Der Blick durch den Spiegel
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Der Blick durch den Spiegel

  1. 447 Seiten
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Der Blick durch den Spiegel

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Riga zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Eine junge Frau verläßt ihre bürgerliche Umgebung, bricht auf zu einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mandschurei und erlebt den Ausbruch des russisch-japanischen Krieges. Während der abenteuerlichen Fahrt findet sie durch ihre Leidenschaft, die Fotografie, einen Weg, sich von den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit zu befreien.»Christa Heins Roman ›Der Blick durch den Spiegel‹, prall erzählt und mit einem Schuss Orientexpress-Spannung versehen, handelt von einer Frau, die immer mehr Grenzen überschreitet - geografische, gesellschaftliche, persönliche. Ein vielversprechendes Debüt.« BRIGITTE»Die von Christa Hein in geschichtliche Wirklichkeit hinein kopierte Reise der Sophie Berkholz zu sich selbst ist bis zuletzt ein dramatisches Lese- und romantisches Gefühlsvergnügen.« DIE WELT

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783627022280
Port Arthur, 1904.
I
Albert war nicht gekommen. Sophie hob ihren Rock an und stieg mit gesenktem Blick die drei Stufen hinab auf den Bahnsteig. Sie fühlte sich beobachtet. Ohne irgendwohin zu sehen, drehte sie sich wieder um. Mechanisch, als bewege jemand anders ihre Beine, ihre Arme, nahm sie die Reisetasche in Empfang, die der Kondukteur ihr herausreichte.
»Ihr Valise wird Ihnen später gebracht«, sagte er. Sie dankte ihm. Ihre Lippen Sprechwerkzeuge.
Als sie sich dem Bahnhof zuwandte, hatte sie das Gefühl, die Senkrechte des Gebäudes finge zu schwanken an. Die eisernen Pfeiler, die das Dach trugen, kamen näher, entfernten sich wieder. Nur der harte Griff ihrer Reisetasche, den sie fest umklammerte, gab ihr Halt. Endlich ordnete sich das Bild. Menschen, unzählig viele Gesichter. Wo war Albert? In ihrem Traum hatte sie sein Gesicht nicht mehr erkennen können. Eine ovale weiße Fläche mit Hautfurchen. Sie schüttelte das Bild ab und ging den Perron hinab, vorbei an Kulis, Sänftenträgern, Bonbonverkäufern. Vielleicht wartete er in der Halle. Die eisernen Zeiger der Bahnhofsuhr standen auf zwölf. Erstaunlich. Da waren sie nach dieser ganzen langen Reise tatsächlich auf den Tag, auf die Stunde genau angekommen.
Er war auch nicht in der Wartehalle. Auf den breiten, terrassenförmig angelegten Stufen, die vom Bahnhofsvorplatz zum Hafen hinunterführten, blieb sie stehen. Die Hügel um die Stadt glänzten in der Sonne. Das Eis schien zu schwitzen, blendete wie polierte Glasur. Sie beschattete die Augen mit der Hand. Einige Schiffe lagen vor dem Hafen unter Dampf. Ein Gewirr von Masten. Auf der Straße türmten sich im Schneematsch meterhoch hölzerne Wodkakisten. Schon begann sich das Gewimmel aus Rikschas und Droschken zu lichten. Sie konnte ihre Enttäuschung nicht unterdrücken. Hätte er sie nicht abholen können nach dieser langen, strapaziösen Fahrt? War etwas passiert und sie hatte nicht benachrichtigt werden können? Unruhig stellte sie die Reisetasche ab, suchte nach dem lindgrünen Umschlag mit seiner schnörkeligen, umständlichen Schrift. Als sie den zerknitterten Briefbogen mit der Adresse gefunden hatte, zupfte jemand ganz leicht an ihrem Umhang.
