Die Wahrheit über Marie
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Die Wahrheit über Marie

  1. 192 Seiten
  2. German
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Die Wahrheit über Marie

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Über dieses Buch

Marie und der Erzähler machen Liebe, zur gleichen Zeit, nur nicht miteinander. Sie sind in Paris, seit ihrer Trennung in Tokio ist der Erzähler ein paar Straßen weiter gezogen. Es ist eine glutheiße Sommernacht, und das eigentliche Drama steht noch bevor. Ein Mann wird sterben. Jener reiche Pferdebesitzer, den Marie in Tokio kennengelernt und mit dem sie fluchtartig Japan verlassen hat. Zahir, eines seiner Rennpferde, ist in einen Skandal verwickelt und muss aus dem Land geschleust werden, eine abenteuerliche Nacht-und-Nebel-Aktion, in der Zahir den gesamten Tokioter Flughafen lahmlegt.

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Information

#
II
In Wahrheit hieß Jean-Christophe de G. Jean-Baptiste de Ganay – ich erfuhr es einige Tage später, als ich zufällig auf die Todesnachricht stieß, die seine Familie in Le Monde veröffentlicht hatte. Der Nachruf war kurz und schmucklos. Einige wenige Zeilen in kleinem Schriftgrad, keine Einzelheiten zu den Umständen seines Todes. Die Namen der engsten Angehörigen. Seine Frau Delphine. Sein Sohn Olivier. Seine Mutter Gisèle. Nichts weiter, eine Bekanntmachung anstelle einer Todesanzeige. Ich sann einige Augenblicke über sein Geburtsdatum nach, 1960, ein Datum, das mir plötzlich wie in weite Ferne gerückt erschien, versunken in tiefster Vergangenheit, in einem weit zurückliegenden, nebelhaften und zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert, eine so ganz andere Zeit für die künftigen Generationen, mehr noch als für uns das 19. Jahrhundert, wegen dieser beiden albernen Zahlen am Beginn des Datums, diese merkwürdig angestaubten 1 und 9, die an jene ebenso unwirklichen Turbigo und Alma erinnerten, mit denen einst die Pariser Telefonnummern begannen. Und doch war ein Mann unserer Zeit gestorben, ein Zeitgenosse in der Blüte seiner Jahre, sein Geburtsjahr schien mir aber schon seltsam aus der Mode gekommen, als sei es zu Lebzeiten abgelaufen, ein schlecht gealtertes Datum, das bald nicht mehr gültig gewesen wäre und das das Leben schnell mit seiner Patina überziehen würde, denn wie ein schleichendes Gift barg es schon den Keim des eigenen Verschwindens und der endgültigen Auslöschung in diesem umfassenden Lauf der Zeit in sich.
Lange Zeit bin ich der Meinung gewesen, dass ich Jean-Christophe de G. außer in der Nacht seines Todes nie gesehen hatte. In dieser Nacht war er mir gerade einmal für ein paar Sekunden erschienen. Beim Abtransport vor der Toreinfahrt des Gebäudes in der Rue de La Vrillière war er mir, auf der Trage liegend, wie eine Gestalt aus einem Traum oder Alptraum erschienen, ein Schreckgespenst, spontan aus dem Nichts entstanden, als hätte er dieses Nichts nur für einen kurzen Moment verlassen, um gleich darauf für immer wieder darin zu verschwinden, ein auf Anhieb komplettes Bild, das sich lückenlos, in sich stimmig und in allen Einzelheiten plötzlich vor mir materialisiert hatte, nichts war ihm vorausgegangen, nichts folgte ihm, gleichsam ex nihilo erschaffen aus der Substanz der Nacht – die jähe Erscheinung vor meinen Augen, dieser leblos auf einer Trage liegende Mann, dessen erschreckend weißes Gesicht unter einer Sauerstoffmaske verborgen war, der schon fast nichts Menschliches mehr hatte, vollständig auf seine Socken reduziert zu sein schien, die sein Wappen geworden waren und seine Farben, schwarze, feingesponnene Socken aus bester Seide, noch heute sehe ich vor meinen Augen ihre Textur und ihren Glanz, das blass schimmernde Schwarz! In diesem Moment glaubte ich, es sei das erste Mal gewesen, dass ich ihn sah, aber ich hatte ihn schon einige Monate zuvor in Tokio gesehen. Es war ganz ohne Zweifel an jenem Tag in Tokio, an dem ich Jean-Christophe de G. das erste Mal gesehen hatte, völlig unerwartet war er dort an der Seite von Marie aufgetaucht, zwar nicht Hand in Hand, aber es war nicht zu übersehen, dass sie ein Paar waren, das war mir sofort ins Auge gesprungen, ein Mann, älter als sie, die Vierzig schon verweht, eher an die Fünfzig, gutes Aussehen, viel Klasse, elegant, gekleidet mit einem langen schwarzen Kaschmirmantel und einem dunklen Schal, er hatte etwas schütteres, nach hinten gekämmtes Haar. Das ist das einzige Bild, das mir von ihm geblieben ist, sein Gesicht aber fehlt und wird wohl jetzt für immer fehlen, denn danach habe ich nie mehr ein Foto von ihm gesehen.
