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Den ganzen Sommer über hat sie in der Stadt gearbeitet. Einer der heißesten Sommer, die man je erlebt hat. Sie gewöhnte sich an, schon bald nach Sonnenaufgang mit der Arbeit zu beginnen, wenn die kühle Feuchtigkeit der Nacht auch auf dem Dach noch spürbar war, auf dem sie für eine Hausgemeinschaft einen Garten anlegen sollte. Ein Himmelswäldchen wünschten sie sich, und sie pflanzte Zwergbirken und Zwergkiefern mit Lichtungen aus Moos, über die Pfade aus niedrigwüchsigem Thymian führten, der duftete und den Vorteil hatte, nicht gemäht werden zu müssen. Wenn die Sonne höher stieg, wechselte sie hinunter in einen Hof, der zu dem Geschäftshaus eines Goldschmieds in der Einkaufspassage gehörte. Er hatte die fixe Idee, seinen Schmuck im Freien zu präsentieren, und sie hatte für seine gläsernen Vitrinen einen Schattengarten gestaltet, in dem das Gold verlockender glänzte: schwarze Eiben vor hellgrünem Farn, blaue Anemonen in silbrigem Mädchenhaargras, Buchs neben Bambus. Eine Gartenanlage inspiriert von der japanischen Auffassung von Licht und Dunkelheit, wonach Gegenstände aus Metall erst in einer dunklen Umgebung ihre Wirkung entfalten.
Sie liebt ihren neuen Beruf, den sie wie eine Art Fortsetzung der Malerei empfindet. In den wenigen Jahren, seit sie das Malen aufgab, um Gartenbau zu lernen, hat er ihr Kunden im ganzen Land gebracht, die geduldig warten, bis sie die Zeit findet, sich zu ihnen zu begeben. In diesem Jahr hat sie für ihre Reise die letzten warmen Spätsommertage gewählt, jene Zeit, in der die Luft durchsichtiger zu werden beginnt und die besondere Stille der Nachsaison spürbar wird; wenn sich die Hotels am Meer und in den Küstenorten geleert haben, die Scharen von Kindern und weißgekleideten Frauen abgereist sind und man sich in den südlicheren Regionen auf die Weinlese vorbereitet.
Zunächst ist sie zu den Stationen gefahren, die sie von ihrer Wohnung aus gut mit dem Auto erreichen kann. Ihr letzter Besuch gilt einem Arzt, der seinen Beruf aufgeben musste, weil er erblindet ist. Ein ehemaliger Augenarzt ausgerechnet.
»Julie Zurbrüggen«, meldet sie sich über die Sprechanlage. Ein großer, hagerer Mann mit graumeliertem Haar und einer Sonnenbrille im schmalen Gesicht öffnet ihr und begrüßt sie mit Handschlag. Er führt sie in ein weitläufiges Wohnzimmer, zeigt auf einen Sessel für Julie.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
Sie schüttelt den Kopf, fügt schnell hinzu: »Danke, nein.«
Er nimmt in einem Ledersessel am Fenster Platz, schlägt die Beine übereinander.
»Sie wissen ja, wie es um mich bestellt ist. Aber ich habe eine gute Vorstellungskraft. Dieser Garten ist viel zu eintönig, nicht wahr?«
»Sie haben wohl recht. Er besteht meinem ersten Eindruck nach vor allem aus immergrünen Pflanzen, Ilex, Heide, Thuja und Feuerdorn.«
»Das hat der Architekt damals so angelegt. Wir wollten einen Garten, den man sich selbst überlassen kann und der im Winter nicht kahl ist.«
»Ein nur auf Zweckmäßigkeit angelegter Garten wirkt oft erstarrt.«
»Genau das hat mich immer an ihm gestört. Man wird das Gefühl nicht los, von Stacheldraht umgeben zu sein.«
Er wendet sein Gesicht dem Fenster zu. Ein großer Ausschnitt Himmel mit schnellziehenden Wolken.
