Sturm
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Sturm

  1. 440 Seiten
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Über dieses Buch

Ein Buch über die Macht und ein Buch über die Gewalt der Sprache. Ein Roman über deutsche Mentalitätsgeschichte und einen vornehmlich deutschen genialen Künstlertypus. Und ein Buch über das Vordringen des Virtuellen.Suttung, studierter Mathematiker und Computerwissenschaftler, ist Sohn eines berühmten deutschen Kunsthändlers und Enkel eines noch berühmteren deutschen spätimpressionistischen Malers. Mit zwanzig verließ er seine Heimat, um in die USA zu gehen, wo er Karriere als Softwarespezialist in einem bedeutenden Computerunternehmen macht. Suttung "dachte niemals daran, nach Deutschland zurückzukehren".Während eines Kurzurlaubs an der Küste Neuenglands trifft Suttung auf eine geheimnisvolle Frau, Sieglinde, eine deutsche Architektin, die ihn einer zweiten, attraktiven Frau, Mechthild, ebenfalls eine Deutsche, vorstellt. Sie machen ihm ein Angebot: Suttung soll im Auftrag des Immobilienunternehmers Arbogast für den größten Architekten Deutschlands, Hant, eine neuartige Software entwickeln, die die menschliche Konstruktions- und Planungsleistung reproduziert und somit künftig überflüssig macht, um auf dieser theoretischen Grundlage dann Systeme und Roboter zu konstruieren, die einmal in der Lage sein werden, jegliche menschliche Arbeit zu ersetzen.Suttung nimmt das Angebot an und begibt sich auf die Reise nach Deutschland: Er gerät plötzlich in eine andersartige, eine dunkle Welt. Mechthild und Sieglinde machen ihn mit Arbogast bekannt, und endlich trifft er auf Hant, den berühmten Architekten, der ihm in ebenso faszinierenden wie unheimlichen, ausufernden Monologen seine Idee von der Welt und seiner Stellung in ihr mitteilt. Suttung ist begeistert von Hant, dem Monomanen und Perfektionisten, den ein schier unwiderstehliches Charisma umgibt. Warum jedoch verfolgt dieser ruhelose Künstler seine Ziele mit derart grausamer Konsequenz? Und wohin führt sein Genie, seine selbstgerechte und unbeugsame Art, anderen seine Ideen aufzuzwingen, seine maßlos falsche Vorstellung von Größe? Aus Suttungs anfänglicher grenzenloser Bewunderung wächst Zweifel, dann Widerwillen. Er begreift die Ideologie Hants als etwas Monströses und Bedrohliches, das zum Untergang der ihm bekannten Kultur führen würde, wenn er sich nicht selbst zum Handeln entschließt.Sturm führt den Leser ein in die Welt der Architektur und des Geschäfts mit ihr, zeigt den Künstler als Machthaber. Imponierend die Gestalt des größten Architekten aller Zeiten, Hant, der als Destillat eines bestimmten erfolgreichen, vornehmlich deutschen Künstlertypus erscheint. Hants ehrgeiziges und schließlich verzweifeltes und blindes Wüten auf der Erde, das Abreißen und Zerstören des Vorhandenen ist grausam und faszinierend zugleich. Hant repräsentiert das Funktionieren von Macht und den Mißbrauch der - deutschen - Sprache sowie einen bestimmten dunkel-deutschen Trieb. Sturm ist ein Roman über Deutschland und über dessen Vergangenheit: eine deutsche Mentalitätsgeschichte.

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Information

Das unbewegte blaue Meer war nur ein schmaler Streifen zwischen dem weißen Sand und dem Himmel, über den Wolkenschleier zogen. Himmel und Erde konnten sich nicht ähnlich sein. Zu verschieden waren ihre Gewebe. Doch es gab etwas, das sie zusammenführte: das Licht. Es kam nicht von der Sonne hinter den Wolkenschleiern, sondern von überall her. Das Licht ließ die Erde in den Himmel und den Himmel in die Erde übergehen.
