Wenn wir sterben
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Wenn wir sterben

  1. 480 Seiten
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Wenn wir sterben

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Über dieses Buch

Deutschland, München, Ende der neunziger Jahre: Es begegnen uns vier Frauen, energische, attraktive, in ihrem Berufsleben erfolgreiche Mittvierzigerinnen, wichtige Führungspersonen der Industrie. Alle vier sind auf dem Höhepunkt und gleichzeitig am Scheidepunkt ihrer beruflichen Karrieren angelangt, haben das Alter für große Entscheidungen erreicht. Charlotte, eine arrivierte Managerin, macht sich mit der Hilfe zweier befreundeter Geschäftsfrauen, Christine und Bär, selbständig, sie kauft eine mittelständische Firma. Durch eine gemeine Intrige ihrer engsten Mitarbeiterin erleidet Charlotte ihren persönlichen Ruin, verliert die Firma. Doch die neue Inhaberin Christine, Stine genannt, kann das Unternehmen nicht lange halten. Ein Joint-venture, von dem sie sich Zugang zum Weltmarkt verspricht, erweist sich als geschickter Schachzug einer anderen erfolgreichen Geschäftsfrau, Milla. Jetzt stirbt Stine ihren ökonomischen Tod, wird Opfer einer ihr überlegenen Frau. Wenn wir sterben, der neue Roman Ernst-Wilhelm Händlers, den nicht wenige als die wirklich herausragende Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen, schildert in großer Detailtreue die Karriere von vier Geschäftsfrauen, von denen nur eine "überlebt". Händler zeigt mit exemplarischen Lebensgeschichten, wie die moderne Industriegesellschaft den Menschen entwurzelt und deformiert: Menschliche Existenz hat nur noch ökonomischen Sinn. Materielle Begehrlichkeiten und materielle Zwänge haben das Wesentliche verdrängt. Wirtschaftsprozesse prägen statt dessen unsere Entscheidungen und instrumentalisieren das Leben. Jene, die die oberen Sprossen der Karriereleiter erklommen haben, haben alles Menschliche eingebüßt und handeln provisorisch in der Logik ihrer Funktionen; sie kämpfen mit allen Mitteln um ihren eigenen Erfolg.Formal entspricht der Roman genau seinem Inhalt. Handelt Wenn wir sterben von Gesetzen und ökonomischen Abläufen in der deutschen kapitalistischen Wirtschaftswelt, die in einem gewissen Sinne alles Bestehende an sich reißt, benutzt der Autor die formale Ebene seines Romans, um fremdes Schreiben dem eigenen Schreibprozeß anzuverwandeln: Jede Person in dem Roman denkt, fühlt und handelt in einer eigenen Sprachwelt. So entsteht zugleich eine Enzyklopädie der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

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Information

VIERTER TEIL
. . . – dafür wurde Stine als allererste ins Museum eingelassen.
Ein paar Sekunden lang war Stine die einzige Person, die den Models gegenüberstand.
Fünfzehn Models in schwarz-roten Bikinis und Stilettos und fünf nackte Models, die nur die straßbesetzten Schuhe anhatten.
Das war kraß.
Die Gucci-Bikinis und die Gucci-Schuhe schimmerten toll.
Stine wollte dem Model vor ihr in die Augen sehen, aber es blickte weg. Sie versuchte, einem anderen in die Augen zu sehen –
Stine fiel ein, daß sie unbedingt mit den Models sprechen wollte.
»Sind die Schuhe bequem?«
»Gefällt’s Ihnen?«
»Hassen Sie die Zuschauer?«
Sie ging herum und suchte die Künstlerin.
Die Künstlerin antwortete ultrahöflich, nein. Es ist verboten.
Stine ärgerte sich, daß sie nicht ihr Gucci-Kostüm angezogen hatte, vielleicht hätte die Künstlerin dann Vertrauen gefaßt.
Oder war das Teil der Performance?
»Nach fünfundzwanzig Jahren Feminismus!«
Ein Kritiker stürmte aus dem Raum.