»Madam?« Ein junger Chinese in wattiertem Baumwollkittel stand vor ihr mit aneinandergelegten Handflächen. »You Lady Utzon?« Er verneigte sich tief. Wie damals Tung, dachte sie und nickte. Er reichte ihr einen Umschlag, auf dem sie ihren Namen in Alberts Schrift erkannte. »Liebste Sophie«, schrieb er, »dringende Geschäfte haben mich abberufen nach Tschifu. Es ist ein Trauerspiel, aber es war mir unmöglich, heute hier zu bleiben. Der Diener heißt übrigens Wei-Min. Er wird dich in dein neues Zuhause geleiten. Ich komme, sowie ich kann.«
Wei-Min führte sie zu einer Rikscha. Während er ihre Tasche hinten befestigte, ließ sie sich in den ausgepolsterten, schräg gestellten Sitz sinken. Dann stellte er sich zwischen die Griffe, wand sich ein Seil um den Leib und lief in leichtem Trab die Straße hinunter. Kahopp, kahopp, der Klang seiner Holzpantinen, nicht unähnlich den Hufen eines Pferdes. In Riga hatte sie noch verkündet, nie würde sie es über sich bringen, sich von einem Menschen ziehen zu lassen wie von einem Esel. Der Zopf des Dieners wippte im Rhythmus seiner Schritte, die Stadt ein überdimensionales Stück Leinwand, das jemand auf und ab bewegte: verschneite Hügel mit Festungsanlagen, ein glitzerndes Meer vor der Hafenbucht, von Felsen umrahmt. Vor einem einfachen zweigeschossigen Gebäude aus Stein hielten sie, Sophie folgte Wei-Min die zwei Stufen ins Haus. Im Erdgeschoß befand sich der Empfangsraum. Mit seinen pistaziengrünen Vorhängen, einer spiegelblanken Vitrine, einem Aquarium und dem olivfarbenen Mobiliar erinnerte er an einen grünen, mit Algen bewachsenen Meeresgrund, der versunken und entrückt wie ein Traumland zu sein schien. Eine der Türen öffnete sich, und eine schmale, langbeinige Frau trat ihr entgegen. Auf ihrem Gesicht lag ein rätselhaftes Lächeln. In diesem Moment kam die Sonne hervor und ließ ihr blondes Haar aufleuchten, als seien Goldfäden hineingewebt, glitt über ihr rotes, besticktes chinesisches Seidenkleid … unwirklich, alles ein Traumbild, dachte Sophie, als die Frau in dem ihr so vertraut klingenden Deutsch der Dänen jetzt sagte: »Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Albert hat so viel über Sie erzählt. Herzlich willkommen bei uns in Port Arthur.« Sophie blieb stumm. Es war wie ein Schock. Fast mißtrauisch wartete sie. Die andere nahm einfach Sophies Hand in ihre. »Albert hat mich gebeten, Sie heute hier zu empfangen. Er mußte in einer dringenden Angelegenheit nach Tschifu. Ich«, hier, so kam es Sophie vor, zögerte sie einen winzigen Augenblick, »ich bin Johanna Andersson. Albert ist oft unser Gast.« Die dänische Mission, natürlich. Albert hatte ihr von Johanna geschrieben, gebeten, etwas für sie mitzubringen. Endlich erwiderte sie die Begrüßung. Ein alter Chinese in langem, weißem Rock und weißem Kittel näherte sich mit endlosen Verbeugungen. Er sagte etwas in seiner Sprache. »Er möchte Sie durchs Haus führen«, dolmetschte Johanna. »Ich werde inzwischen veranlassen, daß man uns Tee und etwas zu essen bringt. Sie werden nach der anstrengenden Reise eine Stärkung brauchen.«
In ihrem neuen Schlafzimmer trat Sophie ans Fenster. Man konnte das Meer von hier sehen, beinahe wie in Jurmala. Das war lieb von dir, Albert. Probeweise sein Name. Sie kleidete sich aus, legte sich aufs Bett. Die unberührte weiße Daunendecke neben ihr eine kühle, fremde Landschaft. Wie sie duftete. Sie nahm es gerade noch wahr.
