Sterben lernen
eBook - ePub

Sterben lernen

  1. 192 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Sterben lernen

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ein Superheld wollte Henry werden, wilde Nächte erleben und morgens mit dem guten Gefühl aufwachen, die Welt gerettet zu haben. Dass sich ihm seine wahre Berufung offenbaren würde, schien ihm als Kind nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch wie geht es weiter, wenn sich der Glaube, das Wichtigste im Leben komme noch, als Illusion entpuppt? Irgendwann sind die Weichen gestellt: Er ist Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma, unglücklich in seiner Ehe und das Verhältnis zu seiner Tochter ist distanziert. Bei einer Hochzeitsfeier trifft Henry auf Joe, ein junges und skandalumwittertes Mädchen mit wirren Dreadlocks. So beiläufig diese Begegnung zunächst scheint, setzt sich ein Räderwerk in Gang, das ihre Wege unweigerlich miteinander verzahnt – bis zu jenem fatalen Tag, an dem ihre Leben ins Stocken geraten.In Sterben lernen begleitet Fee Katrin Kanzler ihre Protagonisten auf der Suche nach ihrer Bestimmung. Mit großer erzählerischer Intelligenz und kunstvoller Sprache verfolgt Kanzler die Gefahren, Widerstände und Abgründe, die sich vor Henry und Joe auftun, spürt jenen sachten Erschütterungen nach, die eine bürgerliche Existenz ins Wanken bringen.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Sterben lernen von Fee Katrin Kanzler im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Porzellanglocken und Knochen

Die dünne Mondsichel, merkwürdig klein und verloren, ein weißer Fussel in der Schwärze. Sterne, die wie Nadelstiche am Himmel sitzen. Unten in der Stadt laufen die Fernseher, die nahe Autobahn rauscht. Kinder schreien, Hunde bellen um die Wette, Pferde trampeln unruhig in ihren Boxen.
Ein Zischen, ein dumpfer Knall, blauer Schein funkelt aus sechzehn runden Löchern. Langes Nachwummern, der Lärm echot wie in unterirdischen Hallen, ein Böller im Abwasserschacht. Joe, die Blauhaarige und ein Muskelprotz starren auf den qualmenden Gullydeckel, während der Schmächtige bereits ein neues Streichholz anreißt. Das nächste Krachen, diesmal rotes Leuchten aus dem Untergrund, schallt noch zwei Querstraßen weiter aus den Kanalgittern.
Schließlich ziehen die Jugendlichen weiter. Joe kramt ein Paar Stoffschuhe aus ihrer Tasche, findet zwei Radieschen und isst die Knollen. Eigentlich hatte sie bei den Kiffern und dem Hochgewachsenen bleiben wollen. Die drei hatten dem schmächtigen Zündmeister den Vogel gezeigt, als er seine neuesten Böllerkreationen anzupreisen begann, als sei nichts geschehen. Aber die Blauhaarige hatte Joe beim Ärmel gepackt, mitgezerrt. Jetzt balanciert der Blauschopf auf dem Bordstein, kommt auf die Idee, einen Sprengsatz in das Rohr eines Verkehrszeichens zu stecken, deutet mit ausgestrecktem Arm auf das rote Blechding. Sie und der Durchtrainierte machen eine Räuberleiter, bearbeiten das obere Ende des Stoppschilds, schlagen mit einem Stein die Kunststoffkappe von der Stange. Der Zündmeister fummelt einen großen Chinaböller aus dem Rucksack, streichelt ihn und referiert über die Füllung.
»Selbstgepimpt«, sagt er.
Er verlängert die Anzündlitze und fordert, dass der Muskelmann sein Shirt auszieht. Der seidenpapierumhüllte Zylinder, die funkensprühende Lunte verschwinden in dem Rohr, hektisch werden Zeitungsfetzen und das Kleidungsstück hinterhergestopft. Das Grüppchen trappelt ein paar Schritte zurück. Drei Sekunden Stille folgen. Die Explosion, ein metallisches Dröhnen, tönt durch die Nachbarschaft, das Getöse geht in ein Sirren über, das Stoppschild hört nur langsam auf zu zittern. Das Mädchen mit den blauen Haaren läuft hin und kniet am Fuß der Stange nieder.
