Die Einsamkeit der Haut
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Die Einsamkeit der Haut

Erzählungen

  1. 80 Seiten
  2. German
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Die Einsamkeit der Haut

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

»Die Einsamkeit der Haut« umfasst sechs Erzählungen Bodo Kirchhoffs, die Ausschnitt für Ausschnitt eine Kartografie des Frankfurter Bahnhofsviertels entwerfen und mit schonungsloser Offenheit Einblick in das Leben eines Einzelgängers gewähren.Bodo Kirchhoff ist nicht nur als Verfasser groß angelegter Romane bekannt, auch in der Kurzform brilliert der renommierte Stilist seit mehreren Jahrzehnten. Von der kompromisslosen und polarisierenden Radikalität des Frühwerks, das mit sezierendem Blick gesellschaftlichen Randfiguren nachspürt, wird der Leser zunehmend in einen umfassenderen Handlungsrahmen geführt, hinein in einzigartige Augenblicke einer Ehe, Momentaufnahmen einer Familie. Lakonisch, präzise und geprägt von einer subtilen Hintergründigkeit schreibt der Autor immer auch über die Schwierigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Bodo Kirchhoffs Erzählungen sind eine literarische Kostbarkeit, anhand derer die Entwicklung des Autors vom »bad boy« der Literatur zu einem der profiliertesten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur lesend nachvollzogen werden kann.