»Ich habe gelesen, dass bei Menschen mit Sehschwäche nicht nur das Gehör, sondern auch der Tastsinn die Rolle der Augen übernimmt. Es wäre also gut, Pflanzen zu wählen, die man gern berührt. Lammfellöhrchen zum Beispiel. Wenn man ihre Blätter anfasst, glaubt man, über ein weiches Fell zu streichen. Bei Regen werden sie wunderbar glatt.«
Während sie spricht, beginnt er, mit der Hand über seinen Kaschmirpullover zu fahren. »Sehschwäche ist nett formuliert. Ich bin nahezu blind. Aber Sie haben recht. Ich glaube inzwischen, meine Haut ist wie ein lichtempfindlicher Film. Jede Berührung vermag mir etwas zu zeigen.«
»Und wir sollten Pflanzen aussuchen, die biegsam sind, deren Blätter und Zweige der Wind zum Klingen bringt, Bambus zum Beispiel, Birke oder Silberpappel. Auch Gräser. Sie sind oft schön anzufassen, und viele haben auch eine Stimme. Es gibt Sorten, die rascheln, andere rauschen, sirren oder knistern.«
Er wendet sein Gesicht zum Fenster, durch das jetzt Sonnenlicht fällt. Dann spreizt er seine Hand und bewegt sie langsam vor den Augen hin und her. Seine Züge entspannen sich. »Das ist mein Kinoprojektor. Licht- und Schattenmuster, die sich mit Erinnerungen füllen lassen.«
Er beugt sich vor und streckt ihr eine Hand entgegen. »Darf ich Sie anfassen? Dann kann ich Sie nämlich sehen.« Sie lässt es zu, dass er mit den Fingern ihren Handrücken, ihr Handgelenk, den Armansatz berührt. »Sie sind viel jünger, aber Sie erinnern mich an meine Großmutter aus England. Eine schöne Frau. Sie war die Erste, die hier einen englischen Garten anlegte. Direkt am Meer. Ich habe oft dort gespielt.«
Wieder bewegt er die Hand vor den Augen. »Auf einer weißen Bank nach Norden hin konnte man die Wellen hinter den Dünen hören. Im Sommer ging ich nach dem Schwimmen mit meinem Porzellanschälchen zu den Johannisbeersträuchern und pflückte die vom Tau feuchten Beeren für mein Frühstück. Immer blühte etwas, als Erstes im Jahr die Kornelkirsche, dann die Magnolien. Zum Herbst wanderte der Kürbis aus dem Gemüsegarten, zog seine schnurgeraden Stengel über die Wege. Auch wenn ich mein Augenlicht verloren habe, wie man so schön sagt, – die Erinnerungen sind lebendig. Wenn ich heute die Wurzel des Storchenschnabels rieche, dann sehe ich sein Pink wieder vor mir. Und der Duft der Nachtkerzen lässt ihr helles Neapelgelb in mir aufleuchten.«
»Wir könnten den Garten Ihrer Kindheit nachpflanzen. Ein Garten ist ein Ort, an dem sich vergangene Zeit wiedergewinnen lässt.«
»Das haben Sie schön formuliert. Darf ich fragen, was Sie vorhaben?«
»Ich habe eine Auswahl Pflanzen mitgebracht: Gräser, Blüten, Stauden, Duftkräuter. Ich lasse sie Ihnen als Proben hier. Sie haben sicher einen Gärtner, der sie einpflanzen kann.«
»Gehen wir hinaus.«
Draußen muss sie die Augen mit der Hand abschirmen, so stark blendet das Licht. Jetzt erst bemerkt sie die Wasserfläche zwischen den Bäumen, reflektierend wie ein Spiegel. Das Grundstück grenzt an einen See.
»Mein See ist das Herz des Gartens. Sein Gleißen dringt sogar bis in meine Dunkelheit vor. Im Winter höre ich das Knacken des Eises, im Frühjahr das leise Klirren der tauenden Eisstückchen am Uferrand.«
Während sie die Pflanztaschen auslädt, nimmt er seine Brille ab. Seine Augen sehen normal aus. »Ich trage diese Brille nur, um mir einzubilden, dass sie der Grund für die Finsternis ist, die mich umgibt. Ich danke Ihnen. Sie müssen wiederkommen, wenn alles gewurzelt hat.«
»Das verspreche ich gern.«
Am nächsten Tag nimmt Julie den Zug. Sie will ins Badische zu einem Paar, das eine ehemalige Postkutschenstation in einen Gasthof umgewandelt hat. Er, ein erfahrener Koch, der lange mit seiner Frau in der Provence gelebt hatte, holt regelmäßig mit seinem Van frischen Ziegenkäse, Trüffel, Wein und Leberpasteten aus Frankreich. Dafür lieben ihn seine Gäste. Nur gibt es zu wenige von ihnen. Julie soll eine Art Park entwerfen, der mehr Publikum anzieht. Eine kleine Kräuterreise durch die Welt, eine Symbiose von Provence, japanischem Garten und Bauerngarten, hat er ihr seine Vorstellungen am Telefon beschrieben.
