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ISTANBUL
ES GIBT BESTIMMT VIELE WEGE
Jemand kommt durch das Licht der tiefstehenden Sonne auf sie zu. Er bewegt sich ohne Hast, womit er ihr Stehenbleiben in ein Warten umdeutet. Sie lächelt widerstrebend. Kneift die Augen zusammen vor den Strahlen. Bis er vor ihr steht und sein Schatten auf sie fällt.
Es ist der, dem sie die vergangenen sechs Monate verdankt. Am Vortag haben sie sich die Hand geschüttelt, heute kaum Notiz voneinander genommen; nicht auf der Fähre, nicht im Topkapi-Palast oder im Museum of Modern Art. Er war Teil einer von Bodyguards umhüllten Entourage, die sich um den deutschen Außenminister scharte; alle in harmlos bunten Polohemden zu tiefernsten dunklen Anzughosen.
Sie spürt, wie sich ihr Körper anspannt.
»Hallo«, sagt sie lässig.
»Hallo«, sagt er vergnügt.
Und dann zögern sie beide – eigentlich müssten sie ihre Namen kennen. Noch einmal fragen, das geht nicht.
»Möchten Sie nicht zur Sultan-Eyüp-Moschee?« Sie zeigt zu dem unruhigen Haufen aus dreißig deutschen und türkischen Künstlern und Kulturleuten drüben bei der Fähre.
»Nein, ich will heute nichts mehr erklärt kriegen«, sagt er. »Sie?«
»Ich auch nicht.«
»Was haben Sie vor?«
»Einfach rumlaufen.« Allein wagt sie nicht zu sagen. Stattdessen schiebt sie die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Sein Lächeln verliert die Vorsicht, schließt sich enger um sie.
Mit welcher Ausrede kommt sie von ihm los?
»Vorschlag«, sagt er und legt die Hand auf ihre Schulter. Sie dreht sich um und betrachtet gemeinsam mit ihm den kleinen Ort: pastellfarbene Häuser an einem Hügel, Minarette einer Moschee, ihr Blick folgt seiner ausgestreckten Hand. Kein Ehering – etwas, auf das sie erst seit kurzem achtet, auch bei Männern, an denen sie kein Interesse hat.
»Von oben kann man bis nach Istanbul schauen. Wollen wir das in Angriff nehmen?«
In Angriff nehmen. Dazu fallen ihr Rentenreformen, obere Tabellenplätze im Fußball ein. Spazieren gehen oder einfach rumlaufen nicht.
Seine Hand löst sich von ihrer Schulter; ihr Zögern hat er nicht bemerkt, er geht schon auf den Ort zu.
Sie spazieren durch eine Grünanlage, menschenleer und ein bisschen öde. Sie gleichen in diesen ersten Minuten ihr Wissen über Eyüp ab: viertwichtigster Pilgerort in der islamischen Welt, sonderbar versteckt hier am Ende des Goldenen Horns, und bis auf die Moschee und den Blick vom Hügel nach Istanbul wissen die Reiseführer, die sie gelesen haben, nichts zu empfehlen.
Es ist eher ein Schlendern, und das hat sie nicht erwartet, dieses langsame Gehen, das für jeden Schritt geradezu eine Entscheidung verlangt (das also nennt er in Angriff nehmen). Doch nach jedem Versuch, das Tempo anzuziehen, ist sie ihm einen Meter voraus und er mitnichten bereit, aufzuschließen.
Die Hand im Nacken, dreht sie sich um und lächelt spöttisch. Er zieht fragend die Augenbrauen hoch, und sie stellt ihr Lächeln sofort ab.