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Information

Notwende

Ich trete zu dem jungen Mann an den Tisch, ich frage ihn, ob hier noch frei sei. Selbstverständlich, sagt er, mit einer leisen, auf der Grenze zum Verstellten balancierenden Stimme. Dann rückt er etwas beiseite, ja ändert die Sitzhaltung und liest weiter in seinem Buch.
An dem Tag, als ich meine Stelle aufgab, vorigen Monat, war ich zum ersten Mal in diesem Lokal, als Arbeitsloser, genaugenommen. Seitdem war ich zweimal hier, nicht aus bestimmter Leidenschaft, eher um zu lachen. Frauendarstellung reißt mich nicht hin, und das Getue eines halben Mannes stößt mich sogar ab. Überhaupt empfinde ich mit Außenseitern keine Sympathie. Ihre Verschiedenartigkeit begeistert mich weder, noch löst sie Mitleid bei mir aus. Entweder ist jeder ein Außenseiter oder niemand; ich wüßte auch nicht zu sagen, wo ich stehe, wäre aber zufrieden mit der Bezeichnung Kleinbürgerkrüppel. Und so sind mir die professionellen Randerscheinungen am unangenehmsten, bis auf einige Ausnahmen, wie gesagt, die mich zum Lachen bringen. Die offenliegende Gefühlswelt dieser verkleideten Leute hier bringt mich sogar, an jeder anderen Stimmung vorbei, zum Lachen, auch wenn mein Interesse für ihr Leben eher gering ist, wahrscheinlich die Voraussetzung, um lachen zu können, und um so stärker überrascht oder wundert es mich, wie ich den jungen Mann mit dem Buch neben mir anschaue, besonders seinen Mund, die klaren, etwas hochgezogenen Lippenspitzen.
Ganz ungeniert schaue ich hin und lasse alles auf mich wirken, bis mir ein Gedanke dazwischenkommt: Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Denn Männer ziehen mich nur im ganzen an, ihre männlichen Details vertreiben mich. Bei Frauen dagegen ist es umgekehrt: Ohne die Stückelung ihrer Körper in meiner Betrachtung nähme ich sie gar nicht wahr. Und so interessant eine weibliche Einzelheit sein kann, sagen wir, eine blasse haarlose Achsel, so heftig kann mich der Gesamteindruck, der von einem Mann ausgeht, stören.
Er liest noch immer; seine Augen folgen dem Text wie einem Film. Und eben unterstreicht er ein paar Worte und lehnt sich dann zurück. Ich könnte ihn ansprechen. Ich könnte es aber auch seinlassen.
Die Bedienung rettet mich. Ich bestelle ein Bier und frage ihn, ob er auch etwas möchte. Das unwillkürliche Sprechen ist eine Art Krankheit, unter der ich leide seit einiger Zeit. Kein großes, unerträgliches Leiden, eher eine gewisse Einschränkung, die auch ihre Vorteile hat, denn ich lege mir damit, sprechenderweise, alles zurecht; schon seit langem hat mich nichts mehr handfest enttäuscht. Nein, sagt der junge Mann. Danke.
Oder wollen Sie vielleicht etwas essen? frage ich. Und wieder lehnt er höflich ab, und ich sage: Es würde mir nichts ausmachen, noch kann ich es mir leisten, meine Ersparnisse aus der Zeit als Bibliotheksangestellter gestatten es mir. Habe ich das gesagt oder nur gedacht? Sicher ist: Eine Rückkehr ins Berufsleben scheidet aus. Und sicher ist auch: Das Vor-mich-hin-Sprechen ist zu einer ähnlichen Notwendigkeit geworden wie das immer wiederkehrende kurze Zumachen der Augen; sie über längere Zeit ununterbrochen offenzuhalten entspricht bei mir den Qualen, die das Geschlossenhalten des Mundes hervorruft. An Menschen fixierte Berufe kommen also nicht mehr in Frage.
Der junge Mann hat das Buch zugeklappt und die Hände mit gespreizten Fingern aneinandergedrückt. Und vorn, auf der kleinen Bühne, werden Vorbereitungen getroffen. Er sieht dabei zu und lacht plötzlich stumm, und etwas Greisenhaftes tritt in sein Gesicht. Eine Zeitlang geht mein Blick nach vorn, ich habe Angst, ihn anzusehen. Dann schaue ich nur noch, wie er nach vorn schaut – die Leute auf der Bühne müssen aufpassen.
Nein, müssen sie nicht. Er sieht mich an und lacht, sieht mir auf den Mund, als ob die Sätze dort sichtbar herausrinnen würden. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen strömt. Was müssen sie nicht? frage ich.