In den auf den Tod von Jean-Christophe de G. folgenden Tagen suchte ich im Internet nach seinem Namen und war überrascht, auf viele ihn betreffende Verweise zu stoßen, auf ihn persönlich, auf seine Vorfahren und seine Familie. Ich konnte diese Hinweise mit den wenigen Informationen abgleichen, die Marie mir über ihn gegeben hatte, spärliche Mitteilungen, die sie mir über ihre Beziehung anvertraute. Noch in der Nacht seines Todes vertraute sie mir an, dass sie ihn in Tokio bei der Vernissage ihrer Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa kennengelernt hatte. Aus verschiedenen Gründen, die man unschwer nachvollziehen kann, vermied Marie es, mir mehr über Jean-Christophe de G. zu erzählen, zu sehr stand sie noch unter dem Schock, nur widerstrebend beantwortete sie mir Fragen zu seiner Person, aber ein paar vertrauliche Details waren ihr dann doch unbeabsichtigt herausgerutscht, als wir am Anfang des Sommers vor ihrer Abreise nach Elba einmal gemeinsam zu Abend aßen, intimere Bekenntnisse, die sie später bereute, mir gegenüber gemacht zu haben, Indiskretionen über diese Beziehung, Details, deren ich mich sofort bemächtigte, um sie in meiner Phantasie fortzuspinnen. Marie berichtete mir auch einiges über jene Affäre, die die letzten Monate im Leben von Jean-Christophe de G. überschattet hatte. In meiner Phantasie fügte ich hinzu, was fehlte, und versuchte, die im Schattenbereich liegenden unklaren Einzelheiten über seine Geschäfte ans Licht zu bringen, wobei ich durchaus nicht auf den Klatsch und die Gerüchte aus den zwielichtigsten Quellen verzichtete, die, ohne Beweis und zusätzliche Überprüfung, in sichtlich böswilliger Absicht in der Presse gegen ihn lanciert worden waren – denn bis zu jenem Tag gab es keinen einzigen Beweis, dass sich Jean-Christophe de G. jemals gegen das Gesetz vergangen hätte.
So konnte es geschehen, dass ich ausgehend von einem einfachen Detail, das mir Marie anvertraut hatte, das ihr wie nebenher herausgerutscht war oder das ich ihr entlockt hatte, meinen Gedanken freien Lauf ließ und ein Gerüst um das Ganze baute, wobei ich gelegentlich die Tatsachen manipulierte und übertrieb, um nicht zu sagen dramatisierte. Ich konnte falsch liegen, was die Absichten Jean-Christophe de G.s betraf, ich konnte seine Aufrichtigkeit anzweifeln, wenn er beteuerte, von jemandem in seinem Umkreis hereingelegt worden zu sein. Ich war sicher fähig, den böswilligen Gerüchten Glauben zu schenken und derart die ihn betreffenden Verdachtsmomente zu stärken. Ich weiß nicht, bis zu welchem Grad er persönlich in die Affäre verwickelt war, die ihm zur Last gelegt wurde, habe keine Ahnung, inwieweit das Gerede, wonach er erpresst worden sei, zutraf (schließlich hatte mir Marie eines Abends gesagt, sie habe den Eindruck, dass er in den letzten Tagen vor seinem Tod eine Waffe bei sich trug). Ich täuschte mich vielleicht manchmal in Jean-Christophe de G., niemals aber in Marie, ich wusste in allen Situationen, wie Marie sich verhielt, ich wusste, wie Marie reagierte, ich kannte Marie auf eine bestimmte instinktive Weise, ich besaß von ihr ein naturgegebenes inneres Wissen, ich besaß das absolute Verstehen: Ich wusste die Wahrheit über Marie.
