtung

Novelle

  1. 64 Seiten
  2. German
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Gegen die Laufrichtung

Novelle

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Über dieses Buch

"Es gibt Schriftsteller, die sind Erforscher unserer Dunkelheiten. Kirchhoff gehört dazu." Süddeutsche Zeitung"Ein gerade aus dem Gefängnis Entlassener, früher erfolgreicher Tennisspieler, sucht den Ort auf, an dem sein Verbrechen geschah: das Operncafé. Erkennt man ihn noch? Die Frau, die sich zu ihm setzt, erinnert sich seiner jedenfalls nicht; sie sieht nur einen Mann, der das Lieben verlernt hat, das fällt in ihr Ressort. Sie stellt ihm Fragen, schon wird es intim, der Frau ist das geläufig. Eigentlich wollte sie ein Gutachten schreiben, auf dem Tisch liegt ihre Aktentasche - Geschenk jenes Mannes, den es immer noch gibt, auch wenn der Entlassene an diesem Tag inständig hofft, er möge nicht existieren. Bodo Kirchhoffs Novelle ist die Momentaufnahme eines Stadtlebens und zweier Menschen, und sie wirft ein Licht auf unsere leichte Zeit voller riskanter Wünsche.

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Information

I
Der Entlassene, ein nicht mehr junger Mann von Anfang dreißig, begibt sich vom Gefängnis am Rande der Stadt zu einem Café im Zentrum, dem Ort, an dem sein Verbrechen geschah, als er nämlich einen Mann erstach, den die Frau, an die der Entlassene immer noch denkt, eine Ärztin, ihm, der ein bekannter Tennisspieler war, plötzlich vorgezogen hat. Auf dem Rücken einen jener damals gerade wieder in Mode gekommenen Beutel-für-alles, geht er an diesem Septembervormittag durch eine beglückende Wärme: für ihn die erste Sonne in Freiheit seit dem Jahr, in dem Gorbatschow Honecker fallen ließ und Becker die US-Open gewann, für andere, die nie ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen haben, die letzten noch spendablen Strahlen vor den Wochen des Nebels. Die milde Luft krönt seine Entlassung; ein Grund mehr, dass ihn die veränderte Silhouette der Stadt – man denke nur an den Messeturm – völlig unberührt lässt. Er ist ganz mit der wiedererlangten Freiheit beschäftigt, etwa sich auf ein Stück Rasen zu legen, zu schlafen, oder in die nächstbeste Toilette zu gehen, ein Wort an die Wand zu schreiben, das ihn seit Beginn seiner Haftzeit verfolgt. Erst als er die Grünanlagen im Bankengebiet überquert, um so sein Ziel, den Opernplatz, zu erreichen, durchdringt etwas diese Fülle der Freiheit, die er sich eintausendeinhundert Tage lang ausgemalt hat. Der Entlassene sieht die Süchtigen. Wie der Rest einer geschlagenen Armee drängen sie sich in einer Umfriedung, die einst für Schachspieler angelegt wurde, viele mit hängenden Hosen, im weißen Bein die Nadel. Obwohl es Hunderte sind, geht es leise zu, ein leises Handeln, Weinen, Kotzen. Der Entlassene läuft jetzt rascher; er zieht eine Baseballkappe aus den Zeiten seines Erfolgs ins Gesicht, damit ihn kein ehemaliger Mithäftling erkenne, und fängt dann an zu rennen, so gut er noch rennen kann, bis er an den Ort gelangt, den er zuletzt als Vierundsechzigster der Weltrangliste betrat und nun, sehr wahrscheinlich, als Zehntausendster wiederbetritt, eben den Platz bei der Oper, angeblich einzige Perle der Stadt, nüchtern gesehen kaum weniger abstoßend als alle übrigen Plätze. Noch außer Atem setzt er sich an einen Tisch vor dem Operncafé, genau neben den, an welchem die Tat geschah – der Tisch selbst ist von einer rauchenden Frau im Mantel belegt –, und verlangt, was er auch damals als Erstes verlangt hat, Mineralwasser, bevor er die Frau im Mantel nach der Zeit fragt, um eine noch mit anderen persönlichen Dingen in dem Beutel verwahrte Uhr zu stellen. Es ist elf.
Der Entlassene behält die Kappe auf. Zusätzlich trägt er eine Sonnenbrille, obwohl die Gefahr, erkannt zu werden, hier geringer ist als in der Nähe der Süchtigen; wie eine Walze über ein Steinchen ist selbst die Geschichte des Tennis über den vierundsechzigsten Platz der Weltrangliste des Jahres 89 hinweggerollt. Zwar hat er im Gefängnis, am Anfang, Zeitung gelesen und dabei verfolgt, wie sein Land wieder eins wurde, doch immer die Sportseiten überblättert und nie die Übertragung eines Spiels angesehen: sie ist für ihn vorbei, diese Freude, sie ist so fern wie die Frauen. In seiner besten Zeit – fast wäre er, auf Sand, in das Finale von Paris eingezogen – stieß er wie von selbst zu den Frauen, und nun fürchtet er sie. Am meisten fürchtet er die Ärztin, auch wenn sie nichts weiß von der frühen Entlassung; keiner weiß davon etwas, nicht einmal seine Mutter, die sich schon neben der Herzogin von Kent gesehen hatte, als er in Wimbledon in die Vorrunde kam. Ein Kellner mit Zöpfchen bringt das Wasser, der