Sie müssen nicht aufpassen, meinetwegen.
Worauf aufpassen? Ich stelle mich dumm, und mein junger Tischnachbar sagt: Vergiß es.
Das sagt sich so leicht, sage ich. Das Vergessen läßt sich nicht so hinkriegen wie etwa das Erbrechen.
Und nun beugt er sich etwas zu mir, flüstert auf einmal. Stimmt genau. Die Vergeßlichkeit, beispielsweise nach einem schlimmen Anblick, ist im allgemeinen nicht so zuverlässig wie das Sich-übergeben-Können nach einem verdorbenen Essen.
Die Bedienung bringt mein Bier – am liebsten würde ich aufstehen und abhauen. Andererseits ist seine Gegenwart schon zu einer kleinen Gewohnheit geworden.
Es geht gleich los, stelle ich fest und zeige in die Richtung, in die er ohnehin schaut.
Stimmt, flüstert er und setzt mich wieder außer Gefecht mit diesem stummen Lachen; ich kann nichts tun. In seinem Gesicht tritt etwas zum Vorschein, wie das Verfallsdatum auf einer Verpackung.
Ich werde jetzt gehen, entscheidet er überraschend, mir einen fast gleichlautenden Satz aus dem Munde nehmend. Kommst du mit?
Nun ist alles schrecklich einfach geworden, und ich sage Wieso? Es geht doch gerade erst los.
Und er: Ich war hier schon oft. Dann schiebt er sich das Buch in die Hose und leert sein Glas.
Und warum gehst du dann überhaupt noch hierher? Nur um zu lesen?
Er sieht mich an und wartet ab, und einen Augenblick später lenke ich ein: Das geht wahrscheinlich ganz gut hier, das Lesen … Und mit dem Wort Lesen stehe ich ruckartig auf, mein Stuhl fällt um, Blicke von allen Seiten; ich lege Geld auf den Tisch, stelle den Stuhl wieder hin und sage: Also dann gehen wir. Mehr sage ich nicht, sondern gehe voraus, durch das Lokal bis zur Tür. Ich öffne sie, trete ins Freie und halte sie auf, ohne mich umzusehen, in dieser zwingenden Art des Türaufhaltens, die den Nachkommenden nicht nur zur Eile anhält, sondern überhaupt in eine Lage versetzt, in der er sich plötzlich als Anschlußsuchender wiederfindet. Dazu kommt noch, daß mein Ex-Tischnachbar seinen Kopf ein Stückchen einziehen muß, um nicht an meinen Arm zu stoßen; und noch im selben Moment, kaum, daß er auf gleicher Höhe ist mit mir, lasse ich los. Meine Hand streift seine Schulter, er trägt nur ein Hemd, es ist Mitte September, seine Haut ist wärmer als die Luft. Sieh mal, das Hochhaus dort, sage ich. Es steht leer. Ich würde da gern ganz allein wohnen, oberster Stock. So eine Idee von mir, ein leeres Hochhaus besetzen, verstehst du …
Aber noch während wir über die Mainzer Landstraße gehen, ärgert mich meine Redseligkeit schon. Daß wir uns getroffen haben, sage ich im Autolärm, hat etwas Unglaubwürdiges für mich.
Er sagt dazu nichts, er läuft nur weiter vor mir her. In der Elbestraße, kurz hinter der Metzgerei an der Ecke, bin ich wieder neben ihm. Die Distanz war nie größer gewesen als einige Schritte, hätte sich aber nur durch ein offensichtliches Nachlaufen rascher überbrücken lassen. Kennst du die Wandmalereien in dieser Gegend? frage ich ihn. Sie sind hier überall, in den Gängen, den Treppenhäusern, den Höfen. Die Fresken von Frankfurt.
Er sieht mich an und sagt Nee, und ich führe ihn zum Crazy Love. Oder wolltest du woandershin? Ich wollte nur mal ins Piccolo schauen, sagt er, das hat aber Zeit.
Also gehen wir durch das erste Gebäude und dann durch eine Plastiktür in den Zwischenhof. Siehst du, sage ich, hier überall, und dazu deute ich auf die Malereien an den Wänden: Paarungsszenen, doch auch einzelne Frauengestalten, von vorne, von hinten, sich bückend, sich spreizend und in jedem Fall beschädigt an den Merkmalen ihres Geschlechts. In den Stein getriebene Löcher, tiefe Kratzer, breite Ausschabungen; an den zugänglichsten Stellen derartig zertrümmert, daß im Ansatz schon etwas Neues in Erscheinung tritt, eine Art wütender Keilschrift. Die Männer kommen zwar wegen der Frauen hierher, aber sie mögen die Frauen nicht, so kann man es sehen. Meine Begleitung – die sinnvollste Bezeichnung im Moment – ist weitergegangen. Neben dem Eingang zum nächsten Gebäude, vor dem es gelegentlich