»Brutal süß!«
Ein Künstler.
»Aber jetzt muß ich an meine Arbeit.«
»Naked chicks! Great!«
Während sich die geladenen Gäste zuprosteten, schmolz die Show wie eine Skulptur aus Eis. Zwei Nackte, Zwillinge, schwankten. Bei einer anderen löste sich der Absatz vom Schuh. Mehrere setzten sich auf den Boden. Hinter Stine flüsterte jemand, die Models seien vorher beim besten Friseur der Stadt gewesen, der sich um die Schamhaare gekümmert habe.
– Alle Models hatten dasselbe beigefarbene Body-makeup aufgetragen –
THE ARTIST VIEWS HER LIVE MATERIAL AS PURELY VISUAL: NO ACCENTS ON THE WOMEN’S PERSONALITIES OR ORIGIN, NOR IS ANY EMPHASIS ON FEMINITY INTENDED.
Trotzdem waren die Frauen schön, ihre Schuhe, ihre Gesichter, ihre Bikinis, ihre Posen.
– das inzestuöse Spiel von Wiederholung und Variation
– die Unheimlichkeit eines Fast-Mimikry
– Nacktheit als eine Form von Kleidung
– Sexualität als Gegenteil von Intimität
Jemand, der stillsteht, ist niemals völlig bewegungslos.
– Die Körperfresser haben das Museum erobert –
einer sagte, gut, gut, gut, ein anderer wiederholte das direkt, gut, gut, gut.
Rubbernecking und Networking.
Jemand rief ja und lachte.
»Hallo Stine, süßes hübsches Bärchen!«
O ja –
wow –
hm –
du –
Stine hatte vergessen, wo sie hinsollte, sie wußte nicht mehr, was, wo, wie, wann, warum.
Die rettende Idee: sich auf den Boden setzen, wie die Models.
Angel und Drifter redeten, fragten, schauten. Bär war nicht eingeladen, Drifter redete wie immer.
NUMBER ONE AND NUMBER TWO
Found stuffed animals and string
(gelber Bär und brauner Affe)
. . . – erschloß der Laufstall das Reich der kollektiven Erinnerung, der tiefen Gefühle und der unstillbaren Erwartungen. Trotz seiner minimalistischen Struktur verkörperte das Werk eine Flut von kunsthistorischen Referenzen ebenso wie ein komplexes Gewebe von unverwechselbar persönlichen Zeichen.
Der disparate Spielraum der Assoziationen, die der Künstler und der Zuschauer dem essentiell banalen Objekt zuschrieben –
es gab so wahnsinnig viel gute Kunst aus den achtziger Jahren, vor allem natürlich Objekte, Installationen, Tafelbilder, die ganzen Entwicklungslinien, Richtungen, kaum stand man vor einem Kunstwerk, saugte man sofort seine extrem hochinteressante Aussage an.
Irgendwie war der Laufstall viel zu hoch, und die Stäbe waren viel zu dick.
Die Mutter des Künstlers auf einem Krankenbett. In einem weiten weißen Rock und einer Bluse ohne Knöpfe.
Der Weg zur Decke durch zehn an der Wand befestigte Kästen aus rostfreiem Stahl und rosa Plexiglas versperrt.
»Hast du das Geschenkpaket mit den Därmen und dem Magen und der Leber und der Milz gesehen?«
Schon schön – schön
Die Wahrheit war: Die jetzige Schaltergeneration war am Ende, die Beziehungen zu den Kunden zerrüttet, langjährige Verträge schleppten sich mühsam dahin, tiefe Löcher hatten sich in Umsätze und Erträge eingefressen. »Zustand des Zerfalls.«
»Überall muß man vom neuen Schalter sprechen.«
Der neue Schalter mußte legendär werden. Ein Mythos. Erhaben. Unglaublich. Die Wiederauferstehung, vorweggenommen. Die Epiphanie.
Jede konkrete Wahrnehmung der Realität unterminiert –
es geht an die Wurzeln des Selbst –
des Betrachters –
gebongt. »Was kostet –«
Ja, so war das.