Als sie aufwachte, lag auf dem Spiegel grünlich der Widerschein des letzten Lichts. Sie war schweißgebadet. Etwas hatte ihr auf der Brust gehockt im Schlaf, dunkel und groß, gegen das sie mit dem Atmen nicht ankam. Ein Druck wie in frühester Kindheit. Ihre Angst vor der Dunkelheit. Man konnte nicht fortlaufen davor, mußte reglos mitansehen, wie das Licht der Sonne sich allmählich zurückzog, die Winkel, die eben noch rötlich geleuchtet hatten, verblaßten, von Schatten aufgefressen wurden, die sich des ganzen Raums zu bemächtigen drohten. Schatten, die nicht schwarz oder violett oder blau waren, sondern einfach nur dunkel. Luft. Sie mußte hinaus, um nicht zu ersticken. Die Treppenstufen knarrten überlaut, als sie hinabstieg. Urplötzlich stand der alte Chinese vor ihr in dem dunklen Flur. »Bitte, geben Sie mir meinen Mantel.« Ihre Stimme klang rauh vor Schreck. Was mußte er so schleichen. Wortlos brachte er ihren Pelz. Plötzlich fiel ihr die Dänin ein. Ihr Angebot, etwas zu essen zu besorgen. Wie unhöflich von ihr, nicht darauf eingegangen zu sein.
Unten im Empfangszimmer war gedeckt. Ein kleiner Lacktisch mit blauweißen Porzellanschälchen. Darin schwarze wolkenartige Pilze, weißliche Teigbällchen, eine Art Kuchen, der wäßrig aussah. Johanna Andersson saß in einem Sessel, die langen Beine gekreuzt, und rauchte. Als Sophie eintrat, legte sie ihr Buch zur Seite, stellte einen Aschenbecher darauf und machte eine Geste mit der Hand, Sophie solle sich setzen. »Haben Sie sich ein wenig ausruhen können?« fragte sie. Sie stand auf, ging zur Tür und rief dem Diener in der Küche zu, er möge ihnen jetzt den Tee bringen.
Sophie ließ sich auf einem der Stühle am Eßtisch nieder. Ihr Blick fiel auf das Buch. Es war die dänische Ausgabe der Anna Karenina, die sie selbst einmal in Kopenhagen für Albert gekauft hatte. Dem Lesezeichen nach zu urteilen, hatte Johanna anscheinend schon die Hälfte des Buches gelesen. »Ich denke, Albert wird heute nacht eintreffen«, sagte Johanna. »Er hatte es jedenfalls so angekündigt.« Der Diener brachte den Tee, Johanna schenkte beiden ein, nahm im Stehen nur einen kleinen Schluck aus ihrer Tasse und sagte dann: »Ich muß leider gehen. Ich werde in der Missionsstation gebraucht.«
Es war Sophie recht. Sie hatte ohnehin einen Spaziergang machen wollen.
Das Meer lag fliederfarben unter dem früh dunkelnden Januarhimmel. Die Positionslichter der Hafeneinfahrt spiegelten sich im Wasser, grazile Tänzerinnen auf den Wellen. Fehlt nur noch, daß sie rauchen, dachte Sophie. Auf den Hügeln, wo die Forts sich befinden mußten, sah sie Lichtschein, vor einigen der Häuser in der Bucht hingen bereits Lampions. Sie folgte der Straße bergauf. Tief atmete sie die kalte, klare Luft ein, die jetzt von den Hügeln herabfiel und die Nacht ankündigte. Es roch nach Meer. Tang, Salz, Eisen. Dazwischen Essensdünste, ganz aus der Nähe der bittere Duft roter Bohnen, Ingwer. Der Atem dieser neuen Stadt. Allmählich wurde ihr wärmer, ihre Hände durchblutet von der Anstrengung des Bergaufgehens. Wie gut das tat. Sie dachte an Stanton. So oft war sie mit ihm um diese Stunde zusammengewesen. Es war der erste Abend, den sie fern voneinander verbrachten. Sie wünschte, auch er möge jetzt an sie denken, sie vermissen.
