Verlangen und Melancholie
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Verlangen und Melancholie

  1. 448 Seiten
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Verlangen und Melancholie

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Über dieses Buch

Hinrich, dem ein »e« zum eleganteren Heinrich fehlt, findet an einem sonnigen Maitag einen Brief mit schwarzem Rand in seinem Briefkasten. Wer mag da gestorben sein? Hinrich wagt nicht, den Umschlag zu öffnen. Seit seine Frau vor neun Jahren bei einem Sturz aus 43 Metern Höhe ums Leben gekommen ist, lebt er allein. Seine Zeit als Kulturkorrespondent bei einer großen Frankfurter Zeitung liegt hinter ihm. Und so gehören seine Tage den Erinnerungen an Irene, der geliebten Mutter seiner Tochter Naomi, der Übersetzerin anspruchsvoller italienischer Literatur. Da gab es die gemeinsamen Sommer in Italien, ihre Reisen nach Rom und Pompeji, wo sie vor den berühmten Fresken der Villa dei Misteri stundenlang stehen bleiben konnten, um deren Bedeutung zu enträtseln. Und da gab es ihre Liebe zum Kino; sie mochten das Schwermütige der Schwarzweißbilder, aber ließen sich auch verführen von etwas Leichtem.Doch was geschah wirklich vor neun Jahren, vor ihrem Sturz? Und was steht in diesem Brief mit dem schwarzen Rand? Aufklärung bringt erst eine Reise nach Warschau, wo Hinrich sowohl das Leben mit Irene als auch die Zeit mit einer früheren Geliebten in einer Weise einholt, die alles auf den Kopf stellt, woran er geglaubt hat.»Verlangen und Melancholie«, der neue große Roman von Bodo Kirchhoff, ist ein mit einer hintergründigen Spannung geladener Roman, der den Leser mitnimmt auf eine Spurensuche, bei der langsam, aber unerbittlich die Aufdeckung des großen »Warum« geschieht und der Held die Wahrheit über den Tod seiner Frau erkennt. Bodo Kirchhoff erzählt dabei auch von einem Älterwerden, ohne dass die Wünsche mitaltern, von einem ewig jungen Verlangen und einer letztlich hilfreichen Melancholie.

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Information

I

1

Wann endet ein Leben, wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es noch schlägt? Meine Frau und ich waren Kinogänger, wir mochten das Schwere, aber ließen uns auch von Leichtem verführen, den Bildern einer Liebe an sich – im Kino vergisst man die Sprache oder dass schon Homer die Liebe mit Scheitern und Tod in Verbindung gebracht hat und doch ihre Nachahmung empfiehlt. Was aber ist sie nun, mehr Segen oder mehr Verhängnis? Ein Grübeln seit Menschengedenken, das Ergebnis immer noch offen. Und dabei ist Liebe zweifellos eine schöne Idee, unzählige Filme profitieren davon. Aber auch der Tod als schreckliche Tatsache macht jeden guten Film noch besser und war für Irene am Ende sogar die bessere Wahl als das Leben. Seitdem frage ich mich, warum, und damit auch, wann ein Leben endet: Wenn das Herz die Arbeit einstellt oder diese Arbeit sinnlos erscheint und, wie in meinem Fall, bei Regenwetter oft nur zu einem Lichtblick führt, dem Tierfilm am Nachmittag – Der schwarze Panther vom Orinoco, Das Rätsel der Waldelefanten, Die letzten Tiger Sumatras –, Bilder, die mich bis vor kurzem, noch im Mai, in den Abend gebracht hatten, ja sogar in den Schlaf, und dann lag ein Brief im Kasten, weiß mit einem Rand im Ton des Panthers.