Begrüßung durch die sechziger Jahre. Ich weiß ja, daß ihr mich blöd findet, sagte das auf die Leinwand kopierte Foto eines Selbstmörders, der vom Dach eines Hochhauses sprang, aber –
da wollten auch die Fünfziger nicht zurückstehen. Zwei Figuren in einem schwarzen Ausschnitt vor einem schwarzen Hintergrund
ein Gesicht: Hallo!
ein zweites Gesicht: Hallo!
ein Arm: Wir sollten jetzt mal so langsam –
die sechziger Jahre: Hört auf, bitte!
ein dunkelblaues Quadrat ein hellblaues Quadrat um das dunkelblaue Quadrat ein grünes Quadrat um das hellblaue Quadrat ein gelbes Quadrat um das grüne Quadrat ein orangefarbenes Quadrat um das gelbe Quadrat ein rotes Quadrat um das orangefarbene Quadrat ein orangefarbenes Quadrat um das rote Quadrat ein gelbes Quadrat um das orangefarbene Quadrat ein grünes Quadrat um das gelbe Quadrat ein hellblaues Quadrat um das grüne Quadrat ein dunkelblaues Quadrat um das hellblaue Quadrat (eine eckige Zielscheibe)
SINGLE ORANGE CAR CRASH
– Aber noch viel absurder und kaputter –
VIERWALDSTÄTTER SEE
»Wenn ein Produkt ein Klassiker werden soll, dann muß es ein Design haben, das nicht irgendwelchen passierenden Moden gehorcht, sondern es muß das fitteste sein, um die Funktion auszuführen, die das Produkt bieten soll.«
O je. Ja! Und nun?
»Also ein Designprodukt ist nicht wie Architektur, die viel langsamer alt wird, es muß tragbar, persönlich und vertraulich sein, mit guten technischen Eigenschaften, es muß die spezifischen Qualitäten eines professionellen Produkts widerspiegeln, und natürlich sollte es auch versteckt werden können, wenn es nicht in Gebrauch ist, um die Intimität einer persönlichen, privaten Besitzhaftigkeit widerzuspiegeln.«
Drifter wischte sich die Nase. Man kann über ein Produkt sagen, was man will, dachte er, alles wirkt sofort pervers, sektiererhaft.
Schön anzuschauen, die Kunst der Neunziger, diese farbigen Punkte auf weißem Grund.
I want to spend the rest of my life everywhere, with everyone, one to one, always, forever, now
CONSTIPATOR BLOCK: SHIM BOLUS
– Otto shaft – (transverse) TFE squat
– HEMORRHOIDAL DISTRACTOR (2)
cast large pearl-tapioka, teflon, socks, and thermal gel packs
Wie verführerisch und rätselhaft zwingend athletische Paraphernalien und metabolisch transformative Substanzen sich vereinigten: Tapioka war ein basisches Kohlehydrat und Teflon ein Polymer, das Chirurgen für Implantate verwendeten. Die Perlen bestanden aus Sekretschichten um einen Fremdkörper, die Gelpackungen waren Vehikel, um Hitze zu übertragen. Alle diese Elemente verkörperten gleichermaßen einen Kampf wie ein Potential für eine Zustandsänderung, eine metabolische, physikalische oder genetische Transformation, die sowohl das Technische als auch das Menschliche transzendierte.
Schön
wunderschön
»Es gibt so viele Produkte, die nicht mehr hergestellt werden, doch ihr Bild bleibt und beeinflußt neue Entwürfe. In der kollektiven Ikonographie sind immer Relikte präsent, auf der anderen Seite gibt es Produkte auf dem Markt, die unerbittlich verfallen.«
Stine: Die Kampagne, die Kampagne bitte.