Sie hörte Schritte. Erschrocken drehte sie sich um. Jemand kam hinter ihr die Straße herauf, lief schnell. Sie sah kein Licht mehr in der Nähe, die letzten Häuser lagen längst unterhalb von ihr. Wie leichtsinnig war sie gewesen, allein loszugehen in dieser fremden Stadt, in der es zugehen mochte wie in Irkutsk. Sie dachte an Tung. Wenn sie verfolgt wurde? Sollte sie fortlaufen? Aber wohin? Sie kannte sich nicht aus, der Weg führte irgendwo hinauf in die Hügel, wo es noch einsamer war.
Ein Mann, kein Chinese, der Größe nach zu urteilen. Einen Augenblick hob sich seine Silhouette gegen den noch schwach erhellten Spiegel des Meeres ab. Er trug einen Hut, sie sah die Krempe gegen den Himmel. Ihre Augen tränten vor Anstrengung, sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Ihre Haut am Rücken war vom Laufen feucht geworden, sie fröstelte. Er kam direkt auf sie zu. Fieberhaft überlegte sie. Vielleicht könnte sie ihm einfach ihre Tasche überlassen, ihm versprechen, nichts zu melden – da rief eine vertraute Stimme ihren Namen.
»Albert!« entfuhr es ihr. Vollkommen überrascht und zugleich befremdet von der seltsamen Situation, starrte sie die Gestalt an. Sie näherte sich mit kräftigen Schritten. »Meine Liebe!« Jetzt erkannte sie ihn. »Es ist für dich zu gefährlich, allein hier herumzulaufen.«
»Albert«, wiederholte sie, als könne sie es nicht glauben. Wie gut er aussah. Sie hatte sein Gesicht tatsächlich nicht mehr genau in Erinnerung gehabt. Seine blauen Augen, sein blondes Haar, der freche Ausdruck eines kleinen Jungen, der ihr von Anfang an so gut gefallen hatte. Dann war er bei ihr. Sie schlossen sich in die Arme; ungewohnt fühlte er sich an, die harten kleinen Härchen seines Pelzkragens stachen ihr ins Gesicht. »Sophie. Ich bin so froh, daß du da bist.«
Wenig später betrat sie das Haus zum zweiten Mal. Albert fragte mit Stolz in der Stimme: »Gefällt es dir hier?«
Sie nickte, immer in der Erwartung, jeden Augenblick aus einem der Räume Johanna in ihrem roten Kleid kommen zu sehen. »Du wirst hungrig sein. Komm, unser Koch hat es sich nicht nehmen lassen, etwas für dich vorzubereiten.« Albert führte sie ins Speisezimmer. Ein Tisch mit einer Vielzahl kleiner Schüsseln war gerichtet, in einem schwarzen Lacktopf dampfte weißer Reis. Albert reichte ihr ein Paar elfenbeinerner Stäbchen, deren obere Enden als Drachenköpfe geschnitzt waren. »Kannst du mit Chop-sticks umgehen?«
Sie nickte wieder. Spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. In diesem Augenblick griff Albert nach ihrer Hand, umschloß sie, ließ sie erst los, als der Boy den Raum betrat. »Du bist noch schöner geworden, Sophie«, flüsterte er. »Oh, da fällt mir etwas ein.« Er stand auf und verschwand im Nebenzimmer, kehrte zurück mit einem Papier in der Hand. »Da. Lies selbst.« Sie nahm das Blatt entgegen. Ein Telegramm von Corinna. »Erstes Mausezähnchen zeigt sich – stop«, hatte die Schwester telegraphiert. »Großes Geschrei – stop – Alles in Ordnung Corinna.« Sophie starrte das Wort »Mausezähnchen« auf dem gelblichen Telegraphenpapier an. Ein typisches Corinna-Wort. Wie von ferne hörte sie die Stimme ihrer Schwester, ihr Lachen. Dann sah sie vor sich die winzige weiße Spitze im roten Mündchen ihrer Tochter. War es Sehnsucht, was sie empfand?
Albert schien es zu vermuten, denn wie um sie abzulenken streichelte er ihre Hand und sagte: »Nun erzähl mir von deiner Reise. Bist du mit dem Begleiter, den ich dir geschickt habe, zufrieden gewesen?« Ungläubig sah sie ihn an. Aber natürlich, woher sollte er denn etwas wissen.