Umstrahlt von dem Licht, in dem Himmel und Erde eins wurden, blickte ein Riese auf eine Gruppe von Sommergästen herab, die den sonst völlig menschenleeren Strand belebte. Ein Mann in einem weißen Hemd spannte zwei leichte weiß und ockerfarben gestreifte Sonnenschirme auf, über einer Frau, die einen beigen Regenmantel übergeworfen hatte, und einer zweiten in einem weißen Kostüm, die beiden schienen eine angeregte Unterhaltung zu führen. Neben ihnen streckte sich ein mit einem khakifarbenen Mantel bekleideter Mann in dem glatten Sand aus. Davor hob eine Frau in einem knöchellangen blauen Kleid ein Kind auf ein Schaukelpferd aus dunklem Holz, während eine andere auf den Knien bunte Papierfähnchen um das Pferd herum in den Sand steckte. Unter einem wuchtigen hell- und dunkelgrünen Schirm rückte eine Frau in einer weißen Bluse zwei Liegestühle zurecht. Eingerahmt von den beiden kleineren und dem größeren Schirm, ging eine junge Frau zum Wasser. Sie streckte den linken Arm vor und machte mit dem rechten kurze, aber heftige Bewegungen. Whaddya do that for?
Der Riese lief am Strand von Neuengland genau dort, wo die Grasnarbe begann. Seine Schritte waren ausgreifend, aber nie hastig. Er hatte hellblondes, mittellanges Haar und blaue Augen. Das Zentrum seines Gesichtes befand sich zwischen den Augen, wie bei einem Kleinkind war die Nasenwurzel niedriger als die Stirn. Von diesem Zentrum gingen sternförmig zwei angedeutete Stirnfalten aus, die Augenbrauen, die Wülste über den Augenbrauen, die Augenlider, sie fielen jeweils leicht nach links und rechts ab, die Falten neben der Nase und die senkrechten Linien der Oberlippe.
Bis auf die junge Frau am Wasser trugen alle Strohhüte. Es wehte ein böiger Wind vom Meer landeinwärts, dennoch konnte der Riese nicht hören, daß jemand sprach. Alle drehten sich von ihm weg, nur die junge Frau wandte sich ihm zu. Der Riese lief langsamer, um die junge Frau zu beobachten. Er konnte deutlich gezeichnete Augenbrauen erkennen, die ein ovales Gesicht beherrschten. Ihr halblanges braunes Haar war zurückgekämmt, ihre Ohren schienen ungewöhnlich groß zu sein. Gefiel sie ihm, obwohl oder weil sie so ernsthaft aussah? Je näher er kam, desto höher hob sie die Arme. Weder deutete sie auf etwas vor sich, noch wies sie etwa zu ihm hin. Es sah vielmehr so aus, als zeichne sie auf einem durchsichtigen Blatt, als male sie auf einer unsichtbaren Leinwand.
Der Riese spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, zwischen den Schirmen hindurch zum Meer zu gehen. Doch wollte er die Menschen nicht stören. Wieder schneller ausschreitend, kam er an einer großen eingezäunten Wiese vorbei, auf der sich zwei Apfelbäume gegen den stärker werdenden Wind stemmten. Der niedrigere Baum spaltete sich unmittelbar über dem Boden in drei Stämme, die von einer einzigen großen Baumkrone beschirmt wurden. Der höhere gabelte sich in Augenhöhe V-förmig, ein Stamm hatte keine Äste. Die Wiese war frisch gemäht. Auf der vom Meer abgelegenen Seite verdeckten halbhohe Büsche den Zaun.
Er gelangte schließlich zu einer Landzunge, auf der sich ihm ein weißes Haus mit einem roten Dach in den Weg stellte. Jemand hatte einen roten Holzkahn über die Wiese vor die Eingangstür geschleift. Hinter dem Haus nahmen ihm die Segel eines an Land vertäuten Bootes die Sicht auf die Küste. An der Landzunge hatte das Meer den Sandstrand weggespült. Er mußte entweder unmittelbar am Wasser entlanggehen oder die Landzunge queren. Der rote Holzkahn wippte auf dem Kiel hin und her. Die Segel des Bootes hinter der Landzunge blähten sich lautlos im Wind.
Der Riese beschloß umzukehren. Auf dem Rückmarsch kam er an einer Siedlung vorbei, die er zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Mehrere aneinandergeschmiegte Häuser waren an einen Feldweg gebaut, der am Strand endete. Nur die Schmalseite des letzten Hauses mit zwei kleinen Fenstern zeigte zum Meer. Der Wind ließ die Büsche vor den Häusern und den Scheunen auf der anderen Seite des Feldweges sich landeinwärts neigen. Drei Wolken hingen wie Degen über den Häusern.