. . . – rannte Stine gegen eine Holzliege mit einem fußballgroßen Loch in Gesäßhöhe, darunter stand ein Plastikeimer, ein hängender zweiter Plastikeimer ersetzte die Klistierflasche, die Einlaufspritze lag auf der Liege. Es war diese Sorte von kompromißloser, antiästhetischer, nach Pisse, Scheiße, Sperma, Blut und verdorbenem Leben stinkender Bescheidenheitskunst. In der Installation mit den überdimensionalen Duftspendern hatte Stine entsetzliche Angst davor, daß ihr Körper sich als eine Maschine entlarven würde, die nichts anderes als Abfall produzierte, sich abnutzte und starb.
Mein Gott, Stine hatte ein echtes Problem, mit Scheiße umzugehen.
Der Interviewer: Warum benutzt du eigentlich immer diese verdammten Stofftiere?
Der Künstler: Das Stofftier ist ein beschädigtes und verkrüppeltes Ideal, von Erwachsenen auf Kinder projiziert, der Inbegriff der Person als Ware und der erpreßten Emotionen.
Der Interviewer: Gehen dir junge Menschen eigentlich auf die Nerven, weil sie deine Kunst cool finden?
Der Künstler: Egal, was sie tun, ich finde es gut, wenn Menschen sich auf das Ende vorbereiten.
Was Stine wirklich bewunderte: Geld, aber richtig viel Geld. Nicht nur so viel Geld, wie sie jetzt hatte oder bald haben würde. Ein paar Millionen oder zig Millionen waren kein Geld. Wenn man es sich leisten konnte, das Geld zu verachten: Erst das war wirklich Geld.
Das andere Neidfeld: die Kunst.
»Sie nicht.«
Sie: Wieso?
Die Show: Nur so.
»Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Doch.«
»Woher?«
»Sie stehen direkt vor mir.«
Stine konnte sehen, wie sich der Motorraum verformte, wie sich der Rahmen der Fahrertür nach außen bog. Es war kein Schrottauto, sondern jeder Teil war in Glasfaser nachgegossen und mit einem grauen Primer bemalt.
Drifter: Was du in die Kampagne für den neuen Schalter einbringen mußt:
– dein generelles Desinteresse am Zusammensein mit eigenen Kindern
– dein generelles Desinteresse am Zusammensein mit dem Lebenspartner
– dein generelles Desinteresse am Urlaubmachen
– dein generelles Desinteresse am Sexhaben
– dein generelles Desinteresse am Zusammensein mit Freunden
– dein generelles Desinteresse am Selber-Autofahren
– dein generelles Desinteresse am Hobby-Ausüben
– dein generelles Desinteresse am Musikhören
– dein generelles Desinteresse am In-Ruhe-Nachdenken
– dein generelles Desinteresse am Lesen
– dein generelles Desinteresse an Essen und Trinken
– dein generelles Desinteresse an Schlafen und Dösen
– dein generelles Desinteresse am Sporttreiben
– dein generelles Desinteresse am Einkaufsbummel-Machen
– dein generelles Desinteresse am Im-Haushalt-Arbeiten
– dein generelles Desinteresse am Gottesdienstbesuch
– dein generelles Desinteresse am Im-Kino-Filme-Sehen
– dein generelles Desinteresse am Fernsehen
Fast verliebte sich Stine in die überlebensgroße Businessfrau aus Kunststoff in dem roten Kostüm.
Schämten sich Angel und Drifter, weil auch ihnen dieses erstarrte Universum gefiel, in dem niemand mehr zwischen echten und Glasaugen, zwischen Unfallautos und nachgemachten Unfallautos, zwischen richtigem und falschem Schamhaar, zwischen Leben und Tod unterscheiden konnte? Das wirklich Neue ist nicht vorhersehbar, für niemanden, auch nicht für einen Artdirector.
O! Stinchen, Stinchen, Stinchen . . .
Das Haus der Deutschen Kunst ist vital, aber kompromittiert.