Die Bilder vom Abend kehren zurück. Die großen Lichtlachen auf den gebohnerten Dielen des deutschen Generalkonsulats. Der Festsaal. Die Parfumverwehungen wie Schneegestöber, das einen mal hier und mal dort ins Gesicht trifft. Enge Kostüme, Form. Kontrollierte Haarspray-Helmfrisuren. Formen und noch mal Formen. »Das alles passt doch gar nicht«, hat sie gestöhnt, und ihre Sitznachbarn links und rechts aufzuwiegeln versucht: »Die haben doch keine Ahnung von Kunst oder von uns, um uns geht es nicht, es geht nur …« – »Halt mal den Mund, Holle, bitte« – »… ums öffentliche Image.«
Und dann wurde der Mann, mit dem sie hier schlendern muss, ans Rednerpult gerufen: Wie viel die Stiftung ihm verdanke, ihm, dem Vorstandsmitglied einer großen Bau- oder Bankengruppe, sie hat es vergessen. Sie hatte sich nach draußen geschlichen und mit Celal telefoniert. Celal stand am Galataturm und sagte, er kriege, wenn er ihre Stimme höre, sofort eine Latte. »It is big like Galata Tower, baby!«
»Sieht aus wie Schnee«, sagt der Baugruppen- oder Bankenmensch und zeigt auf den Hang.
»Ja«, sagt sie. Es sind alte osmanische Gräber; sie weiß, dass er das weiß. Warum hat er sich ihr angeschlossen? Ist sie ihm bereits aufgefallen, als die Künstler der Reihe nach vorgestellt und ihre wichtigsten Stationen verlesen wurden? Und während der Exkursion heute hat er nur auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihr allein zu sein? Wohl kaum. Irgendetwas muss seine Aufmerksamkeit erregt haben, als sie eilig an Land sprang. Irgendetwas daran muss ihn verwundert haben, vielleicht sogar gestört.
Das ist das Wichtigste an ihr. Nicht, bei wem sie studiert hat, in welchen Galerien ausgestellt oder ihr Geburtsjahr. Dieses Abhauen. Deine Verlorenheit aufessen, hat Celal gesagt: »I want to eat your loneliness.« Denn sie hatte gesagt: »I am lonely most of the time.«
Ein Bursche mit einer Zwanzig-Liter-Wasserflasche auf der Schulter überholt sie. Sie gehen so langsam, als nähmen sie Rücksicht auf ihr schleppendes Gespräch, das sonst vollends abgehängt werden könnte. Er beginnt eine Unterhaltung über den Stadtverkehr in Berlin und Hannover, er sucht offenbar nach universalen und unverfänglichen Themen.
»Ich fahre Fahrrad«, sagt sie.
»Ist das nicht gefährlich in Berlin?«
Sie nickt.
Eigentlich würde sie ihn gerne zu seiner Arbeit befragen. Aber mit welchen Fragen gibt sie preis, dass sie Leute wie ihn nicht kennt, aber ihnen misstraut? Es gibt nicht einmal ein gemeinsames Thema, höchstens die angestrengte Suche danach.
Sie gehen an einem muslimischen Kopftuchgeschäft vorbei, an einer Bäckerei, deren Fenster von oben bis unten mit Fladenbrot zugestopft ist, an Läden mit Schwämmen, Seifen, losen Kräutern und Tees. Sie steckt ihre Sonnenbrille in die Tasche.
»Haben Sie Lieblingsrestaurants in Berlin?«, fragt er.
»Wollen Sie mich zum Essen einladen?«
Er lacht leise. Aber kann dann gar nicht antworten. Er fragt ein paar Namen ab, Sternerestaurants allesamt, und sie schüttelt, obwohl sie ein paar davon kennt, jedes Mal den Kopf.
»Vergessen Sie nicht, dass ich arm bin, das ist technisch gesehen die Grundlage unserer Bekanntschaft.«
Er lächelt wieder, aber nun erkennt sie Rückzug in diesem Lächeln. Ihre Direktheit ist ihm unangenehm. Das versteht sie sogar. Als müsse er sich entschuldigen für das, was er ist. Muss er ja auch.
Die Geschäfte wiederholen sich, noch immer durchstreifen sie das Seifen-Schwämme-Kräuter-Viertel. Eine verschleierte Frau hält ihr Kleinkind, die Hose heruntergezogen, über einen Strauch.
Sie richtet ihren Blick auf die Auslagen, geht näher – er folgt ihr, stellt sie erleichtert fest –, sie betastet die harte Oberfläche einer graugrünen Seife, riecht daran. »Das ist Olivenölseife aus Aleppo«, erklärt sie fachmännisch, »davon nehm ich gleich zwei.«
Sie betreten ein Ladenlokal mit dunkler Holzvertäfelung, alten, fast vergessenen Gerüchen nach Heu und Harz, trockenen Sommern, Apotheke. Aus den Jutesäcken quellen Gewürze und Kräuter. »Merhaba.« Ein alter Herr begrüßt sie mit einer leichten Verbeugung. Hinter ihm Glaskaraffen mit Rosenknospen, aus denen man Tee machen kann.
