Sechster Leitsatz
Teilgruppen erkennen und mit ihnen arbeiten
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führte Solomon Asch, ein aus Deutschland geflüchteter Psychologe, eine Reihe berühmt gewordener Experimente mit Gruppen durch. Asch nahm an, dass ein Einzelner in einer Gruppe, wenn er mit einer eindeutigen Wahl konfrontiert wird, richtig wählen würde, egal was die anderen tun. – Wie er sich irrte! Er gab jedem Teilnehmenden ein Kärtchen mit einem Strich. Sie sollten einen gleichlangen Strich aus einem anderen Kärtchen mit drei unterschiedlichen Strichen auswählen. Bis auf die Versuchsperson wurden vorher alle angewiesen, falsche Antworten zu geben. Der Proband widersprach der Gruppe mehrmals und wurde dabei immer unruhiger und unsicherer. Innerhalb von 12 Versuchen schlossen sich die meisten Versuchspersonen der Gruppe an. Nur jeder Vierte hielt dem Gruppendruck stand und blieb bei der eindeutig richtigen Antwort.
Wir hatten das Glück, Solomon Asch ein paar Jahre später besuchen und seine Experimente mit ihm diskutieren zu können. „Ich suchte nach Bedingungen, unter denen jede Person unabhängig von Gruppendruck sein konnte“, erzählte er uns. Er war überrascht, wie wenige sich gegen eine Gruppe behaupten konnten, die eindeutig falsche Antworten gab. Er hatte gedacht, der eigene Verstand würde den Sieg davontragen.
Asch führte Variationen seines Versuches durch. Er unterstützte Abweichler mit einem (geheimen) Verbündeten, der im Voraus angewiesen wurde, eine Antwort entgegen der Mehrheit zu geben. Solange eine weitere Person der Mehrheit ebenso widersprach, blieben die Versuchspersonen ihrer Überzeugung treu. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Antwort des Verbündeten richtig war... wichtig war nur, dass es ihn gab. Als Nächstes ließ Asch den Verbündeten unter einem Vorwand den Raum verlassen. Die meisten Versuchspersonen gaben dann wieder Antworten, von denen sie wussten, dass sie falsch waren. Sie brauchten die Unterstützung eines Verbündeten, um ihre Wirklichkeit aufrechtzuerhalten (Asch, 1952 & Faucheux, 1984).
Asch hatte eine Teilgruppe aus zwei Personen gebildet, die durch ihre gemeinsame Haltung verbunden waren. Ohne Unterstützung können nur wenige Menschen unabhängig bleiben.
Er erzählte uns, er habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass seine Erkenntnisse auch bei Treffen in der Wirtschaft angewendet würden. Tatsächlich hat er die Tür zu effektiveren Treffen aller Art in der ganzen Welt geöffnet.
Was geschieht in der Gruppe
Die Arbeit mit Teilgruppen verbessert die Arbeit der Gesamtgruppe
Zwei Jahrzehnte später experimentierte Yvonne Agazarian (1997) mit der Theorie, dass Gruppen neue Fähigkeiten entwickeln, wenn sie Unterschiede in den Einstellungen der Teilnehmenden entdecken und sie dafür nutzen, die Gruppe zusammenzuhalten, die Zusammenarbeit zu verbessern und bei der Aufgabe zu bleiben. Sie hatte festgestellt, dass Personen Gefahr liefen, ignoriert, genötigt oder angegriffen zu werden, wenn sie umstrittene Aussagen machten. Wenn das geschah, kehrten die Teilnehmenden ihrer Aufgabe den Rücken und beschäftigen sich stattdessen mit ihren Gefühlen von Recht und Unrecht.
Damit Gruppen „ganz“ bleiben und an ihrer Aufgabe arbeiten, muss sichergestellt werden, dass niemand für eine außergewöhnliche Aussage zum Sündenbock gemacht wird. Immer wenn Meinungsverschiedenheiten im Prozess auftauchten, bildete Agazarian Teilgruppen für Teilnehmende mit einer ähnlichen Haltung; diese Teilgruppen waren in der Lage, mit Konflikten wirksam umzugehen. Gab es eine für jede unterschiedliche Haltung, konnten sich alle eher auf die Aufgabe konzentrieren... solange die Gruppen sich nicht schon bekämpften. Außerdem vermochten die Teilnehmenden Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln, wenn sie ähnliche Einstellungen zwischen den verschiedenen Teilgruppen entdeckten.