Was wirklich zwischen Marie und Jean-Christophe de G. in den wenigen Monaten ihrer Bekanntschaft geschehen war, während dieser Beziehung, die sich, rechnet man einmal nach, wie häufig sie sich gesehen haben, auf ein paar gemeinsam verbrachte Nächte beschränkte, vier oder fünf Nächte, mehr nicht, verteilt über einen Zeitraum von Ende Januar bis Ende Juni (zu denen man vielleicht noch ein Wochenende in Rom, ein oder zwei Mittagessen und den gemeinsamen Besuch einiger Ausstellungen hinzuzählen musste), was wirklich geschehen war, konnte niemand wirklich wissen. Ich vermochte mir nur die Gesten Maries auszumalen, wenn sie mit ihm zusammen war, ich konnte mir ihre geistige Verfassung und ihre Gedanken vorstellen, ausgehend von bestimmten Details, die sich als richtig herausgestellt haben oder von mir richtig kombiniert worden sind, die gesichert waren oder vielleicht auch nur in meiner Phantasie existierten, Einzelheiten, die ich mit bestimmten gravierenden oder schmerzlichen Ereignissen, von denen ich wusste, dass sie Jean-Christophe de G. widerfahren waren, ergänzen konnte, um so wenigstens ein paar unbestrittene Elemente der Wahrheit in das unvollständige, rissige, lückenhafte, so unzusammenhängende und widersprüchliche Mosaik einzufügen, das die letzten Lebensmonate Jean-Christophe de G.s für mich darstellten.
In Wahrheit aber hatte ich mich von Anfang an in Jean-Christophe de G. getäuscht. Zunächst, weil ich ihn immer nur Jean-Christophe genannt habe, obwohl er doch Jean-Baptiste hieß. Ich habe mich sogar in Verdacht, mich in voller Absicht in diesem Punkt geirrt zu haben, um mich nicht um das Vergnügen zu bringen, seinen Namen zu entstellen, nicht, weil Jean-Baptiste schöner oder auch eleganter als Jean-Christophe gewesen wäre, es war einfach nicht sein richtiger Vorname, und diese kleine posthume Demütigung reichte zu meinem Glück aus (wäre sein Vorname Simon gewesen, hätte ich ihn Pierre genannt, ich kenne mich). Dann war ich immer davon ausgegangen, dass Jean-Christophe de G. Geschäftsmann sei (was nicht wirklich stimmte) und dass er in der Welt der Kunst tätig gewesen sei, ein Galerist oder Kunsthändler, der internationale Kunst verkaufte, oder ein Sammler, und dass er in Tokio auf diesem Weg Marie kennengelernt hatte. Nun stimmt es zwar, dass er gelegentlich Kunstwerke gekauft hat (dann aber eher Gemälde alter Meister, Stilmöbel oder antiken Schmuck), doch war das in keinster Weise seine Haupttätigkeit. Jean-Christophe de G. war wie schon sein Großvater, vor allem aber sein Urgroßvater Jean de Ganay, eine prominente Persönlichkeit des klassischen französischen Pferderennsports, Pferdezüchter, Pferdebesitzer und Mitglied des Pferdezüchterverbands. In dieser Eigenschaft, als Besitzer eines Rennpferdes, war er Ende Januar nach Japan gekommen, wo eines seiner Pferde am Tokyo Shimbun Hai teilnahm, und es war purer Zufall, dass er sich zu jener Zeit in Tokio aufgehalten und die Vernissage von Maries Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa besucht hatte. Und dort, am Abend der Vernissage ihrer Ausstellung, hatte er Marie zum ersten Mal gesehen und ihre Bekanntschaft gemacht und sie erobert (und man kann sich fragen, in welcher Reihenfolge das geschah, das Ganze musste wie der Blitz passiert sein).