Milla fährt aus ihrer Haut. Sie findet Gefallen daran, daß das, was zu empfinden und zu erfühlen ist, nicht von dem üblichen Ich empfunden und erfühlt wird. Stine schlägt Milla ein Joint venture vor
Irgendwie muß ich derart aus meiner Haut gefahren sein, daß ich denke, ich stehe neben mir selbst. Fragen helfen einem zu denken, mir stellt niemand Fragen, aber ich kann ja jetzt meiner Nachbarin Fragen stellen. Ich versuche zu verstehen, in welcher Beziehung sie zu ihrer Umwelt steht. Außerdem interessiert mich natürlich ihr gegenwärtiger Geisteszustand.
Was meine Nachbarin denkt, kommt mir wichtiger vor, als wenn ich es selber denken würde. Genauso erscheint es mir wichtiger, was ich über meine Nachbarin denke, als wenn ich es umweglos über mich selbst denken würde. Ich finde es durchaus nicht sonderbar, daß ich über mich selbst wie über eine andere denken kann. Ich habe mir über die anderen immer Gedanken gemacht, deswegen kann ich mir auch über meine Nachbarin, die ich selber bin, Gedanken machen. Allerdings muß ich zugeben, daß ich mir über mich selbst niemals so viele Gedanken gemacht habe wie jetzt. Woher das wohl kommt, daß ich über mich auf einmal wie über eine neutrale Person nachdenke? Irgendwie habe ich mich von mir selbst befreit, und ich bin mir jetzt auf eine andere Art wichtig als vorher. Denke ich.
Meine Nachbarin kommt zu einem Messestand, der aussieht, als habe man einen Knoten in eine Stahlplatte gemacht. Als sie jünger war, hätte sie dazu gesagt, das können wir auch. Geht sie nur einmal an dem Stand vorbei, passiert nichts. Merken ihre Mitarbeiter, daß sie ihre Schritte öfter zu dem Stand lenkt, werden sie dasselbe tun und jede, auch die nebensächlichste ihrer Bemerkungen darüber speichern. Verbreitet sie sich anerkennend über den Stand, werden die Mitarbeiter nicht das Haar in der Suppe suchen, äußert sie sich abfällig, werden sie den Stand gleichfalls bekritteln. Sie kommen in Schwierigkeiten, falls meine Nachbarin etwas von sich gibt, was sie nicht einordnen können. Dann werden sie nicht nur keine Fragen stellen, sie werden überhaupt versuchen, das Thema zu vermeiden, weil es für sie Unsicherheit bedeutet. Erkundigt sich meine Nachbarin ohne weiteren Kommentar nach dem Architekten des Messestands, werden sie ihr eine Aktennotiz vorlegen, mit einer Schätzung, was der Architekt für den Messestand verlangt hat, und mit einem Vergleich, was die Designabteilung des Konzerns verrechnen würde. Natürlich kann man in eine Stahlplatte keinen Knoten machen. Der Korpus des Messestands wird von Stahlträgern aufgespannt, die mit dünnen Blechen verkleidet sind.
Habe ich, ohne daß ich es bemerkt hätte, die Gedanken von mir selbst abgewandt und mich, indem ich mich meiner Nachbarin zuwandte, mit jemandem beschäftigt, der weniger mit mir zu tun hat, als ich glaubte? Aber ich habe den unwiderlegbaren Eindruck, daß ich mich mehr um mich kümmern will, als ich es vorher wollte. Bin ich wirklich aus meiner Haut gefahren, um mich selbst zu besichtigen, oder hat vielleicht das Leben eine Milla außerhalb ihrer selbst gezeichnet?
Meine Gedanken und die Gedanken meiner Nachbarin halten einen ziemlichen Abstand voneinander. Das finde ich gut, soweit ich sehe, findet das auch meine Nachbarin gut. Wir sind uns völlig einig, unser beider Gedanken sollten keinen zu vertrauten Umgang miteinander pflegen. Unsere Gedanken sollten sich gegeneinander nicht alles erlauben. Es ist für uns beide besser, daß sie sich den Respekt voreinander erhalten, dann können wir uns, jede für sich, besser in die ihr gemäße Richtung entwickeln.