Dem Auseinanderbrechen von Gruppen vorbeugen
Wenn in einer Gruppe Spannungen durch unterschiedliche Haltungen auftreten und sich aufschaukeln – und Sie nicht gewohnt sind, solche Spannungen auszuhalten – kann es schwierig werden damit umzugehen und ein Auseinanderbrechen der Gruppe zu verhindern. Dann brauchen wir Unterstützung, und wir finden sie in Techniken, die wir aus Yvonne Agazarians Erkenntnissen entwickelt haben und in diesem Kapitel vorstellen.
Mit Agazarians Ansatz, Gruppen durch die Bildung von Teilgruppen zu unterstützen, trotz unterschiedlicher Haltungen weiter an ihren Aufgaben zu arbeiten, befreien Sie sich davon, jedes auftauchende Problem selbst lösen zu müssen.
Sie brauchen weder das Verhalten einer Gruppe, ihren Entwicklungsstand oder die Persönlichkeiten ihrer Mitglieder zu untersuchen, noch sich mit individuellen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. Sie werden nur dann aktiv, wenn Meinungsverschiedenheiten drohen, die produktive Arbeit zum Erliegen zu bringen. Anstatt sich vor Konflikten zu fürchten, können Sie Unterschiede als kreativen Schub für die Weiterarbeit erleben, ohne dass die Teilnehmenden dabei alle einer Meinung sein müssen.
Meine richtigen und deine falschen Ansichten
Das Begleiten von Treffen ist für jeden eine Herausforderung, weil Unterschiede niemanden kalt lassen: Wir können sie hassen, lieben, sie meiden, oder alle darauf stoßen, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir gleichgültig bleiben. Wenn eine Gruppe sich an ihnen reibt, kann der Dialog in einer Kapitulation enden oder zur Attacke werden. Die Aufgabe interessiert niemanden mehr. Einige Teilnehmende wollen andere davon überzeugen, dass sie falsch liegen. Einige wollen die Gefühle anderer nicht verletzen; einige verteilen Etikette wie „Gegner jeglichen Wandels“ oder „Sensibelchen“, oder was immer ihnen sonst noch einfällt.
Ob irgendetwas davon ausgesprochen wird oder nicht, sobald der (meist unbewusst ablaufende) Prozess erst einmal in Gang gekommen ist, können Sie sich von jeder Ausrichtung auf die Aufgabe, kreativen Lösung und engagierten Umsetzung von Vorhaben verabschieden. Wenn es wirklich brennt, wird aus der schlichten Tatsache „Du glaubst dies, ich glaube das“ schnell „Meine vernünftigen Ansichten“ gegen „Deine bescheuerten Ansichten“. Die sich überlegen fühlen, werfen ihr Gewicht in die Waagschale, und die unsicher sind, geben auf oder rebellieren.
Der Frust steigt. Wie verhindern Sie eine Explosion? Wenn Ansichten aufeinander prallen, könnten Sie versucht sein, die Wogen zu glätten. Tun Sie das nicht! Wir wollen Sie darin bestärken, auf Spannungen zu reagieren, indem Sie neugierig auf sie zugehen. Wenn es Ihnen gelingt, die Teilnehmenden dabei zu unterstützen, ihre eigenen und die Unterschiede anderer aufzugliedern, hat die Gruppe die erste wichtige Hürde genommen... jetzt können die nächsten Schritte getan werden, um alle Ressourcen, Ideen, Fähigkeiten und Visionen für Lösungen und Entscheidungen zusammenzufügen.
Wir regen uns über Unterschiede auf
Eine nahezu universelle Erfahrung macht die hier vorgeschlagene Praxis zu einer persönlichen Herausforderung für jeden von uns. Seit jeher haben Menschen Klischees gegenüber anderen Familien, Stämmen, Dörfern... gebildet. Es ist unser Los alle und alles zu kategorisieren, bevor wir es kennen.
Wenn wir bei ...