Als der Riese sich wieder der Gruppe am Meer näherte, achtete er darauf, seine Schritte nicht zu beschleunigen und nicht zu verlangsamen. In den klobigen Liegestühlen umwickelten ein jüngerer Mann und eine ältere Frau einander mit Wolldecken. Obwohl der Schirm seinen Schatten auf die Liegestühle warf, hatte das Paar die Sonnenschutzdächer aufgespannt. Die Liegestühle selbst waren hell- und dunkelbraun, die Sonnenschutzdächer weiß und blau gestreift.
Die junge Frau, die die Aufmerksamkeit des Riesen aus Deutschland erregt hatte, stand mit hochgekrempelten Hosen fast bis zu den Knien im Wasser. Sie trug Blue jeans und darüber ein weites weißes T-shirt, das im Wind flatterte und von einzelnen Windstößen immer wieder hochgehoben wurde. Während der Riese die Frau im Meer betrachtete und während die Frau im Meer den Riesen betrachtete, verspürte er den Antrieb, selbst den rechten Arm hochzuheben, damit sie seinen Verband sehen konnte. Als Entschuldigung dafür, daß er hier am Strand war, und als Versicherung, von ihm würde keine wie auch immer geartete Anmaßung ausgehen.
Ohne weiteren Menschen zu begegnen, erreichte er den Hafen des Ortes. Die Hafengebäude, ein dreistöckiges weißes Steinhaus mit einem steilen Satteldach und ein vierstöckiges, ebenfalls gemauertes rotes Haus mit einem Flachdach, hatten nur sehr kleine und sehr schmale Fenster. Eine Lehmpiste bildete die Zufahrt zur Pier. Im Vergleich zu den Baracken unmittelbar am Meer und zu den anderen Häusern des Ortes wirkten die beiden Hafengebäude sehr groß. Auf dem weißen ragte ein einziger viereckiger Schornstein unmittelbar neben dem Dachfirst hoch und schmal in den Himmel. Die beiden Schornsteine des roten Hauses, auf der der Pier zugewandten und jetzt von der Sonne beschienenen Seite, waren dagegen so niedrig, daß man sie von unten kaum ausmachen konnte. Aus dem Fenster seines Büros in Manhattan blickte Suttung auf eine ganze Serie von Kaminen: Unmittelbar vor dem Fenster war auf dem abschüssigen Dach des angrenzenden älteren und flacheren Gebäudes zuerst ein pyramidenförmiges Oberlicht angebracht, dahinter ein runder Luftauslaß aus Eisen, gefolgt von einem weiteren Oberlicht, dann kamen zwei aus Ziegelsteinen gemauerte Kamine, der eine dreieckig, der andere rechteckig, zwei verschieden hohe eckige eiserne Luftauslässe nebeneinander sowie zuletzt ein ungeheuer breiter Schornstein mit Aufsätzen wie Orgelpfeifen.
Ein Stützverband umschloß seine rechte Hand bis zu den Fingerspitzen und den Unterarm bis zum Ellenbogen. Er beugte und streckte den rechten Arm, den er kaum mehr spürte. Suttung war bei einem Computerunternehmen angestellt, zu dessen Erzeugnissen sowohl Hard- wie Software gehörten. Er hatte sich beim Basketball einen Haarriß im rechten Handgelenk zugezogen. Die Verletzung behinderte ihn weniger, als er zunächst befürchtet hatte. Es kostete ihn zwar beträchtliche Mühe, die Hand so nach unten zu drehen, daß sie sich flach über der Tastatur befand, aber er brachte es fertig.
Er ließ sich auf dem Rand der mit Baumstämmen befestigten Pier nieder, legte den rechten Arm auf das rechte Knie und massierte mit der gesunden die Fingerspitzen der verbundenen Hand und die Muskeln des Oberarmes. Suttungs Vater hatte immer erzählt, sein Sohn lerne lächerlich leicht und schieße in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik der Klasse voraus. Wenn es um seine, Suttungs, Begabung und Neigung ging, wurde sein Vater spöttisch. Das mathematische Denken fiel Suttung tatsächlich so leicht wie seinem Vater die Einfühlung in die Welten der Maler, mit deren Bildern er handelte. Er hatte auch erzählt, sein Sohn lese unendlich viel. Suttung las keineswegs viel, jedoch sehr gründlich naturwissenschaftliche und mathematische Fachbücher. In ihm bildete sich die Einsicht heraus, die Erziehung auf den deutschen Schulen sei zu sehr auf die Anhäufung von reinem Wissen und zu wenig auf die Entwicklung von Können gerichtet. Er aber wollte den Sinn der Mathematik und der Naturwissenschaften begreifen. So beschloß er, Mathematiker zu werden und zum Studium in die Vereinigten Staaten zu gehen. Er erwarb am MIT den Bachelor und in Princeton den Master und den PhD. In seiner Freizeit spielte er in einer Basketballmannschaft der Columbia University. Er war jetzt vierzig. Er dachte niemals daran, nach Deutschland zurückzukehren.
