1.
Ein unerwarteter Gast
Tom bremste scharf. Er brachte unseren zehn Jahre alten Ford Explorer abrupt auf dem Schotter zum Stehen. Der von den Reifen aufgewirbelte Staub flog an uns vorbei und um die Silhouette des Tieres herum, das vor uns im Scheinwerferlicht stand, ähnlich wie Kunstnebel während einer Bühnenshow.
Es war ein Esel. Mitten auf unserem Zufahrtsweg.
„Was um alles in der Welt …?“, murmelte mein Mann, während wir beide durch die Windschutzscheibe auf das Tier mit den riesig langen Ohren starrten. Es hielt im Kauen inne und schien genauso überrascht zu sein wie wir. Nur sechs Meter von unserer Stoßstange entfernt blinzelte es in das grelle Scheinwerferlicht. An den beiden Seiten seines Mauls stand Gras hervor und seine unübersehbar langen Ohren waren nach vorn gerichtet. Wir starrten es an, während es seinen Bissen herunterschluckte und zurückstarrte. Dann schwenkten die Ohren herum, es machte kehrt und lief Richtung Dunkelheit.
Ich drehte mich zu Tom, wobei meine Nylonjacke laut knisterte.
„Hey, das ist ein … das ist ein …“
„Esel“, beendete er den Satz für mich. Ich schloss meine Augen und öffnete sie rasch wieder, nur um ganz sicherzugehen. Ja, er war noch immer da. Und immer noch ein Esel. „Was um alles in der Welt tut ein Esel hier?“
Tom lehnte sich vor und spähte durch die Dunkelheit auf den plumpen Umriss, der sich nun außerhalb des Scheinwerferlichts ein weiteres Büschel Frühlingsgras schmecken ließ. Tom rieb sich das Kinn und versuchte, die Situation einzuschätzen. Er stellte die Automatikschaltung auf „Parken“ und kam zu einem Schluss, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte.
„Jemand wird ihn anfahren, wenn wir ihn nicht einfangen“, sagte er. Tom war bereits so müde, dass er die Worte kaum herausbekam. Die engen, gewundenen Straßen hier in dieser ländlichen Gegend von Texas, eine dunkle Märznacht, zu schnell fahrende Anwohner und ein herumstreunender Esel … ein Unfall war quasi vorprogrammiert. Und weder dieser noch das Einfangen eines Esels standen auf unserer Wunschliste am Ende dieses langen und anstrengenden Tages.
„Lass ihn einfach“, schlug ich vor. „Ich bin sicher, jemand sucht nach ihm und wird ihn nach Hause bringen.“ Ich schaute dem streunenden Esel zu, wie er seinen Kopf in ein weiteres Grasbüschel versenkte, das Gras herausriss und vor sich hin kaute. Dann wurde er vom Flutlicht unseres Nachbarn erleuchtet, und ich konnte sehen, dass er arg zerschrammt war. Vielleicht hatte er bereits einen Unfall gehabt. Vermutlich brauchte er unsere Hilfe, aber ich konnte an nichts anderes denken als an eine heiße Dusche und meinen Schlafanzug. Es war schon fast zehn Uhr abends und wir hatten unsere Kinder seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Wir waren erschöpft und wollten diesen schrecklichen Tag einfach nur hinter uns lassen.
Ich musste an den Morgen zurückdenken. Er hatte für Tom und mich im Badezimmer einer Kundin begonnen, die dort auf dem Boden vor der Toilette ihr Mieder und ihren BH hat liegen lassen. Die stramme Shapewear war uns ein peinliches Hindernis, das unsere „glamouröse“ Arbeit behinderte, während wir die Wände in eine italienische Landschaft verwandelten und uns in Richtung Toilette vorarbeiteten, um die wir herummalen mussten. Tom benutzte schließlich einen Pinsel, um die Unterwäsche aufzuspießen, hielt sie auf Armlänge von sich entfernt und sah wie ein Gentleman zur Seite, während er sie auf der Badewannenkante ablegte, sodass er das Meisterwerk an der Wand und rund um die Toilette fortsetzen konnte. Meine Güte, ist das heiß hier. Warum ist der Thermostat so hoch eingestellt? Und warum braucht Unterwäsche eigentlich so viel Spitzenverzierung?
Der Tag endete unter der Kuppeldecke der Eingangshalle unserer Kundin, wo wir auf Ausziehleitern balancierten und heftig ins Schwitzen kamen, während wir mit unseren Pinseln „nur ein paar zusätzliche Details“ anbrachten, um die die Kundin noch bei einer Arbeit gebeten hatte, die wir eigentlich bereits beendet hatten. Eine Forderung, die weit über unsere Vereinbarung hinausging. Und irgendwo zwischen diesen beiden Ereignissen ereilte uns die furchtbare Erkenntnis, dass dieser Auftrag wohl nicht für das Zahlen unserer Miete reichen würde.
Wir lebten zwar unseren Traum, doch er war zum Albtraum geworden.
Tom und ich sprachen nicht viel miteinander, als wir unsere Leitern und Malutensilien einsammelten und nach Hause aufbrachen. Unsere Kinder – die beiden, die noch unter unserem Dach lebten – hatten ohne uns zu Mittag gegessen. Getreideflocken. Wir hofften, dass sie nachmittags ohne unsere Aufsicht irgendetwas Konstruktives getan hatten. Sie hatten mir versichert, dass die Hausaufgaben erledigt würden, während ich sie mehrmals von meinem gefährlichen Platz auf der Leiter angerufen hatte, wobei ich mein Handy vorsichtig aus meiner rechten Hosentasche an mein linkes Ohr geführt hatte, ohne mein Gleichgewicht zu gefährden. Doch wie alle berufstätigen Eltern konnte ich nicht sicher sein, dass es stimmte, bevor ich nicht nach Hause kam und es mit eigenen Augen sah.