Ich habe das Gefühl, der Körper meiner Nachbarin ist müde und träge und ihr Geist ist ganz eng mit ihrem Körper verbunden. Meine Nachbarin meint gerade einmal wieder, daß nichts die Mühe wirklich lohnt. Das Leben kommt ihr wie ein großes Masturbieren vor, mit dem man einfach nicht aufhören kann. Die Leute suchen nur nach Alibis, das Warum, das sie finden, ist niemals authentisch. Man kann sich nur ablenken, indem man einfach lebt.i>
An dieser Stelle frage ich meine Nachbarin, ob sie denn nicht mit dem zufrieden ist, was sie erreicht hat? Meine Nachbarin antwortet mir, daß sie sich das niemals fragt. Sie macht einfach weiter. Ich frage meine Nachbarin doch, ob es denn gar nichts gibt, wovon sie denkt, daß sie es noch tun muß. Ihre Antwort zeigt, wie verschieden unsere Gedanken sind und wie gut es ist, daß sie Abstand voneinander halten: Trotz allem gefällt ihr ihre Tätigkeit, sie kann Möglichkeiten verwirklichen, die sie früher nur denken konnte.
Behandle die anderen wie dich selbst. Eine durchaus vernünftige Maxime, aber der Umgang mit einem selbst fällt nicht leicht. Hielten die Leute mehr Abstand von sich selbst, sie würden sich auch gegenüber anderen ganz anders verhalten, sie hätten vor anderen mehr Respekt. Wie ich mich so betrachte – betrachte ich mich wirklich selbst, oder besichtige ich vielleicht nur eine Erinnerung an meine Person? Aber diese Trennung würde sich nicht aufrechterhalten lassen, wäre ich nicht tatsächlich aus meiner Haut gefahren. Sonst gäbe es auch keinen Grund, warum sie nicht ich sein sollte und ich nicht sie. Dann wäre es viel naheliegender, daß die Erinnerung an meine Person von mir nichts übriglassen würde oder daß ich von der Erinnerung meiner Person nichts übriglassen würde. Wenn es uns zwei gibt, meine Nachbarin und mich, dann kann es uns beide nur geben, weil ich das will. Obwohl es gar nicht so einfach ist, auch mich kostet es ja eine Überwindung, gehen Sie mal neben sich selbst her!
Meine Nachbarin und ich, wir haben unsere Gedanken ausgetauscht, ohne uns dabei anzusprechen. Diese Klippe haben wir sorgfältig umschifft. Natürlich ist die Kommunikation eine andere, als wenn man nicht auseinander hervorgegangen ist. Trotzdem bin ich der Meinung, wir sollten uns direkt ansprechen. Es ist mir gleich, ob ich meine Nachbarin anrede oder ob sie mich anredet, ob die Gedanken meiner Nachbarin mich anreden oder meine Gedanken meine Nachbarin, ob sich hier sozusagen Komplexe von Gedanken anreden oder ausgereifte Persönlichkeiten. Für diesen Umgang bietet sich zuerst das Du an, nachdem schon die eine aus der anderen hervorgegangen ist, aber da das alles eine Sache der freien Entscheidung darstellt, sollte man auch die Vorteile abwägen, die ein Umgang per Sie bietet. In Frankreich reden heute noch in manchen Familien die Kinder die Eltern mit Sie an, und in dem riesengroßen traditionsreichen Konzern, in dem meine Nachbarin Bereichsvorstand ist, bleibt man grundsätzlich beim Sie, von der Lehrzeit bis zur Pensionierung.
Ich finde jedenfalls, es ist ein sehr schönes Bild, wenn sich Gedanken siezen. Gedanken werden oft zu schnell miteinander vertraut. Was noch nicht heißt, daß sie in die gleiche Richtung gehen müssen, im Gegenteil, auch Feindschaften zwischen Gedanken können etwas ungeheuer Vertrautes haben. Wahrscheinlich wären viele Gedanken klarer und manche Argumentationen wirkungsvoller, würden die Gedanken immer nur per Sie miteinander verkehren. Eine Auseinandersetzung, die per Sie geführt wird, ist einfach respektvoller, sachlicher, wogegen das Du viel eher zum Streit verleitet, aber nicht zum edlen Wettstreit, sondern zur Streiterei, zur Kleinlichkeit. Gedanken können nur auf der Du-Ebene miteinander zanken.