Es wurde spät, bis sie ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Angefangen mit Tungs Auftritt in St. Petersburg, die Kommentare des Mannes in der Hotelbar, Tungs sonderbares Benehmen im Zug, sein Verschwinden nach dem Mord, ihr Verdacht, Alberts spät eingetroffene Briefe, das Fehlen des angekündigten Portraits des Chinesen und schließlich Tungs Wiederauftauchen gegen Ende der Reise.
»Und das alles läßt du mich jetzt erst wissen? Warum hast du mir nicht sofort telegraphiert?« Albert war aufgesprungen. »Mordverdacht«, murmelte er, während er aufgeregt im Zimmer auf und ab lief. Unvermittelt blieb er stehen. »Nein. Dann wäre er doch kaum wieder vor dein Fenster gelaufen. Hast du ihn auch in Port Arthur noch einmal gesehen? Ist dir jemand hierher gefolgt?« Sophie schüttelte den Kopf. Sie war viel zu durcheinander gewesen, um darauf zu achten. »Die Unterlagen hast du aber dabei?« Sie nickte. »Wir müssen sofort etwas unternehmen.« Albert lief zum Telephon, nahm den Hörer in die Hand, wählte, legte wieder auf, bevor die Verbindung hergestellt war. Dann kam er zurück an den Tisch und setzte sich zu ihr. »Laß uns in Ruhe überlegen. Es hat keinen Sinn, etwas zu überstürzen. Wenn ich jetzt Stössel anrufe, den Kommandanten der Festung, und alle wegen dieses Mannes verrückt mache, weiß es morgen die ganze Stadt. Das kann die Ermittlungen behindern, du weißt ja nicht, wie es hier zugeht. Nichts kann geheimgehalten werden, alle wichtigen Informationen, besonders jene Dokumente mit dem Stempel ›Geheim‹, machen sofort die Runde.«
Ihr fielen die Gespräche aus dem Zug ein. Dasselbe hatten Cox und der Konsul erzählt.
»Wir kennen ja nicht einmal die Dimension des Ganzen. Wenn dieser Tung wirklich Japaner ist, besteht wohl der berechtigte Verdacht, daß es um Spionage geht. Aber ob der Mord zufällig passierte oder womöglich mit Tung in Zusammenhang zu bringen ist …« Er betrachtete Sophie plötzlich, als sähe er sie jetzt erst wirklich. »Was hast du?« fragte sie. Seine Augen hatten sich geweitet, als sei ihm ein schrecklicher Gedanke gekommen. »O Gott«, murmelte er. »Sophie.« Er stand auf, lief im Zimmer auf und ab, die Arme auf dem Rücken verschränkt. »Albert, sag mir die Wahrheit. Um was für Unterlagen geht es überhaupt? Wenn diese Ereignisse wirklich in einem Zusammenhang stehen, müssen es wichtige Dokumente gewesen sein. Ich habe mir diese Frage auf der Fahrt bereits gestellt. Einerseits konnte ich nicht glauben, daß du mich ohne mein Wissen als Kurier benutzen würdest … andererseits …« Sie brach ab. Albert war vor dem Aquarium stehengeblieben, starrte auf die blaugrünen und orangefarbenen Fischchen, die sich mit ihren transparenten Seidenflossen voranfächelten. Sie war nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte. Eine lange Zeit blieb er stumm. Dann drehte er sich abrupt um und sagte: »Ich werde dem Kommandanten morgen persönlich Bescheid geben. Es muß Wege geben, diesen Japaner, der sich ja möglicherweise in der Stadt aufhält, zu fassen.«
Jetzt erst fiel ihr das Photo ein, das sie von Tung gemacht hatte. Sobald sie ih...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Riga, 1900
  6. Jurmala, 1903
  7. Die Reise. Riga–Port Arthus, 1904
  8. Port Arthur, 1904
  9. Jurmala, 1904
  10. Riga, 1914
  11. Impressum
  12. Über die Autorin
  13. Leseprobe aus dem neuen, vierten Roman der Autorin »Der Glasgarten«