Grayson, unser zwölfjähriger Sohn, ließ sich leicht von einem kniffligen Lego-Projekt oder einem Modellflugzeug ablenken, zwei seiner Hobbys neben dem Eishockey. Meghan, die bereits die Oberstufe der Highschool besuchte, konnte einen ganzen Abend damit verbringen zu telefonieren, Musik für ihre Band zu schreiben oder ihr Outfit für den nächsten Tag herauszusuchen. Und unsere älteste Tochter Lauren war Erstsemesterstudentin für Grafikdesign an einer nahe gelegenen Universität und plante bereits ihre eigene Hochzeit mit ihrem Freund aus Highschool-Tagen. Zwischen den Aktivitäten unserer Kinder und unserer Arbeit vergingen die Tage meistens wie ein sich drehender Kreisel. Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein Seufzer entfuhr.
Ich presste meine Stirn an die kalte Scheibe des Beifahrerfensters im Wagen und ließ mich von der Müdigkeit übermannen. So hatte ich mir unser Abenteuer, das Verwirklichen unseres Traums, keineswegs vorgestellt. Wir waren an einer Stelle angelangt, von der weder Motivationsbücher noch Seminare etwas hatten verlauten lassen. Nämlich dort, wo man inmitten des Auslebens seiner Leidenschaft immer noch Geld für Essen und Miete braucht. Hinzu kamen die Kosten für den Kieferorthopäden und die Schulgebühren. Mit der Wirklichkeit des Lebens konfrontiert zu sein, kann einem das eigene Träumen gründlich vermiesen.
Während unserer Fahrt über die mit Schlaglöchern gespickten Straßen hatten Tom und ich uns in unsere jeweils eigene Welt stummer Niederlage und gegenseitiger Vorwürfe zurückgezogen. Wir brauchten beide eine heiße Dusche und eine anständige Mütze voll Schlaf, um am nächsten Morgen einigermaßen objektiv über unsere Situation nachdenken zu können. Doch als wir den Wagen auf unseren Zufahrtsweg lenkten, um die letzte staubige Viertelmeile nach Hause zurückzulegen, stand dort im Licht der Scheinwerfer jener Esel.
Wir sahen ihn noch einige Minuten an, dann schaltete Tom den Motor ab und öffnete die Fahrertür. „Es wird nicht lange dauern, Rachel“, rief er mir über die Schulter zurück zu. „Bleib einfach sitzen und wirf ein Auge auf ihn. Ich komme gleich mit einem Seil zurück, um ihn einzufangen. Wir werden ihn heute Nacht auf unsere Koppel lassen und morgen nach seinen Besitzern suchen. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass jemand verletzt wird, wenn er angefahren wird.“
Gehorsam blieb ich sitzen und beobachtete, wie der Esel gefräßig seine Grasmahlzeit fortsetzte. Was für ein unnützes Tier, dachte ich, aber irgendwie süß. Wie versprochen kam Tom schon bald mit einem Nylonseil zurück – und mit einem Eimer. Der Esel, obgleich argwöhnisch gegenüber diesem fremden Menschen, zeigte sofort Interesse am Inhalt des Eimers, den Tom so verlockend hin- und herschwenkte, und er kam näher, um ihn zu inspizieren. Bingo!
In dem Moment dachten wir etwas vermessen, „dass das einfach werden würde“.
Ein klassischer Anfängerfehler.
Einen streunenden Esel für Hafer zu interessieren, ist einfach. Ihm ein Seil umzuschlingen und ihn dazu zu bewegen, einem zu folgen, ist … etwas ganz anderes. Dennoch: Tom als robuster Naturbursche mit einer Schwäche für alles, was Hilfe benötigt, schien der Aufgabe trotz seines langen Arbeitstages gewachsen zu sein.
Vorsichtig näherte er sich dem nervösen Esel und schlang das Seil behutsam über dessen riesigen Kopf und Hals. Beruhigend redete er auf ihn ein und hielt den Daumen in die Höhe, als der Esel die ersten zögerlichen Schritte unternahm. Sieh an, es würde wirklich einfach sein!
„Bravo!“, rief ich mit erheitertem Gesicht und hielt meine Daumen demonstrativ in die Höhe. Doch plötzlich stoppten die kleinen Hufe und gruben sich in die Erde. Der kleine Kerl lehnte sich zurück und weigerte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu machen.
Tom redete ihm gut zu und zog sanft am Seil. Der Esel scheute.
Tom gab ihm Haferhäppchen. Der Esel ging zwei Schritte weiter … yes! Dann fünf Schritte zur Seite … no! Tom zog. Doch der Esel zog heftiger in die andere Richtung. Offensichtlich funktionierte das nicht so, wie Tom gehofft hatte.
Tom forderte mich auf mitzuhelfen. Er gab mir das Seil und stellte sich hinter den Esel. Mit einem tiefen Atemzug wollte er ihn anschieben. Ich zog.
Nichts.
Tom presste seine Schulter an das Hinterteil des Tieres, stützte seine Füße ab und stemmte sich mit seinen Beinen gegen den Esel, während ich noch fester am Seil zog.
Doch der Esel bewegte sich keinen Zentimeter.
Wir stemmten unsere Hände in die Hüften und fingen an, eine Strategie zu entwerfen. Tom hatte eine glänzende Idee. „Lass uns die Plätze tauschen“, schlug er vor, aber ich hatte meine Zweifel.
„Ich hoffe, dass er keinen fahren lässt!“, sagte ich. Ich stellte mich also hinter den Esel und platzierte meine Turnschuhe so weit wie möglich von sei...