»Angeknackst und sackheiß«, berichtet sie.
Der Durchtrainierte tritt gegen die Stange, packt sie, drückt und dreht. Nach zwölf, dreizehn Rucken hält er das Schild in der Hand. Die Blauhaarige kräht vor Lachen.
»Hey, da ist mein Oberteil drin«, sagt der Starke und klatscht sich auf die nackte Brust.
Irgendwo rattert ein Rollladen hoch.
»Weg jetzt hier!«, brüllt der Zündmeister.
Die vier Jugendlichen beginnen zu laufen, die Cyanitblaue prustet, der Muskelprotz hält das Stoppschild umklammert. Es schwankt über der Gruppe wie ein Segel im Wind.
Joe setzt nur halbherzig einen Fuß vor den anderen, die Stoffschuhe schlabbern um ihre Knöchel. Bald verliert sie den Anschluss, steht schließlich still. Das rote Verkehrszeichen wippt davon. Die Fortjagenden sehen sich nicht um. Es ist wie auf der Stierweide, Joe bleibt zurück, löst sich aus dem Rudel wie ein lebensmüdes Tier.
Sie ist jetzt nur wenige Straßen von zu Hause, überlegt, ob sie heimgehen soll, schlafen. Der Gedanke an Daniel lässt sie letzten Endes kehrtmachen, zum Weihnachtsmarkt zurücktrotten. Dort sind die Buden längst geschlossen, die Holzklappen heruntergelassen und verriegelt. Nur bei den Bierbänken herrscht noch reges Treiben, Flaschen werden herumgereicht, ein Ghettoblaster pumpt Bässe in die Runde. Joe entdeckt ein paar bekannte Gesichter, darunter Marta und ihre Schwester, den Kneipenbesitzer jedoch nicht. Sie vermutet, dass er wieder im Roten Pflug hinter der Theke steht, und macht sich auf den Weg.
Sie schlängelt sich zwischen den Marktständen durch, die Reste des Punschdunstes, des Zimtstaubes hängen in der Nachtluft wie flanellene Laken. Die Seitentür einer Bude steht halb offen, drinnen brennt noch Licht. Im Vorbeigehen sieht Joe zwei Schemen in der Hütte. Etwas an der Haltung der beiden Menschen lässt ihre Schritte stocken. Sie geht leise zurück.
»Du wirst nichts erzählen. Du willst doch nicht, dass deine Mutter mitkriegt, was du so treibst.«
Die beiden Gestalten werden scharf umrissen vom Licht einer Glühbirne, die roh verdrahtet von der Budendecke baumelt. Daniel lehnt an der Holzwand, trägt immer noch das neckende Grinsen vom Nachmittag. Julias Gesichtsausdruck dagegen ist starr, hölzern. Sie hockt auf einem Schemel in der Ecke, auf ihren Wangen klebt eine Grimasse, die nur noch entfernt einem Lächeln gleicht.
»Wer hätte gedacht, dass das Mauerblümchen in Wirklichkeit eine Tigerlily ist.«
An den Wänden der Hütte hängen Papiersterne, Porzellanglöckchen. Julia zieht schützend ein Bein an den Körper. Daniel nimmt die Bewegung als Aufforderung und malt mit dem Finger kleine Kreuze auf das Knie der Vierzehnjährigen. Sie blickt zu ihm hoch. Der Mann nimmt ihre Hand, legt sie auf seinen Hosenschlitz.
»Das wolltest du doch wissen«, murmelt er.
Henry fühlt sich, seit er verunglückt ist, zum ersten Mal wirklich tot, schachmatt, vernichtet. Stupor, Panikstarre, die Ohnmacht des Verurteilten auf dem Schafott. Nichts, was jetzt noch rettet. Nicht Joe, die feige Gans wird weglaufen, wegsehen, denkt er, den Kopf einziehen wie immer. Von den Betrunkenen wird keiner herüberkommen. Seine Tochter wird nicht zappeln, nicht schreien, zu stolz, ihre Hilflosigkeit einzugestehen, ein eitler Tropf, wie Henry selbst, und die Erde stürzt nicht schnell genug in die Sonne, um das Schlimmste zu verhindern.