Ihr Begleiter betrachtet versonnen eine alte Truhe aus Mahagoni.
»Schön hier, nicht?«, fragt sie.
»Ja«, bestätigt er, »ganz wunderbar!«
»In der Istanbuler Innenstadt verschwinden diese Läden, das wissen Sie, ja?«, hört sie sich sagen. »Stattdessen die multinationalen Firmenmonster, die ihr Filialnetz über die gesamte Welt werfen. Douglas, Body Shop, Starbucks, H&M, Restaurant Nordsee. Ja, in der Istiklal Caddesi gibt es jetzt ein Restaurant Nordsee. Alles wird gleich, und überall passiert das Gleiche.«
Was sie sagt, das weiß doch jeder. Sie hustet, mit dem Husten will sie ihn davon abhalten, zu antworten. »Besser?«, fragt er, als sie endlich das Ablenkungsmanöver beendet und auch das Glas Wasser trinkt, das ihr der alte Mann reicht. Auch Celal ist so fürsorglich. So hat sie ihn kennengelernt, als sie am ersten Abend nach ihrer Ankunft durch die nächtlichen Gassen streifte und bei seinem Eckimbiss ankam, den er gerade schließen wollte. Sie war hungrig. Er sah ihr das an, dabei stand sie nur unschlüssig herum und betrachtete verstohlen den schönsten Türken der Welt. Er kochte ihr Spaghetti mit hausgemachtem, sehr öligem Pesto, nachdem sie erklärt hatte, »I’m vegetarian, you know«. Er setzte sich zu ihr an den kleinen Bistrotisch. Die Kacheln ringsum waren beklebt mit DIN-A4-Ausdrucken, blitzlichtige Aufnahmen von Chicken-Döner, Hot Dog, Pizza und Manti, Turkish Ravioli. Sie schauten einander an, denn sein Englisch reichte nicht wirklich für eine Unterhaltung, und er strich sich verlegen immer wieder sein langes schwarzes Haar zurück. Als er nach ihrer Telefonnummer fragte, konnte sie sich mit der Wahrheit herausreden, sie habe noch keine türkische SIM-Karte, und in ihre Mailadresse baute sie absichtlich einen falschen Buchstaben ein.
Vom gespielten Hustenanfall ein bisschen geschwächt, nimmt sie die Seifen entgegen, der Verkäufer hat sie in schönes Seidenpapier gewickelt.
Er verbeugt sich wieder.
»So orientalisch, nicht wahr?«, spöttelt sie, aber ihr Begleiter weiß nicht, dass sie nur in Anführungszeichen von Orient und Okzident redet, anders als er, der ihr sofort zustimmt und von Istanbul als Brücke zwischen Ost und West schwärmt. Seit Monaten diskutiert sie mit den anderen Künstlern über dieses Problem des Schwärmens und wie damit künstlerisch umzugehen sei. Ob sie die Klischees dieser Stadt berücksichtigen müssen, um über sie hinausführen zu können, oder sich ganz auf ihren eigenen unbestechlichen Blick verlassen. Machen wir Kompromisse oder Kunst?, lautet die selbstkritische Kernfrage.
Und dann hat sie noch die Sache mit Celal begonnen. Wie ein deutscher Rentner mit einem Thaimädchen (der deutsche Rentner ist in diesem Fall sie). Sie selbst macht diese Witze, wenn auch nur, damit die anderen sie nicht machen.
Ihr Begleiter nun redet über all das hinweg, was so hochproblematisch ist. Die Verschmelzung, sagt er, sei so gelungen, dass man oft gar nicht wisse, auf welchem Kontinent man jeweils sei, schließlich befinde sich Eyüp doch auf der europäischen Seite und sei recht volkstümlich, und auf den Prinzeninseln wiederum, in Asien also, sei es wie in einer mecklenburgischen Sommerfrische vor ...