2

Dieser Tag mit dem Brief im Kasten, kurz vor den Eisheiligen, war ein Prachttag – blauer Himmel, milde Luft und ein Gefühl, als sei man bis auf weiteres unsterblich. Alles war gut an dem Tag, sogar die Begegnung mit meinem Nachbarn aus der zehnten Etage ging über die üblichen Worte hinaus. Ich hatte gerade mein Rad in die Fahrradecke der Tiefgarage gestellt, als er mit seinem Geschoss von Auto hereinfuhr, es parkte und ein bildschönes Tier aussteigen ließ, den Hund, der seine Ertüchtigungsläufe mitmachen durfte und ansonsten in der Wohnung lag, tieftraurig, auch wenn es sich nicht beweisen ließ. Es war ein Mischlingsrüde, halb Weimaraner, halb Afghane, etwas Drittes nicht ausgeschlossen, mit dem Resultat menschlicher Augen, und Ohren, die man sich aufs Kopfkissen legen wollte, Name: Grandeville. Ein Hund also, dem kein Buchstabe blieb, auf den er hätte hören können, und der sich gern an mich drängte, auch als der Nachbar um den Wagen ging und Erdspuren von den Reifen schnippte, in der anderen Hand sein Verbindungsgerät mit der Welt. Was für ein Wetter, rief ich, und anstatt wie üblich nur Tagtag zu murmeln, erwiderte er Oh, ja und ging dann zu den Fahrstühlen, während ich die Einfahrt hinauflief, um im Foyer in den Briefkasten zu sehen, etwas, das ich immer erst nach der Arbeit mache, an dem Tag das Zusammenstellen von Fragen, um meinen Enkel Malte auf seine Abiturprüfungen in Deutsch und Ethik vorzubereiten.
Und im Hauseingang traf ich auf andere Nachbarn aus meiner Etage, Nachbarn, die alle drei Monate wechseln, weil sie eine Sprachschule im Parterre besuchen; zu der Zeit, im Mai, waren es drei junge Chinesen mit ihrer Wohnungstür auf demselben Flur wie ich und der Hundebesitzer. Jeden Abend meldeten sie erregt ihre Fortschritte nach Hause, ich konnte es hören, wenn sie noch auf dem Weg zu ihrer Tür telefonierten, und im Foyer vor den Briefkästen begrüßten sie mich mit Tschüs. Und dann lag dort eben dieser Umschlag mit schwarzem Rand, darauf mein Name in Druckschrift, jeder Buchstabe nach rechts unten verrutscht, aber mit Absicht, wie es aussah, als verstellte jemand seine Schrift und lehnte zugleich die Maschinenschrift ab. In meiner näheren Umgebung, Familie, Freunde, frühere Kollegen, war in den Tagen zuvor niemand gestorben, das hätte ich erfahren, also ließ sich in Ruhe überlegen, wessen Tod mir da mitgeteilt wurde. Wen hatte ich in den letzten Jahren aus den Augen verloren, ohne dass er oder sie und die Hinterbliebenen mich aus den Augen verloren hätten? Mir fiel nur, absurderweise, der einzig eng befreundete Kollege aus all meinen Jahren bei der Zeitung der Zeitungen ein, wie Irene sie gern genannt hatte, ein Mann, der längst unter der Erde war, als hätte er aus dem Jenseits geschrieben, zum Jahrestag seiner Beerdigung, was ungefähr hinkam. Und erst im Fahrstuhl dachte ich an die Frauen, die mein Leben erfüllt hatten, die wichtigste auch im Jenseits, kein genaues Wort, aber ein tröstliches. Eine andere war aus dem nahen Vordertaunus, Internistin, Anfang vierzig, als wir uns kennenlernten, groß, blond, kulturell interessiert, Marianne. Ich war nie ihr Patient, außer mit Beschwerden, die in keinem Medizinbuch stehen. Sie war aktiv bei den Umweltleuten, fuhr aber gern in ihrem Zweisitzer, von mir, einem Mann ohne Führerschein, immer wieder vor den Gefahren der Straße gewarnt. Hatte sie etwa den Verkehrstod gefunden? Aber von wem wäre dann die Nachricht gekommen; demzufolge nein.