»Die Jungs aus der Schule sind dir zu grün. Recht hast du, Julchen.«
Daniels Stimme brennt sich in Henrys Schockfrost, bis er knackt, bis er birst. Einstein reißt an den Krampen und Bolzen der Hütte, die Kunststoffeiszapfen an der Traufe klirren, sonst bewegt sich nichts. Die Zunge des Mannes berührt seine Tochter. Henry schreit gellend und ungehört, in einiger Entfernung stoßen Bierflaschen aneinander, pulsiert ein dumpfer Rap. Plötzlich blitzt ein Schlüssel in Daniels Hand. Seine Schritte zur Tür, ein Ruck, der durch Joes Glieder geht. Jetzt rennt sie weg, denkt Henry, wuchtet, rüttelt, sträubt sich mit aller Macht.
Aber er irrt sich. Der Zottelkopf stellt seinen Fuß in die Tür. Der Kneipenbesitzer starrt auf den schäbigen Stoffschuh, dann in Joes Gesicht, als sie sich in den harten Schein der Glühbirne schiebt. Julia steht von ihrem Schemel auf, langsam, zögerlich, als erwache sie aus einem Traum. Sie wischt sich Daniels Speichel von den Lippen.
»Los, hau ab!«, kommandiert Joe und hält die Tür auf.
Die Tochter stolpert vorwärts. Aber Daniel schubst sie zurück in ihre Ecke. Sie solle sich von Joe nicht beirren lassen, die meine es nicht so. Die Dreadlockige betritt die Hütte, schüttelt ihre Zotteln.
»Lass sie gehen«, presst sie zwischen den Zähnen hervor.
Als der Mann nicht antwortet, sich nur vorbeidrängt, die Tür zuzieht und abschließt, stößt Joe ihn vor die Brust. Daniel wankt gegen einen Turm aus Pappkisten, die oberste fällt herunter, entleert ihren Inhalt, Christbaumkugeln, musizierende Holzengelchen an roten Bändern.
»Tigerlily, ich bin gleich wieder bei dir …«
Obwohl er mit Julia spricht, starrt er unentwegt in Joes Augen. Sein Mienenspiel ist unentzifferbar geworden, sein Gesicht im Gegenlicht nur noch ein schwarzer Schlund, aus dem lauwarmer Atem dringt. Er drückt die Grabpflegerin gegen die Tür, presst seine Pranke zwischen ihre Beine. Unter seinen Schuhen knirscht feines Glas.
»Halt still. Ich weiß doch, dass du süchtig danach bist. Bitch.«
»Gib den verdammten Schlüssel her«, faucht Joe, während sie sich gegen den Mann stemmt. Als sie gegen Daniels Schienbein tritt, flucht er, reißt mehrere Lamettakaskaden von der Wand. In der nächsten Sekunde schnellt seine Linke an Joes Hals, während seine Rechte ihr eine Ohrfeige ins Gesicht knallt. In die Augen des Mädchens steigen Tränen, aber ihr Blick bleibt fest. Aus der Ecke der Bude wird Wimmern laut. Julia weint. Ihre Finger schließen sich um den erstbesten Gegenstand, einen tönernen Teelichthalter.
»Marta war okay, auch Biggy und Janine waren okay. Julia ist es nicht.«
Erneut knirscht Glas. Daniel rückt ein paar Zentimeter von Joe ab, ohne seinen Griff zu lockern. In der Dunkelheit seiner Miene wird ein Stirnrunzeln sichtbar.
»Du dachtest, ich wüsste das alles nicht? Ich weiß noch mehr. Dass du mir dieses Zeug ins Getränk gemixt hast, zum Beispiel. Dachte, hey, wenn er dich so sehr will, soll er dich haben. War mir egal. War besser als nichts. Dachte ich zumindest. Dass du den Kiffern nicht nur Gras verkaufst, weiß ich auch. Dass du Steuern hinterziehst. War mir auch egal, egal, egal. Aber du bist krank. Du spinnst. Du spinnst doch!«
Daniels Finger schließen sich enger um Joes Hals. Das Mädchen japst überrascht. Der Mann kneift die Augen zusammen, stößt Luft durch die Nase aus. Die kleinen Gärtnerhände verkrallen sich in seiner groben, nach Tabak riechenden Haut. Joes Herzschlag, lauter als die Ghettoblasterbässe, ein Branden und Pochen, beginnt in Henry widerzuhallen. Es ist dasselbe Rauschen und Singen, das er auf der Stierweide hörte, als noch Blut, als noch lebendiger, echter Schmerz durch seine Glieder schoss. Wie ein Phantom taucht der Zuchtbulle vor ihm auf, krauses Mondhaar, weiße Muskelberge, die tief zum Boden gesenkte Horngabel. Joes Gegenwehr wird schwächer und schwächer. Sternchen wirbeln am Rand ihres Sichtfelds, bis ihr schwarz vor Augen wird.