Die Farben des Rennstalls der Ganays – jockeyjackengelb, mützengrüngrün – hatte der Urgroßvater Jean-Christophe de G.s zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgewählt, der von 1933 bis zu seinem Tod Präsident des Pferdezüchterverbands gewesen war. Dieser glanzvolle zur Förderung der Zucht reinrassiger Rennpferde in Frankreich ins Leben gerufene Verband war ein Jahrhundert zuvor von Lord Henry Seymour, auch genannt Lord Brüller, gegründet worden (man weiß nicht so recht, wie er zu diesem amüsanten Spitznamen gekommen war, der an Unterwelt, Vorstädte und Lumpengesindel denken lässt, vielleicht hatte es mit seinem Vorleben zu tun, seinen Gewohnheiten, seinen Sitten?), und diesem Verband verdankte man die Modernisierung des Hippodroms von Longchamp, die Einsetzung von Wettkampfrichtern und die ersten, noch rudimentären medizinischen Dopingkontrollen am Pferdespeichel. Es ist also nicht ohne eine gewisse Pikanterie, dass ausgerechnet ein Vorfahre von Jean-Christophe de G. die ersten Dopingkontrollen im Pferderennsport eingeführt hatte, bedenkt man, in welchem Maße die letzten sechs Monate seines Lebens durch die Zahir-Affäre überschattet waren, benannt nach dem Vollblüter, der für das Tokyo Shimbun Hai gemeldet war.
Nicht so sehr das Scheitern des Pferdes in Tokio selbst als vielmehr die Umstände dieses Scheiterns waren es gewesen, was Jean-Christophe de G. so nahegegangen ist und seine letzten Lebensmonate so in Mitleidenschaft gezogen haben dürfte. Nach der Rückkehr des Pferdes nach Frankreich ließen die Gerüchte nicht lange auf sich warten, und dem sich anbahnenden Skandal war umso mehr Neugierde beschieden, als er nie wirklich ausgebrochen war. Offiziell gab es keine Zahir-Affäre, dem Pferd wurde nichts Konkretes zur Last gelegt, aber die Gerüchte hielten sich hartnäckig, von zweifelhaften Testergebnissen war die Rede, von verbotenen Substanzen, die man im Urin des Pferdes entdeckt hätte (man hatte nicht offen von Anabolika gesprochen, aber von Sekundärsubstanzen zu ihrer Verschleierung), und es wurden Verbindungen publik zwischen dem Trainer des Pferdes und einem berüchtigten spanischen Tierarzt, der auch im Dunstkreis von Radrennfahrern und Gewichthebern aufgetaucht war (bei Letzteren dürften seine Fachkenntnisse als Tierarzt natürlich Wunder gewirkt haben). Um das Scheitern Zahirs beim Tokyo Shimbun Hai und die lange Liste der darauf folgenden unerklärlichen Komplikationen und Malaisen zu erklären, hieß es offiziell, es handele sich um die Folgen eines nicht abgeheilten Zahnabszesses, der sich am Tag des Rennens an einer unsterilen Kandare entzündet hatte und mit Injektionen von Antibiotika und anderen nichtsteroidalen entzündungshemmenden Mitteln behandelt werden musste, um das Fieber zu bekämpfen, aber niemand wollte so richtig daran glauben, dass die Asientournee eines rund um die Uhr von einer ganzen Mannschaft hochspezialisierter Tierärzte gepflegten und überwachten Pferdes von einem Tag auf den anderen wegen der simplen Entzündung eines Zahnes beendet sein konnte. Jeder weitere Einsatz Zahirs, seine Teilnahme am Singapur Cup oder am Audemars Piquet Queen Elizabeth II in Hongkong wurde auf der Stelle und ohne jede Erklärung abgesagt und annulliert. Jean-Christophe de G. hatte noch am selben Tag den Trainer entlassen, sich auch schweren Herzens von allen anderen Personen, die das Pferd nach Tokio begleitet hatten, getrennt, der Vollblüter war nach seiner Rückkehr nach Frankreich sofort allen Blicken entzogen und aufs Land, in das Gestüt von Rabey in Quettehou am Ärmelkanal, gebracht worden, in die Stallungen der Familie de Ganay, wo man ihn den Rest des Jahres nicht mehr zu Gesicht bekommen sollte.
Die Entscheidung, das Pferd so unauffällig wie möglich aus Japan herauszuschmuggeln, war in aller Eile an dem Montagmorgen nach dem Rennen getroffen worden, Jean-Christophe de G. hatte alle weiteren Verpflichtungen für die kommenden Monate abgesagt und selbst in Dutzenden von Telefonaten alle Details des Rücktransports des Pferdes nach Europa geregelt, sich danach mit dem Kommissar der JRA, des japanischen Pferderennsportverbands, in Verbindung gesetzt, mit dem er enge Verbindungen unterhielt, da er zusätzliche Probleme am Zoll befürchtete. Am Ende dieses Telefonats traf er die Entscheidung, noch am selben Tag zurückzureisen und persönlich das Pferd nach Europa zu begleiten. Daraufhin rief er Marie an und schlug ihr vor, mit ihm zurückzufahren, und zu seiner großen Überraschung nahm Marie sein Angebot an, ohne sonderlich überrascht zu sein. Doch als das Telefonat beendet war, wurde Marie von einer Welle von Sehnsucht und Trauer überwältigt, als ihr klar wurde, dass sie ohne mich nach Paris zurückfahren würde, wo es doch gerade mal eine Woche her war, dass wir gemeinsam nach Japan gekommen waren.