Fuhr oder fährt, Imperfekt oder Präsens: Wie soll man von einem Menschen reden, von dem man sich gelöst hat, aber den es noch gibt? Fast zwei Jahre lang waren Marianne und ich ein stilles Paar, der Zeitraum, in dem Irene, Frau meines Lebens, am Ende gegen sich selbst nicht mehr ankam. Ein Sommertag in der Stadt, sie hatte mittags mit einem kleinen Rucksack und der Erklärung, sich einer Kundgebung gegen den Flughafenausbau anzuschließen, um ein neuer Mensch zu werden, die Wohnung verlassen, und der Schuss Ironie über den Ernst einer Sache war keine Seltenheit bei ihr. Nur fuhr Irene gar nicht zum Flughafen; sie war gegen Abend auf dem Opernplatz und fotografierte dort junge Paare mit Kind, das erzählte später eine Kollegin aus dem allgemeinen Kulturteil, dem für die ganze Republik – mir unterstand der Umlandteil. Sie kannte meine Frau vom Sehen und rief mich an, nachdem das Furchtbare passiert war. Irene also nicht bei der Kundgebung, sondern Irene allein unterwegs, während ich allein in der Wohnung saß und kein neuer Mensch werden wollte, keiner, der es schafft, auch allein zu leben. Und am nächsten Tag fand man sie am Fuße des Goetheturms, zerschmettert nach einem Fall aus dreiundvierzig Meter Höhe. Sie hat ihrem Dasein ein Ende gesetzt. Oder den Tod aus einer unbekannten Zukunft herbeigeholt, ganz wie man es sehen will.
Der Aufzug hielt im zehnten Stock, und ich traf auf den Hausmeister, Herrn Kerb, unsere Begegnungen seit jeher mit Wertschätzung von beiden Seiten; es gelang mir gerade noch, den Umschlag mit Rand hinter den Rücken zu nehmen. Was für ein Wetter, rief ich wieder, und Herr Kerb gab mir recht und nahm mich beiseite und erwähnte den Nachbarn mit Hund – der soll zu einem anderen Hausbewohner gesagt haben, dass sich sein Hund immer an mich, diesen Scheintoten, dränge. Eine aufschlussreiche Information, ich bedankte mich und ging in meine Wohnung und legte den Umschlag auf den Küchentisch. Scheintot sagt man ja gern, wenn einer nichts mehr zu tun hat und sich nachmittags Tierfilme ansieht; Tatsache ist, ich beziehe seit einiger Zeit Rente – kein nettes Wort, aber das gängige –, genug, um eine Wohnung mit Cityblick halten zu können. Es geht mir soweit gut, auch gesundheitlich. Das Organ, das sich Dichtern wie Schlagerleuten gleichermaßen andient, fällt noch durch keine Prüfung, und für die Prüfungsvorbereitungen meines Enkels konnte ich schon einiges beitragen, war aber noch nicht zufrieden. Nach einem Essen in der Küche setzte ich mich wieder an ein Notebook noch aus meinen letzten Zeitungsjahren, daneben Bücher aus Irenes Bestand, Novalis, Heine, Eichendorff für das mündliche Romantikthema in Deutsch, sowie Aristoteles, Kant und Schopenhauer für die Prüfung in Ethik, mir fehlten nur ein paar neuere Namen, doch war ja der Abend lang; ich saß noch am offenen Fenster mit Blick auf die Stadt, als die Chinesen schon ihre Fortschritte nach Hause gemeldet hatten. Der Mond war ein zartes Komma, und aus den Baumkronen kamen einzelne Vogelpfiffe, leise wie das Weinen von Malte am Grab von Irene, die etwas Jüngeres hatte als seine Mutter, meine Tochter Naomi, und auch die weinte am Grab, das war vor neun Jahren.