Julia hat indessen begonnen, mit dem Teelichthalter gegen die Holzwand zu hämmern, um Hilfe zu rufen. Schließlich lässt Daniel Joe fallen. Sie sackt leblos zu Boden. Julia wirft eine Gipsputte nach Daniel, aber der Mann schlägt das Wurfgeschoss mühelos im Flug aus der Bahn. Mit zwei raschen Schritten durchquert er die Hütte. Er fasst das Kind am Haarschopf, zerrt an ihrem Rock, an seinem Hosenbund. Henry hört das Ratschen des Reißverschlusses.
Hellhörig aufgestellte Ohren, dampfiger Atem. Der Stier steht nur wenige Meter entfernt, Brust, Nacken, Hinterbeine, alle Muskeln zum Bersten gespannt. Unter seinen weißen Wimpern ruht der reglose Blick einer Tonne geballter Kraft. Die kleine Marktbude ist nur noch eine Nussschale, leicht zu knacken. Henry prescht vorwärts, Holz splittert unter dem Aufprall seines Stirnbeins. Sein gehörnter Schädel peitscht nach links und rechts, schleudert Hüttenteile davon, zerfetzt den Rest der lädierten Konstruktion.
Es ist nichts Heroisches, nichts Moralisches, es ist Instinkt, Getriebenheit, Raserei. Bretter krachen zu Boden, Girlanden und Lichterketten reißen entzwei, Christbaumkugeln platzen wie Puffmais im Feuer. Daniel entfährt ein fassungsloser Schrei. Julia klettert über die Holztrümmer und läuft davon. Joe kommt zu sich, kriecht schutzsuchend unter den Lattenhaufen, der einmal das Dach der Bude war. Pappkartons und Gliedmaßen werden zu formloser Masse zermalmt, Porzellanglocken und Knochen brechen. Einsteins Hörner färben sich rot.
Irgendwann hat das Toben ein Ende und Henry sucht einen Weg aus dem Chaos, setzt seine Hufe bedächtig zwischen die Überreste der Hütte. Jemand hat den Ghettoblaster ausgemacht. Ein paar Jugendliche fliehen panisch. Andere verschanzen sich hinter Bierbänken oder Mauervorsprüngen, starren herüber. Henry hält inne. Sein Maul trieft. Ein paar Wunden sind ins mondfarbene Fell gerissen. Er blickt zurück, Daniel ist zweifellos tot, seine zerschlagenen Formen sehen kaum noch menschlich aus.
Als Joe unter den Dachlatten hervorkrabbelt, geht ein Raunen durch die Reihen der Schaulustigen. Der Blick des Mädchens streift Daniels zerstörten Körper, voll Entsetzen, wandert dann zu Henry. Was er im Graugrün ihrer Augen liest, ist Bestürzung, Sorge, allerdings keine Angst. Sie betrachtet ihn wie einen vor Jahren verlorenen, nun wiedergefundenen Freund, der sich auf groteske Weise verändert hat. Das Erkennen in ihrem Blick lässt Einstein schaudern, rätseln, ob sie weiß, dass er, Henry, in dem weißen Koloss steckt. Sie tappt auf ihn zu, streckt eine Hand nach vorn, als wolle sie ihn streicheln.