Allen, nur sich selbst nicht, galt er als ein großer Schweiger. Doch er fühlte sich nie einsam. Immer war jemand um ihn. Wie die Frau in dem hell erleuchteten Fenster gegenüber seinem Apartment in der Nähe des Washington Square. Er blickte auf ein Eckhaus, das zusammen mit dem Haus, in dem er wohnte, um die Jahrhundertwende errichtet worden war. Die Mehrzahl der Wohnungen blieb stets dunkel. Lediglich in einem Eckzimmer brannte abends regelmäßig Licht. Wenn das Rouleau des mittleren Fensters in der runden Stirnseite des Gebäudes hochgezogen wurde und sich die Vorhänge öffneten, spiegelte sich das Licht aus dem Raum auf dem Sims davor wider. Die Rouleaus der beiden äußeren Fenster, die jeweils auf die sich kreuzenden Straßen hinausgingen, waren ständig halb heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen. Neben dem rechten Fenster mußte es ein Möbel, einen Schrank oder eine Anrichte, geben, welches das austretende Licht schluckte, aus dem linken Fenster wehte manchmal der Vorhang heraus. Suttung konnte im Ausschnitt des mittleren Fensters einen grünen Teppich, eine kahle gelbe Wand, die Ecke eines Sofas oder eines Bettes sowie einen niedrigen braunen Heizkörper erkennen, ähnlich dem in seinem Apartment, und eine Frau, die immer den gleichen rosafarbenen Unterrock trug. Nie konnte er ihr Gesicht sehen. Er wußte nicht einmal, ob sie jung oder alt war. Suttung nahm nur dann Anteil an anderen Menschen, wenn sie auf irgendeine Weise für ihn herausgestellt wurden. Wenn ein Umstand einen Menschen heraushob, wie die Frau in dem Ausschnitt, der von dem hell erleuchteten Fenster gegenüber gebildet wurde. Wenn man ihm die Mühe, sich für den Menschen zu entscheiden, abnahm.
Er hatte kein Buch, keine Zeitschrift und nicht einmal sein Notebook nach Neuengland mitgenommen. Je länger er sich in dem kleinen Ort am Meer aufhielt, desto deutlicher wurde ihm, daß seine Verletzung nur einen Vorwand für seine Reise bildete. Er hatte sich gegen die Einsicht gewehrt, doch konnte er sich nicht länger gegen sie sperren: Nach dem letzten Besuch des Chief Financial Officers wollte er nicht mehr in seinem kleinen Büro unmittelbar über den Oberlichtern und den Kaminen sein.
Suttungs Aufgabe bestand darin, eine neuartige Steuerung für Roboter zu entwickeln. Der CFO stammte ebenfalls aus Deutschland, Mathematiker wie Suttung, jedoch zehn Jahre älter, hatte er früher den Stab geleitet, dem Suttung angehörte. Sein unglaublicher Aufstieg hatte damit begonnen, daß man ihn mit dem Aufbau einer neuen Kostenrechnung betraute. Der CFO war, im Gegensatz zu Suttung, ein Tatmensch. Wie konnte er jemals etwas anderes gewesen sein. Die Herkunft aus dem Stab verlieh ihm eine Aura des Romantischen, um so mehr, als er sich damit brüstete, gerade diese Tätigkeit habe die beste Vorbereitung auf seine späteren Aufgaben dargestellt. Breit und massig, war er auf gewinnende Weise unverschämt, ein aparter Gegensatz zu dem düsteren und unzugänglichen Chief Executive Officer. Er besuchte Suttung regelmäßig in seinem Büro, und er ging mit ihm ins Theater und in die Oper.