Das Fenster ihres Hotelzimmers in Tokio war nass, mit Regentropfen gesprenkelt, die in gestrichelten, unterbrochenen Schlieren träge die Fensterscheibe herunterrannen und abrupt, ohne ersichtlichen Grund in ihrem Schwung gebremst, anhielten. Marie hatte den Hörer aufgelegt und war reglos vor der großen Fensterscheibe, die auf das Verwaltungsviertel von Shinjuku zeigte, stehen geblieben, nachdenklich, mit bedrücktem Gesicht schaute sie auf die Stadt hinunter, die fast gänzlich unter dem Regendunst verschwunden war, hielt den Blick auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne fixiert, mit jener träumerischen Schwermut, die uns erfasst, wenn uns bewusst wird, dass die Zeit vergeht und wieder etwas vorbei ist, für immer abgeschlossen, und jedes Mal ein Stück mehr, je mehr wir uns dem Ende nähern, dem Ende unserer Liebe und dem Ende unseres Lebens. Jetzt, wo es für sie an der Zeit war, Tokio zu verlassen, dachte Marie an mich – an mich, von dem sie sich genau hier an diesem Ort getrennt hatte, in diesem Hotelzimmer, das wir am Abend unserer Ankunft in Japan miteinander geteilt hatten, dieses Zimmer, in dem wir uns zum letzten Mal geliebt hatten, dieses Bett, in dem wir Liebe gemacht hatten, dieses ungemachte Bett hinter ihr, in dem wir uns entzweit und umarmt hatten. Marie hätte lieber nicht mehr an mich denken wollen, nicht jetzt und nicht später, aber sie wusste sehr genau, dass dies nicht möglich war, dass ich jeden Augenblick wieder gegen ihren Willen auf unterschwellige Weise in ihren Gedanken aufzutauchen drohte, wie eine plötzliche immaterielle Reminiszenz meiner Person, meiner Vorlieben und meiner Art, die Welt zu sehen, die eine oder andere intime Erinnerung eben, die untrennbar mit mir verbunden war, denn ihr wurde bewusst, dass ich selbst als Abwesender in ihr weiterleben und sie in Gedanken heimsuchen würde. Wo ich mich gerade befand, davon hatte sie keine Ahnung. War ich noch in Japan oder war ich bereits nach Europa zurückgekehrt, hatte auch ich meine Rückreise vorverlegt? Und warum hatte sie nichts mehr von mir gehört? Warum hatte ich mich seit meiner Rückreise von Kioto nicht mehr bei ihr gemeldet? Sie wusste es nicht, sie wollte es nicht wissen. Sie wollte nichts mehr von mir hören, kapiert, niemals – Schluss und aus jetzt mit mir.
Als Jean-Christophe de G. Marie am Nachmittag vom Hotel abholen wollte, war sie noch nicht fertig, das Zimmer war noch unaufgeräumt, das Bett nicht gemacht, die Koffer standen weit offen. Marie war mit hundertvierzig Kilo Gepäck nach Japan gereist, verteilt auf mehrere Überseekoffer, Metallkisten, Fotorollen und Hutschachteln, und auch wenn die meisten der Koffer und anderen Gepäckstücke nicht nach Europa zurückgebracht werden mussten (denn die Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa lief noch mehrere Monate), war Marie das scheinbar Unmögliche gelungen, fast genau so viel Gepäck für ihre Rückreise wie bei ihrer Hinreise zu haben, wenn auch nicht vom Gewicht, so doch zumindest vom Volumen und der Anzahl der Gepäckstücke her, um die Koffer herum hatte sich ein Haufen von Taschen und Tüten aller Größen angesammelt, aus Leder, Leinen oder aus Papier, hart, weiß, kartoniert, mit fleischfarbenen verstärkten Plastikgriffen, gefüllt mit Krimskrams, Einkaufstüten des Kaufhauses Takashiyama, die mit Bildern blühender roter Rosen bedruckt waren, gefüllt mit Geschenken, die man ihr gemacht hatte, und Geschenken, die sie anderen machen wollte, sie hatte Naturseide und kostbare Stoffe eingekauft, seidene Kimonogürtel und andere nette Kleinigkeiten, Einkäufe aller Art, Papierlampions neben Päckchen mit Algen, Tee in Dosen oder Beuteln, auch frische Lebensmittel, zwei vakuumverpackte