3

Irene hatte eins dieser Gesichter, die Frauen eine tragische Verantwortung auferlegen, Gesichter, aus denen jeder lesen kann, was er will. Ihr Mund zählte einerseits zur sogenannten Wirklichkeit, andererseits zum Bereich des Traums; ich glaubte an diesen Mund und überhaupt an Irene, und inzwischen glaube ich an die beruhigende Wirkung von Tierfilmen oder von grünem Tee. Den machte ich in einer Arbeitspause, als immer noch der Umschlag mit schwarzem Rand auf dem Küchentisch lag. Man kann sagen, ich glaube so an grünen Tee, wie ich als Redakteur an den Wert der Kultur geglaubt habe: dass sie unser Zusammenleben vor Barbarei schützt. Und es ist immer das Gleiche, wenn nicht dasselbe, Abend für Abend einen Löffel mit Teeblättern in ein zylindrisches Sieb geben, übergießen mit heißem, nicht kochendem Wasser, ziehen lassen in der Tasse, abwarten vor dem Küchentisch. Grüner Tee soll in siebzig Grad heißem Wasser ziehen, so entfaltet er seine beste Wirkung, die Wirkung, mit der man am Ende womöglich alle früheren Bekannten überlebt, aber davon redet niemand. Endlich der erste Schluck, ein leichter Zitrusgeschmack, der sich verflüchtigt, zu etwas Neutralem, ja Fadem. Grüner Tee ist Luft zum Trinken und lenkt die Gedanken nach innen, nicht auf ein Tun, und sei es nur das Öffnen eines Briefes; ich hatte den Brief sozusagen gedanklich geöffnet und mir irgendeine Person aus früherer Zeit vorgestellt, kaum mehr als ein Name, fortan unter den Namen der Toten ganz hinten auf einer inneren Liste, und den Umschlag dabei in die Tischschublade getan, zwischen alte Fotos und Bedienungsanleitungen, Dinge, die man nicht ohne weiteres wegwirft. Danach der zweite Schluck Tee.
Die Tasse in der Hand – mehr Gefäß als Tasse, die Replik einer römischen Trinkschale mit Henkel, ein Geschenk meiner Tochter, die im nahen Museum für Alte Kulturen arbeitet und solche Repliken als Werbemittel nutzt –, also mit dem grünen oder eher salbeiblassen Tee in schönem Kontrast zum terracottafarbenen Porzellan, ging ich von der Küche in den Wohnraum, an meine Fensterfront zur Stadt, die so viele Jahre unsere Front war, die von Irene und mir, fünf große, von Aluminium eingefasste Fenster, die das Sengen der Sonne kaum aufhalten können. Im Sommer sind die Jalousien heruntergelassen, nur das mittlere Fenster bleibt frei und ist meist geöffnet, im Winter sammelt sich bei Frost am Aluminium das Eis. Ein Haus aus den Siebzigern, Irene und ich zählten zu den frühen Bewohnern, unsere kleine Tochter lernte gerade das Sprechen, als wir einzogen, im Alter von drei war ihr Wortschatz schon furchterregend. Und mit dem Gefäß in der Hand trat ich ans mittlere Fenster und sah – anstatt weiterzuarbeiten, die Kernfragen in den Bereichen Romantik und Ethik für meinen intelligenten Enkel noch mehr im Sinne einer Präsentation zusammenzufassen – auf den Park mit seinen alten Kastanien, genannt Museumspark. So heißt er, weil er gleich zwei Einrichtungen dieser Art verbindet, das Museum Angewandte Kunst, um nicht Kunsthandwerk zu sagen, einen weißen Bau, der gern beschmiert wird, und das Haus, in dem meine Tochter beschäftigt ist, als rechte oder linke Hand des Leiters und auch Kuratorin, dieser Tage mit letzten Arbeiten an einer lange vorbereiteten Ausstellung befasst, Eros in Pompeji – die erste Anregung dazu geht noch auf Irene zurück. Sie hatte nach unserem Besuch des Nationalmuseums in Neapel und der Ruinenstadt durch ihre Art, davon zu erzählen, die alten Dinge förmlich neu erschaffen und in Naomi einen Samen gelegt, der aufging. Umso wunderbarer aber, als sie nach Jahren im Ausland auch noch in das Haus kam, auf das ich von meiner Wohnung aus sehe, eine Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert, darin das Frankfurter Museum für Alte Kulturen und das eigene Kind dort die Nummer zwei. Naomi ist ehrgeizig und keineswegs einfach, aber der Stolz auf sie gleicht das aus; ich bin in ihrer Gegenwart so still wie nach grünem Tee.
Und auch an dem Abend kurz vor den Eisheiligen tat der Tee wieder das Seine – dieser Umschlag, er ließe sich ebenso gut morgen früh öffnen, mit der ganzen Zuversicht durch den vor einem liegenden Tag; auf jeden Fall würde sich die menschliche Neugier durchsetzen, dazu die Achtung gegenüber einem erlittenen Tod und dem Schmerz der Hinterbliebenen. Typische Teegedanken, bis mich die Laute von Grandeville wie die von Delphinen in Unterwasserfilmen, Laute, als läge er in meiner Wanne, aus der Ruhe brachten. Aber sie kamen aus dem Nachbarbad, wo der Hund wohl seinen Korb hatte, und ich stellte die Tasse in die Küche und lief in mein Bad und legte ein Ohr an die Kacheln, nur war es jetzt still auf der anderen Seite, so still wie nach einem einzelnen verschämten Ruf, Ist da wer? Und ich wollte schon antworten, mit Lauten von Mensch zu Hund, diesem angeblich Scheintoten zu einem Lebewesen, das nur Kontakt suchte, doch bevor es so weit kam, klingelte es an der Wohnungstür, dreimal kurz, und ich hatte, was den weiteren Abend betraf, das unvergleichliche Gefühl, gerettet zu sein.