Das Anwesen liegt hinter einer Mauer aus Buntsandstein, die überwuchert ist von Thymian, Lavendel und Rosmarin. Ein hohes schmiedeeisernes Gittertor verschwindet unter der Blütenpracht einer duftenden Kletterrose. Es ist nicht abgeschlossen, und Julie betritt das Gelände. Eine schwarze Katze huscht ihr über die Füße. »Von rechts nach links, Glück bringts!«, hört sie im Geiste ihre Mutter. In Finnland aufgewachsen, ist sie über die Maßen abergläubisch – im Gegensatz zu Julie selbst. Wie sie überhaupt große Gegensätze sind. Die Mutter will vom neuen Beruf der Tochter nichts wissen. Hatte sie sie nicht davor gewarnt, Malerei zu studieren, diese brotlose Kunst? Aus ihrer Sicht ist Julie gründlich gescheitert. Während das Tier die Kräuter streift und ein intensiver Duft aufsteigt, nimmt sie sich vor, die Mutter bald zu besuchen. Sie will den Graben nicht zu tief werden lassen. Es ist ziemlich lange her, dass sie sich gesehen haben.
Mit energischem Schritt kommt ein Mann vom Haus auf sie zu. Er trägt schwarze, mit grellen Neonmustern bedruckte Pluderhosen und ein schwarzes T-Shirt, das sich über seinem muskulösen Oberkörper spannt. Sein braungebranntes Gesicht wirkt besorgt.
»Eine schöne Einfahrt, ein Empfang wie im Süden«, lobt Julie und ergreift die ausgestreckte Hand.
»Ja, ja.« Er streicht sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus seinem Zöpfchen gelöst hat. »Das hier ist alles schön. Aber sehen Sie mal dort.« Er weist auf einen Hang, wo Mangold, Rittersporn und Purpur-Sonnenhut blühen, dazwischen Ringelblumen, Grünkohl, Lilien und Lauch, alles eingerahmt von dunkelgrünen Buchsbaumhecken.
»Ein prachtvoller Bauerngarten! Wie im Mittelalter. Was stimmt nicht damit?«
»Ja, prachtvoll ist er – aber viel zu normal. So etwas hat hier inzwischen fast jeder.« Hinter ihm erscheint eine hochaufgeschossene Blondine, ganz in Weiß gekleidet, die Haare zu einem Knoten gesteckt. »Janina«, stellt sie sich vor und reicht Julie eine feuchte Hand. »Ich habe gerade Pfirsichkonfitüre gemacht.«
»Pfirsichkonfitüre, Johannisbeerlikör, Pesto. Meine Frau kocht wunderbar. Nur leben hier so viele Aussteiger … jeder verkauft sein eigenes Gelee, seine Fruchtweine, und auch Imker gibt es mehr als genug. Mit solchen Produkten kommen wir auf keinen grünen Zweig.«
Die frisch gekalkte Gaststube mit ihren niedrigen Decken und einem alten Kachelofen hat viel Atmosphäre. Durch große, offenstehende Fenster blickt man in ein unbebautes idyllisches Tal. Janina bringt drei Cappuccino und einen Teller Gebäck. »Quittentaler. Selbstgemacht«, sagt sie stolz.
»Wissen Sie: Wir brauchen etwas Besonderes, damit die Leute den Umweg zu uns in Kauf nehmen. Dann würden sie auch meine Kochkurse und das Restaurant besuchen.«
Janina macht eine wegwerfende Handbewegung. »Scharenweise würden sie kommen, alles zertrampeln, die Pflanzen auszupfen und vielleicht gerade mal ein Wasser bestellen, währ...