Zuerst hatte der CFO sich die Verantwortung für das Personalwesen gesichert. Er durchkämmte alle Gliederungen des Unternehmens und strich rücksichtslos jede Stelle, die nicht in die Ertragsrechnung paßte. Wobei er den Stab, in dem Suttung arbeitete und dem er selbst vorgestanden hatte, nicht nur verschonte, sondern sogar mit regelmäßigen Steigerungen des Budgets bedachte. Er brauchte keine Consultants zu bezahlen, er hatte sich eine Gruppe von jungen Leuten herangezogen, die die Berechnungen durchführte, welche seinen Maßnahmen zugrunde lagen. Er wütete. Er war heimtückisch und eitel. Seine Götter hießen Neutron-Jack und Chainsaw-Al. Das Wall Street Journal und die Financial Times feierten ihn als Sanierer. Seine Gegenspieler aus Controlling und Treasury trauten ihm die bedenkenlose Unbarmherzigkeit, deren Opfer sie wurden, bis zuletzt nicht zu. Man ernannte ihn schließlich zum CFO. Er war die Eiserne Hand. Der Zweite Mann, jedoch tatsächlich derjenige, der das Unternehmen auf den Weg des Profits zurückbrachte. Es hatte nichts, überhaupt nichts mit den Erzeugnissen oder mit dem Marketing des Unternehmens zu tun. Er prahlte damit, daß er die Rechner des Unternehmens nicht von den Erzeugnissen der Wettbewerber unterscheiden konnte. Er scheute nicht davor zurück zu erzählen, für Euro-Trash habe er es doch weit gebracht. Mit dem gleichen Kraftaufwand, mit dem er sie erreicht hatte, genoß er auch seine Stellung. Er besaß eine Wohnung mit unglaublich vielen Zimmern und Blick auf den Central Park, in der er ständig Feste veranstaltete. Er wohnte zwischen Möbeln von Frank Lloyd Wright und Lampen von Tiffany. Er, der Deutsche, baute eine der bedeutendsten American-Arts-and-Crafts-Sammlungen auf.
Nur Suttung wußte, daß der Tatmensch auch dazu fähig war zu leiden. Niemandem außer Suttung erzählte er, daß er nach Besprechungen mit dem CEO bis weit nach Mitternacht nichts essen konnte oder daß er nach Sitzungen des Boards Stunden unbeweglich auf seinem Stuhl verharrte. Einmal wurde der Anruf eines wichtigen Boardmitgliedes in Suttungs Büro durchgestellt. Der CFO nahm, während er mit dem Boardmitglied sprach, regelrecht Haltung an. Der Eindruck, den seine Unterwürfigkeit bei Suttung hervorrief, entging ihm nicht. Zur Ablenkung machte er sich über die Einrichtung von Suttungs Büro lustig. Sein Schreibtisch sei so klein, daß ausnahmslos alle seine Körperteile über das Möbel hinausragten. Suttung hatte erwidert, er würde den Holzschreibtisch niemals auswechseln, ebensowenig den mannshohen Karteischrank aus Blech, der alle seine Aufzeichnungen enthielt, oder die niedrige grüne Kontorlampe, die gerade eine Zeitschriften- oder Buchseite ausleuchtete, und auch nicht die alte Schreibmaschine, die er nie benutzte.
Niemand außer Suttung wußte im Unternehmen von der Medikamentenabhängigkeit des CFO. Während ihrer gemeinsamen Zeit im Stab hatte der CFO sich bei einem Skiunfall einen Wirbel gebrochen. Die Verletzung bereitete ihm auch nach der Heilung ständige Schmerzen. Solange er wütete, benötigte er keine hohe Dosis an Schmerzmitteln. Als er sich in der Unternehmensspitze eingerichtet hatte, stieg sein Verbrauch steil an. Der Rang selbst schien ihm immer weniger zu bedeuten, die Insignien jedoch um so mehr. Der CFO suchte Suttung auf, um ihm vorzuführen, daß er immer noch derselbe war wie früher, und um sich zugleich zu vergewissern, daß er tatsächlich das war, was er geworden war. Der CFO nahm keinen Einfluß auf Suttungs Laufbahn. Er hätte Suttung fast jede Stellung in dem großen Computerunternehmen verschaffen können, aber er hatte Suttung auf eine mögliche Veränderung nie auch nur angesprochen. Bis zu seinem letzten Besuch.