4

Mein Enkel Malte, für mich noch immer Der Kleine und auch der Sohn, den ich mir lange vergebens gewünscht hatte, stand in der Tür, sein Kopf stieß fast an den Rahmen. Schon mit zwölf hatte er meine Normalgröße eingeholt und mich seitdem von Jahr zu Jahr mehr überragt und doch immer auf eine feine Art zu mir aufgesehen, auch noch mit einem erst kürzlich gemachten Führerschein – er am Steuer und daneben ein Großvater, der noch nie ein Auto gesteuert hat, dafür Gedanken auf komplizierte Gefilde lenken kann. Romantik, sagte Malte, können wir kurz darüber reden?
Und von mir aus hätten wir es die ganze Nacht gekonnt, nur wie redet man mit einem Achtzehnjährigen über Heine und Eichendorff oder Novalis, wenn er ein iPad in der Hand hält, um das Gesagte gleich zu prüfen? Allein um Wissen konnte es nicht gehen, da reichten die Fingerspitzen, es sich auf den Schirm zu holen. Also blieb der Kern der Sache, das immer Gültige, das auch einen wie ihn treffen kann, sofern er schon erfahren hat, dass Liebe nicht stark macht, sondern eher schwach, ja im Grunde auf Schwäche beruht, Schwäche für oft nur einen Zug am anderen; und dass Liebe nicht am Beginn steht, wie mit einem Mausklick herbeigeführt, sondern sich allmählich, fast hinter dem Rücken der Beteiligten einstellt, sie heimsucht wie eine Krankheit, so schön wie unheilbar. Nur war mein Enkel bisher weder verliebt, das wäre mir zu Ohren gekommen, noch hatte er Erinnerungen an die dunklen Seiten von Irene. In Maltes Augen gehörte die Welt denen, die leben, nicht den Verstorbenen, schon das ein Hindernis, ihm die Romantik und ein Leiden am Dasein nahezubringen. Einzige Anknüpfung an etwas Leid: Er ist Scheidungskind, die Umstände aber auf das angenehmste geregelt. Maltes Vater, ein Mann aus der Elektronikbranche mit dem üblen Namen Carsten, ein Irrtum meiner Tochter im Alter von zwanzig, geht mit seinem Sohn alle zwei Wochen für ein paar alkoholfreie Cocktails in gelackte Bars, was ja von aller Romantik Lichtjahre entfernt ist. Es fehlte also jeder Hebel, der ihn auf das Wesen der Dinge hätte heben können, und an dem Abend schien er das sogar selbst zu spüren, ein Hoffnungsschimmer. Du weißt ja, Hinrich, ich hab es nicht so mit Liebe und Tod, erklärte er schon beim Betreten der Wohnung. Nur, was sein muss, das muss sein, die wollen solche Sachen hören in der Prüfung, die stehen auf Liebe und Tod.
Malte hat mich seit jeher beim Vornamen genannt, eingeführt von Irene, auch wenn sie in Hinrich nur einen Namen mit verlorenem Buchstaben sah – Wo hast du es bloß gelassen, das kleine e, sagte sie manchmal, etwa bei mir? Und dabei hatte sie selbst mit ihrem Namen die größten Probleme gehabt. Denn eigentlich hieß sie Isabel, ein Wunsch ihres Vaters, und nur mit zweitem Namen Irene, da hatte die Mutter einer toten Schwester gedacht; Isabel Irene, genannt Isabel, ein schöner harmloser Name, bis sie als junges Mädchen unübersehbar schön wurde, während andere Pickel bekamen. Sie war schön bis zum Gespött, und das in einer Stadt wie Rom, wo sie ihre Mädchenjahre verbracht hatte, weil der Vater dort im konsularischen Dienst war. Isabella la fica, riefen die Jungs, Isabel, die Feige, ein schlimmes, verletzendes Kompliment, nur