Schälchen mit Fugu-Sashimi, die sie in ihrer Minibar zwischen Bierdosen und Minifläschchen mit Alkoholika aufbewahrt hatte. Jean-Christophe de G. musste sie von der Rezeption aus zweimal in ihrem Zimmer anrufen und sie taktvoll bitten, sich zu beeilen, und sie darauf hinweisen, schneller zu machen, da es höchste Zeit sei und das Pferd und die Autos warteten. Für einen kurzen Moment wurde Marie daraufhin beim Packen durch einen kurzen spontanen Schwung belebt und vervielfachte ihre chaotischen Handgriffe in einem Anfall von Panik und gutem Willen (ihr dauerndes Zuspätkommen machte Marie in der Regel durch hektische Beschleunigung auf den letzten Metern wett, im Laufschritt, mit ostentativer Eile und gespielter Hast traf sie bei ihren Rendezvous ein, zu denen sie nicht selten mit mehr als einstündiger Verspätung erschien), fiel dann doch wieder in ihren normalen Trott zurück und packte träge und verträumt ihre Koffer auf dem ungemachten Doppelbett, stellte Tüten und Taschen nachlässig an die Zimmertür, ohne allerdings auch nur eine davon zuzumachen (Marie machte nie etwas zu, nicht die Fenster, nicht die Schubladen – es war zum Heulen, auch die Bücher machte sie niemals zu, sie drehte sie einfach um, wenn sie ihre Lektüre unterbrach, legte sie offen neben sich auf den Nachttisch).
Während Jean-Christophe de G. in der Hotelhalle auf Marie wartete, regelte er noch letzte Details des Rücktransports des Pferdes. Auf einem Sofa neben der Rezeption saß er in Gesellschaft von vier mit Laptops und elektronischen Terminkalendern ausgestatteten Japanern, die ihm als Ersatz für den entlassenen Trainer und dessen Team zur Verfügung gestellt worden waren, um den Transport des Vollblüters zum Flughafen zu begleiten und die Abwicklung der Zollformalitäten zu überwachen. Die vier Japaner, die alle exakt gleich gekleidet waren, marineblaue Blazer mit dem Emblem eines Sportvereins oder Privatclubs, saßen verschwörerisch um Jean-Christophe de G. herum und reichten sich gegenseitig Formulare und Bescheinigungen, die sie flüsternd miteinander studierten. Der Pferdetransporter parkte vor dem Hotel, man konnte seine langgestreckte, reglose Silhouette durch die großen Glasfenster an der Rezeption sehen, ein mit Aluminiumblech verkleideter Van, der aussah wie der Tourbus eines Rockstars, an der Seite zwei kleine, geheimnisvoll vergitterte Fensterluken, die geriffelte und glänzende Karosserie strahlte hellgolden im Scheinwerferlicht der Hotelauffahrt. Die Heckklappe des Transporters war geöffnet und eine Rampe heruntergelassen worden, damit das Vollblut frische Luft bekam, drei Männer in Lederjacken, Hilfskräfte oder Begleiter, hielten davor Wache, daneben der Fahrer des Wagens, ein alter Japaner im frischgestärkten grauen Arbeitsoverall, oben geöffnet, man sah den Krawattenknoten, der gleichfalls die unmittelbare Umgebung des Hotels überwachte und dabei eine Zigarette rauchte. Da der Aufenthalt länger zu dauern schien als geplant, nutzte man die Gelegenheit, um dem Pferd zu trinken zu geben, einer der eleganten Japaner im marineblauen Blazer war mit einem glänzenden Metalleimer diskret zur Hoteltoilette gegangen, einem nagelneuen Eimer mit eingraviertem Wappen und Initialen, man hätte meinen können, in denselben Farben wie der Transporter, eines seiner Accessoires, Teil seines Arsenals, kam dann mit dem Eimer in seiner mit durchsichtigen antiseptischen Chirurgenhandschuhen geschützten Hand zurück, durchquerte in aller Würde die Hotelhalle und ging mit steifem, zeremonienhaftem Schritt zum Transporter zurück (ohne dass man genau gewusst hätte, ob er ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Frühling-Sommer
  5. I
  6. II
  7. III
  8. Impressum