Entlassene trinkt einen Schluck. Dann schaut er zu der Frau im Mantel. Sie raucht noch immer und hat jetzt ein Buch auf dem Schoß, offenbar einen Bildband über die Alpen; sie blättert darin und behält unterdessen – Variante zwei – die Zigarette im Mund. Eine Botschaft? Wie ihm Frauen in Hotelhallen Botschaften sandten, Indian Wells, Hyatt, oder war’s Tokio, das Hilton, als er, im Gefolge anderer, Mecir, Lendl, Cobb, wie mit sich selbst verwechselt angezwinkert wurde. Er erinnert sich nicht mehr genau, nur eine Narbe ist da noch, 2:6, 1:6, gegen Lendl. Auf jeden Fall fürchtet er auch diese Frau, trotz ihrer harmlosen Beschäftigung, die ihm aber nicht harmlos erscheinen will. Frauen mit roten Nägeln wandern nicht, denkt er, sie amüsieren sich höchstens über Leute, die wandern, wandern tun nur die Finger der Frau, sie wandern über die Seiten des Buchs, sie streichen am Papierrand entlang, sie spielen mit den Ecken, krümmen sie etwas und glätten sie wieder, er möchte wegschauen, aber schafft es nicht, da müsste er schon die Augen zukneifen, nur fehlt ihm auch dazu die Kraft; als die Frau aufblickt, setzt er die Kappe ab. Sein Haar ist grau, und im Gegensatz zu früher trägt er es kurz. Man war gewohnt, ihn mit Stirnband spielen zu sehen, einem leuchtenden Tuch, unter dem dunkle Büschel hervorquollen; nach jedem Satz knüpfte er es neu und provozierte Gegner und Schiedsrichter durch die Langsamkeit seiner Gebärden. Der Entlassene stützt das rasierte Gesicht in die Fäuste. Seine Oberlippe, drei Jahre lang von Bart bedeckt, schimmert wie die Haut eines Kindes. Dann, endlich, so als müsse er jedes Wort in der Ferne entziffern, spricht er die Frau am Nebentisch an. Klettern Sie denn? Die Frau drückt ihre Zigarette aus. Auf vierzig schätzt der Entlassene sie und wird nicht erfahren, ob das stimmt. Er wird bloß erfahren, dass die Frau als Kind ein Korsett trug und bei einer Tante aufwuchs; dieser Tante schien sie missgebildet, und aus der Missgebildeten, die keine war, wurde eine seismographische Raucherin. Wie meinen Sie das? fragt sie zurück.
Der Entlassene sucht nach Worten. Er will sagen, dass ihn ihr Interesse an einem Bildband über Gebirge auf die Idee gebracht habe, sie könne Bergsteigerin sein, obwohl sie gar nicht wie eine Bergsteigerin aussehe, wobei er zugeben müsse, dass er kein festes Bild von Bergsteigerinnen besitzt, nur von Männern, die Berge bezwingen, doch stattdessen zieht er die Brauen hoch und kränkt damit die Frau im Mantel. Sie, die bei ihrem Rauchen schon Mühe hat, die Wohnung im dritten Stock zu erreichen, fühlt sich auf den Arm genommen und kann dem Entlassenen (der ihr etwas gestrig erscheint) nur sagen, dass sie bezweifle, dass er nicht wisse, wie er seine Frage, ob sie denn klettere, gemeint habe, womit ein erstes, kleines Band zwischen ihr und ihm geknüpft ist.
Während sich beide nun einander zudrehen, erreicht die Sonne die vorderen Tische; der Entlassene schließt die Augen. Er weiß wirklich nicht, wie er die Frage gemeint hat und wird an seine letzten Stunden mit einer Frau erinnert, wenn das überhaupt Stunden waren, eine oder eineinhalb Stunden waren das, an einem späten Nachmittag, die Ärztin hat ihn noch einmal in ihrer Westendwohnung empfangen, er hat sie angefleht, mit ihm zu schlafen, er, dem junge Mädchen während eines Turniers schon einmal Nacktfotos zuspielten mit einer Telefonnummer auf dem Po, bettelte da, so muss man es sagen, um einen Beischlaf, und die Ärztin rief, Na schön, was nicht etwa hieß, dass sie ihm dieses Erbettelte auch gewährt hätte, sie gewährte ihm nur eine Art Waschung, in deren Verlauf er jedoch nichts vermisste, außer einem verzückten Entgegenkommen, das sie ihm früher beschert hatte; sie erleichterte ihn mehr oder weniger, wobei sie, mit diesem Weniger, weit mehr als seine Tropfen ans Licht brachte: einen Mangel an Stolz, und das nur zwei Stunden bevor er sie, ihr Rennrad schiebend, mit dem neuen Begleiter über den Opernplatz gehen sah. Der Entlassene bereut es, diesen Menschen, Galeriebesitzer, im Bruchteil einer Sekunde erstochen zu haben, noch immer kann er sich die Tat nur als Reflex erklären, gleich einer traumhaften Bewegung am Netz; kein Psychologe ist dieser Erklärung gefolgt. Er hört, wie die Frau im Mantel ihr Glas absetzt, er fürchtet, sie könnte gehen, und schaut auf. Sie zieht den Mantel aus: Eigentlich sieht man mir an, dass ich nicht klettere – sie legt den Bildband auf den Stuhl an ihrer Seite. Der Entlassene weiß nicht weiter; wie ein Unbefugter kommt er sich jetzt vor unter all den Menschen, die nie einen Mord begangen haben. Ich wollte Sie nicht...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Textbeginn
  5. Impressum
  6. Über den Autor