war sie damals noch nicht imstande, die Tyrannei ihres Namen abzuwerfen, dazu musste noch mehr passieren. Im Grunde gibt es ja nur ein einziges Wort, das einen wirklich etwas angeht, und das ist der eigene Name, der sich mit dem Bewusstsein verbindet und das wiederum mit unserem Organismus, was niemand erklären kann – warum bin ich, Isabel, ausgerechnet in diesem schönen Körper und in keinem anderen? Oder warum erlebe ich, Hinrich, mich ausgerechnet in diesem Organismus und nicht in dem von Malte? Man kann nicht aus seiner Haut, aber wie kommt man in seine Haut? Solche Fragen gehen mir durch den Kopf, wenn ich an Irene denke – die das eine Wort, das einen wirklich etwas angeht, ihren Namen Isabel, im Alter von sechzehn abgelegt hatte. In den Augen unserer Tochter war es der Grund für das spätere Zerwürfnis mit sich selbst, in meinen Augen nicht. Wer das eigene Leben beendet, hat mehr als einen Grund, ja, er hat sogar mehr Gründe als nötig, wie auch die meisten Mörder; ein düsteres Thema, und gar nicht so weit entfernt von den Dingen der Romantik, die Malte mit mir besprechen wollte. Allerdings hält er Irenes Tod immer noch für eine Art Missgeschick, seine damalige Sicht als halbes Kind, und nicht für das, was romantische Seelen, neben der Liebe, am meisten beschäftigt.
Malte saß inzwischen auf dem Sofa, das Irene noch ausgesucht hatte, Samt in einem Sepiaton, und sah nachdenklich vor sich hin, ein junger Mann, in den ich mich als Mädchen auf der Stelle verliebt hätte, einer von der Sorte still und doch in sich entschieden. Die Idee der Romantik heute, was fällt dir dazu ein, sagte er, seine wachen Augen auf meine Hausschuhe gerichtet. Nun, was fiel mir dazu ein – mir fiel dazu ein, dass Facebook ein romantisches Projekt ist: Wer möchte nicht aller Welt Freund werden, auch um den Preis der Nacktheit. Und die allgemeine Reisefreudigkeit fiel mir ein. Fort fort von hier! Das Auge sieht die Türe offen, es schwelgt das Herz in Seligkeit, heißt es bei Heine in einem seiner Briefe aus Berlin. Aber kennen wir dieses Schwelgen nicht auch, wenn wir im Netz surfen, die ganze Welt uns offenzustehen scheint, noch ein romantisches Projekt.
Wieso nur scheint, wandte mein nüchterner, und was den Weg durch das Abitur betraf, geradezu abgebrühter Enkel ein, und ich sagte, das sei mein Eindruck, oder stünde ihm etwa die Welt offen, nur weil er bei Google Earth seinen nächsten Urlaubsstrand betrachten kann? Dein Herz, rief ich, wann schwelgt es in Seligkeit, das würde ich gern wissen! Eine Emphase meinerseits, etwas, das ich noch von Irene behalten habe, das Herz auf der Zunge zu tragen, und von Malte nur eine Hand auf meinem Arm. Cool down, hieß das, er musste es gar nicht sagen, seit seinem Schuljahr in den Staaten war dieser Zug von Beschwichtigung in seiner Sprache: Deeskalation, das hatten sie dort im Dramakurs. Früher aber, vor Irenes Tod, als unsere Tochter Malte häufig an den Wochenenden brachte, weil sie mit ihrem Elektronikmann Stunden zu zweit verbringen wollte, und wir mit einem Enkel auf dem Teppich spielten, fand ich in Maltes Kinderaugen durchaus eine Spur seligen Schwelgens. Ich meinte, seine auch künftigen Neigungen darin zu sehen, etwa das Durchsetzen von Projekten, die sich später als nützlich erweisen, in sich so stabil wie unsere Türme aus Legosteinen, nur waren das wohl eher meine Träume, die ich im Glanz seiner Augen gesehen hatte. Und bei jedem Abschied, wenn er mich in der Tür kurz umarmte und den kleinen Schmerz über die Trennung spüren ließ, spürte ich immer auch den großen Schmerz, keinen Sohn zu haben.