Kurz bevor ihre Finger Henrys krause Stirn berühren, weicht er zurück. Als würde Joes Liebkosung sein Stiersein besiegeln, flieht er davor. Ein Zittern läuft über seine Flanken, ein Gefühl, als würden Raum und Zeit Risse bekommen. Er weiß nicht, wo der Zuchtbulle herkam, warum er das Tier ist, warum das riesige Rinderherz mit Joes Puls im Einklang schlägt, auf halber Frequenz, ein Schlag der Stier, zwei Schläge das Mädchen. Er bugsiert den Bullenleib mehrere Meter rückwärts, stößt eine Nordmanntanne, einen Stapel mosambikanischer Körbe und Hüte um.
Joe folgt ihm nicht. Stattdessen geht sie auf die Schaulustigen zu, pflückt einem Jugendlichen, der die Szene filmte, das Mobiltelefon aus der Hand. Sie wählt erst die Notrufnummer, dann verständigt sie Bettina. Ohne Dank gibt sie das Telefon seinem Besitzer zurück.
Bevor sie weggeht, Daniel liegen und den mondfarbenen Koloss stehen lässt, wirft Joe Einstein noch einen Blick zu. Für fünf Sekunden schnurrt die Welt auf diesen Blick, auf diese dünne Linie zusammen, auf einen Silberfaden zwischen einem tätowierten Dreadhead und einem verwundeten Stier. Wären die beiden in einem Film, Action, John Woo, flöge eine Schar Vögel zwischen ihnen auf, in Zeitlupe. Aber es ist mitten in der Nacht, die Kirchtauben sind in ihren Löchern, auch die Sperlinge schlafen. Zum ersten Mal denkt Henry, dass es kein Zufall war, dass er ausgerechnet Joe das Leben rettete.

Merkur und Venus

Schnaufen und Schnauben, ein baumelnder Nasenring, paarhufiger Trab, vorbei an gelb blinkenden Ampeln. Weiter, die ehemalige Frotteefabrik, der rote Sandstein der Friedhofsmauern, von denen buschweise Hagebutten hängen. Dass dahinter sein Grab liegen soll, erscheint Henry im kraftstrotzenden Körper des Stiers noch viel absurder.
Wie von selbst tragen ihn die Hufe vor die Stadt hinaus. Die Balken des Weidezauns sind an einer Stelle niedergetrampelt. Seine milchfarbigen Mondkühe empfangen ihn mit freudigem Brüllen, drängen sich um ihn, beschnuppern sein schweißnasses Fell. Er atmet ihre Pheromone, den Duft des nahen Fichtenwaldes, auch Brandgeruch hängt noch in der Luft.
Den Stierleib zu verlassen ist einfacher als vermutet, Henry steigt über der Herde auf wie in einem Heißluftballon. Die Rücken der Tiere, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Motto
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Gänsefett
  7. Windstärke zehn
  8. Orangenmarmelade
  9. Rosa Dauerwellen
  10. Kriechmispeln
  11. Bruchstücke
  12. Zitronenmelisse
  13. In Kunstharz gegossen
  14. Kalkstaubfinger
  15. Blumenmikado
  16. Coco de mer
  17. Pfeffergrauer Pelz
  18. Stierbrüllen
  19. Trauben und Shrimps
  20. Phantomgänsehaut
  21. Turbinengeheul
  22. Hellgelbe Quadrate
  23. Polychrom
  24. Marinierte Meeräschen
  25. Möwenfraß
  26. Ginsterbohnen
  27. Mittagsblumengewächs
  28. Eselhaar
  29. Kugelschreibermusik
  30. Solanum lycopersicum
  31. Strandfeuer
  32. Rosencreme
  33. Sequoia sempervirens
  34. Pappelsamen
  35. Wüstensonnenklar
  36. Suntory Yamazaki
  37. Dreihundert Grad
  38. Fußballrasengrün
  39. Filetiermesser
  40. Chilisalami
  41. Filzstiftsoße
  42. Violetter Südwesten
  43. Zahnputzgeräusche
  44. Regensensor
  45. Passer domesticus
  46. Mondfarbene Felle
  47. Pyrotechnik
  48. Harztropfen
  49. Porzellanglocken und Knochen
  50. Merkur und Venus
  51. Acetonseele
  52. Hyperriesenstern
  53. Haselstrauch
  54. Weißwasser
  55. Rollende Bässe
  56. Eukalyptusbonbons
  57. Messerklingengeruch
  58. Impressum
  59. Über die Autorin