zu Stauungen kommt, ist unser Aufenthalt vor den Malereien etwas länger. Hier wurden die Darstellungen nicht einfach beschädigt, sondern Stück für Stück mit umgangssprachlichen Wörtern versehen; man kann sich das im einzelnen denken. In der Regel spreche ich solche Dinge nicht aus, gelte aber als scharfer Hund. Ich müßte eine Sonnenbrille tragen, damit die Leute meinen Blick nicht sehen. Sie sehen mir in die Augen und glauben, ich hätte all die Wörter gebraucht, während die Wörter doch nur durch ihre Köpfe gehen, nicht durch meinen. Aber Sonnenbrillen am Abend sind lächerlich, meine Begleitung hat auch keine auf.
Vorbei an Vertretern mehrerer Rassen schlängeln wir uns zurück auf die Straße, ich spüre eine Hand im Rücken, ihre oder seine, sie schiebt mich Richtung Kaiserstraße, die überqueren wir, und schon taucht das Piccolo auf, eine Kneipe, die mir immer unheimlich war, wie die Dinge zwischen den Beinen von Fremden.
Und du warst da schon öfter? frage ich.
Einmal nur, sagt meine Begleitung, der junge Ex-Tischnachbar mit dem Buch in der Hose. Ich gehe hinter ihm her, quetsche mich an der Theke vorbei, an einem Betrunkenen, der mir ins Ohr röhrt, und komme in einen schmalen Raum, der nach hinten hin immer schmaler wird; am Ende bildet die Toilettentür die Rückwand des Lokals. Warte, rufe ich ihm nach, doch er ist schon in dem Hinterteil verschwunden, und ich schaue mich um.
Die meisten Tische sind unbesetzt. An einem ein Mann in einem hellen Anzug und braunen Sandalen, er tuschelt mit zwei dünnen Frauen, einen Schlüsselbund zwischen den Fingern. Ihm gegenüber noch ein zweiter Mann mit glatt zurückgekämmtem Haar und einer Brille, die die Augen stark vergrößert; verglichen mit dem ersten wirkt er dumm und heruntergekommen. Der andere hat senkrechte Falten auf der Stirn und saubere Hände mit langen, hellen Nägeln. Er benutzt sie gerade, um den Schlüsselring zu öffnen, und holt jetzt zwei Schlüssel heraus und verteilt sie. Meine Begleitung kommt aus der Toilette und nickt. Was ist? frage ich schnell. Wolltest du hier nur aufs Klo gehen?
Ja, verschwinden wir wieder.
Die beiden dünnen Frauen versperren uns den Weg. Die eine hat verbundene Handgelenke und so gut wie keine Figur mehr; die andere hält sich bei ihr fest. Ich bin dann hier und warte auf euch, versichert ihnen der Mann mit den Schlüsseln. Und sie tippeln davon, zwei Zahnstocher mit roten Lippen, und wir gehen bis zur Tür hinterher.
Oder was wolltest du sonst? frage ich.
Ich wollte nur was nachschauen hier.
Und was? Oder ist das ein Geheimnis?
Meine Begleitung setzt den linken Mittelfinger auf die Nasenspitze, sie senkt den Kopf, und das braune Haar fällt ihr fast über die Augen. Ich wollte nachschauen, ob die Zeichnung noch da ist, die ich beim letzten Mal auf die Klowand gemacht hab.
Ach so, sage ich und gehe ein Stück um ihn herum. Von der Seite ist er noch schöner als von vorn. Sein Profil, wenn er die Nasenspitze etwas eindrückt, ist wie das eines jungen Boxers, der sich zu schützen weiß. Und dann nimmt er den Finger weg, und ich denke: So wäre mein kleiner Bruder, hätte ich einen. Und was war das für eine Zeichnung?
Das kann man schwer sagen. Er legt mir eine Hand in den Rücken, das hatten wir schon, das kenne ich jetzt, kein schlechtes Gefühl, und so überqueren wir die Gutleutstraße, immer Richtung Main. In letzter Zeit, fällt mir ein, habe ich nur zwei längere Gespräche geführt, wovon eines ein Telefongespräch war, mit einem Teilnehmer, der sich verwählt hatte. Das andere Gespräch fand im Moseleck statt, ganz in der Nähe von hier. Also jetzt das dritte Gespräch, warum nicht.
Erst am Rande des Flusses, den hier niemand will, der unsere Stadtverwaltung nur stört, bleiben wir steh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Inhalt
  4. Grausamkeit des Augenblicks
  5. Zehn Minuten vergehen
  6. Haarscharf verfehltes Glück in der Liebe
  7. Unnatürlichkeit der Lust
  8. Die Einsamkeit der Haut
  9. Notwende
  10. Über den Autor
  11. Impressum