Wir sprachen noch über Heine und Eichendorff und den Bezug zur Gegenwart, etwa in Eichendorffs Harz-Tagebuch, einer illustrierten Ausgabe mit kleinen Irene’schen Anmerkungen, die mich erst dazu gebracht hatten, die Romantiker zu lesen, mehr als es für meine Arbeit bei der Zeitung erforderlich war, und auf einmal sagte Malte, er müsse jetzt gehen, er sei verabredet, möchte aber vorher noch etwas klären. Und wie sich gleich herausstellte, war es der eigentliche Grund des Abendbesuchs, sonst hatten unsere Gespräche im Hinblick auf sein Abitur nämlich nachmittags stattgefunden. Es geht dabei um Geld, fing er in einem mir fremden Geschäftston an, das bisschen Geld, das immer noch in der Schweiz liegt, das sollten wir holen, bevor es zu spät ist. Nur wir beide. Naomi hat ja auch keine Zeit, ihr sagen wir am besten gar nichts, was denkst du? Malte stand vom Sofa auf, er trat an die Fensterfront und sah auf den Park mit dem Museum für Alte Kulturen, während ich die hinterlassene Kuhle im Sofa glattstrich, eine Bewegung, als würde mir sonst wer die Hand führen, so sanft wie unerbittlich.
Das bisschen Geld war schwarzes Geld und ein schmutziges dazu, ursprünglich zweihunderttausend D-Mark, Irenes Abspeisung aus dem Verkauf eines Feldes bei Weimar, ein Coup ihres Cousins, inzwischen verstorben. Sie hatte ihm auf sein Drängen einen kleineren Betrag für den Kauf des noch wertlosen Feldes geliehen, sogar Familienschmuck dafür verpfändet, ohne etwas von seinen alten Stasi-Kontakten zu ahnen, und war dann entsetzt, wie viel Geld daraus fast über Nacht wurde. Der Cousin – für Irene nur Der Grausige – hatte den gesamten Erlös in die Schweiz geschafft und sich regelmäßig etwas von seinem Löwenanteil geholt, bis alles verprasst war, während Irene nur ein einziges Mal mit mir nach Zürich fuhr, um die Dinge dort so zu regeln, dass wir beide im Notfall Zugriff auf ihr Schmutzdepot hätten, wie sie es nannte, nur galt für sie Knappheit an Geld nicht als Notfall. Wir scheuten vor dem Gebrauch zurück, und so blieb es auch nach ihrem Tod, eine Scheu, die so weit ging, dass ich um die Schweiz geradezu einen Bogen machte, obwohl ihre Berge mich anziehen, seit ich am unteren Bodensee mit Blick auf schweizerische Gipfel als Junge in einem Landschulheim war. Diese Gipfel waren das Unerreichbare, Freiheit und Glück, beides fand ich aber am Ende der Schulzeit sogar auf heimischem Boden, in den Armen einer Klassenkameradin – ein Ausdruck, der einerseits zutrifft, andererseits nicht im mindesten wiedergibt, was es bedeutet hat, in genau jenen Armen gelegen zu haben, denen von Almut Bürkle, die sich danach ins geteilte Berlin stürzen sollte.
Doch bei allem Umgehen der Schweiz blieb dieses De...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Widmung
  5. Zitate
  6. I
  7. II
  8. Impressum
  9. Über den Autor