Der CFO kam gerade vom Schneider und vom Friseur, nach ihrem Gespräch würde er eine Vorbesichtigung bei Sotheby’s und am Abend einen Empfang der Vogue-Chefredakteurin besuchen. Er hatte sich für diesen Empfang einen Anzug machen lassen, der den berühmten weißen Anzügen von Tom Wolfe glich. Er trug ein gestreiftes Hemd, dessen Kragen bis zum Adamsapfel hinauf reichte, und zweifarbige Schuhe, er hoffte, daß Tom Wolfe ebenfalls bei dem Empfang anwesend sein und man sie zusammen photographieren würde. Er scherzte, wie oft wohl die Projektion von Tom Wolfe in seine Projektion hineinpaßte, und bot Suttung eine führende Stellung in der Marketingabteilung des Unternehmens an. Suttung nahm das Angebot des CFO ernst.
Vor dem Empfang hatte der CFO noch eine Verabredung mit einem Antiquitätenhändler, es ging um ein besonders seltenes L&G-Stickley-Möbel. Der CFO förderte über das Unternehmen großzügig mehrere Museen, deren Kuratoren berieten ihn dann auch bei seinen eigenen Ankäufen. Seine Sammlung hatte solche Ausmaße angenommen, daß der Gedanke nahelag, er habe sie durch Kickbacks finanziert. Suttung empfand die völlige Abwesenheit ethischer Erwägungen bei allen Entscheidungen des CFO nicht als abstoßend, er nahm sie hin wie ein unwillkommenes Korollar eines lange bekannten Satzes. Er hatte sich über das Wüten des CFO nie empört. Den Stab, in dem er arbeitete, konnte es nur geben, wenn das Unternehmen Gewinne machte. Er hatte den CFO einmal gefragt, ob er kein Gewissen habe. Der CFO hatte geantwortet, sein Gewissen seien die Beschlüsse des Boards.
Suttung äußerte sich zu dem überraschenden Angebot mit keinem Wort. Der CFO riet ihm wieder zu einem neuen Schreibtisch. Suttung hatte tatsächlich überlegt, wie bequem es wäre, statt an dem alten Schreibtisch an einer großen Arbeitsplatte zu sitzen, auf der alle Bildschirme, alle Tastaturen, alle Zeitschriften und alle Bücher, die er für seine Arbeit benötigte, Platz fänden. Aber der alte Schreibtisch gehörte zu dem kleinen, hohen Raum wie die von Stuckleisten eingerahmten großen Sprossenfenster und die Holzverkleidung mit den Milchglasscheiben im Eingangsbereich. Wenn er seinen Schreibtisch durch eine Arbeitsplatte ersetzen würde, wäre er gezwungen, auch den zweiten alten Schreibtisch zu entfernen, den er jetzt als Ablagefläche benutzte. Dann müßten der rotbraune Bugholzstuhl neben der Eingangstür und der dunkelbraun gebeizte Schirmständer ebenfalls zweckdienlicheren Einrichtungsgegenständen weichen. Dann wäre es gar nicht mehr notwendig, Blätter auf dem Boden auszubreiten.
Der CFO kam nicht auf sein Angebot zurück. Seine Gabe, wie ein besonders entschlossenes und schlaues Leittier unablässig seine Herde zu umkreisen, schien unbeeinträchtigt. Auch wenn er diese Fähigkeit sonst nur noch selten anwandte, jetzt übte er sie in einer Art spielerischer Rückerinnerung, in einer Weise gestellter Vergegenwärtigung dessen aus, was er einmal war. Außer Suttung gab es niemanden mehr im Unternehmen, der den CFO in seiner Anfangszeit aus der Nähe gekannt hatte. Der CFO wollte ihm zeigen, daß das Wüten, dem er seinen Aufstieg verdankte, nicht Grund und nicht Ziel seines Wesens darstellte. Während der Unterhaltung vermutete Suttung, der CFO spreche nur deshalb über einen neuen Schreibtisch, weil er davon ausging, daß Suttung sein Angebot nicht annehmen würde. Später fragte sich Suttung, ob der CFO den neuen Schreibtisch nicht in der Absicht ins Spiel gebracht hatte, einen Denkvorgang auszulösen, an dessen Ende er eher gewillt wäre, eine neue Tätigkeit in einer anderen Abteilung des Computerunternehmens aufzunehmen, als bei seiner alten Tätigkeit den Schreibtisch zu wechseln.
Am Abend desselben Tages hatte Suttung sich beim Basketball die Hand verletzt. Nach einer unruhig verbrachten Nacht, in der die Schmerzen in seinem rechten Handgelenk beharrlich zunahmen, fuhr er morgens in die Ambulanz einer nahen Klinik. Nachmittags hatte er dann, mit leichtem Gepäc...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Motto
  5. Textbeginn
  6. Impressum
  7. Über den Autor