Andererseits kann aber das Sie dazu führen, daß manche Gedanken aus Rücksicht nicht mitgeteilt oder aus vorauseilender Schamhaftigkeit gar nicht erst gedacht werden. Das Sie mag schöner sein, aber das Du ist kreativer. Deswegen nimmt es auch den Streit in Kauf. Außerdem sind wir nicht beide beim Konzern angestellt. Ich stehe ja in keiner sonstigen Beziehung zum Konzern, ich bin kein Kunde, ich bin kein Lieferant, und Beraterin bin ich auch keine. Probieren wir es doch einmal mit dem Du.
Wie gefällt dir dein Messestand? frage ich dich. Der Stand ist nach dem Vorbild eines afrikanischen Dorfes gestaltet. Folgt man der Linie der weißen Steine, kommt man an jeder Hütte, an jedem Platz, an jedem Turm genau einmal vorbei, auf allen anderen Wegen, das haben die Mathematiker ausgerechnet, verpaßt man ein Ausstellungsstück oder begegnet ihm zweimal. Die Objekte, die hier gezeigt werden, stellen allerdings weder Götter noch Sterbliche dar. Es sind Schaltgeräte, Leistungsschalter, Überlastrelais. Und die neuen Sanftstarter, im großen Turm zu besichtigen, weil sie Abmessungen haben, die sie zu den kleinsten ihrer Art auf dem Markt machen. Die Hybridtechnik der Sanftstarter stellt sicher, daß keine hohen Verlustleistungen auftreten, nach erfolgtem Motorhochlauf werden die Leistungshalbleiter mit einem integrierten Bypass-Schütz überbrückt. Die Vitrinen mit den Sanftstartern sind verspiegelt, man erkennt, daß an der Unterseite der Starter einschnappbare Lüfter angebracht werden können, die eine hohe Schalthäufigkeit der Geräte und einen Betrieb in beliebiger Einbaulage ermöglichen. Du sagst, du bist mit dem Messestand von D’Wolf zufrieden.
Du bist die Erfinderin von Totally Integrated Automation. Vor drei Jahren hast du das Baby auf die Welt gebracht, heute ist es erwachsen. Quantensprünge werden schnell erwachsen. Totally Integrated Automation steht für Durchgängigkeit bei der Projektierung und Programmierung, bei der Datenhaltung sowie bei der Kommunikation für alle beteiligten Komponenten eines Automatisierungsverbands. Totally Integrated Automation vereinfacht die Planung und Inbetriebnahme von Automatisierungsanlagen außerordentlich. Mit Totally Integrated Automation kommt der Anwender für jede Komponente schneller zu leistungsfähigen Lösungen, er ist unabhängig vom Hersteller, und er kann verschiedene Systemtechniken wie SPS, PC oder SPS im PC miteinander verknüpfen. Bei komplexen Automatisierungsprojekten konnten die Anwender mit Totally Integrated Automation bis zu fünfzig Prozent der Engineering-Kosten einsparen, das bedeutete eine Verringerung der Gesamtkosten bis zu fünfundzwanzig Prozent. Ob Leitsystem, ob PC, ob SPS, Antriebe oder Peripherie, kein Produkt kommt mehr ohne diese Eigenschaft aus, wenn es auf dem Markt eine Rolle spielen soll. Dabei nehmen Anzahl und Vielfalt der Komponenten, die zu Totally Integrated Automation gehören, ständig zu. Sämtliche drehzahlveränderbaren Antriebe sind mittlerweile Bestandteile von Totally Integrated Automation.
Früher spiegelte die Bedieneroberfläche der Software die Struktur des Fertigungssystems wider, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten wurden lediglich als eine Art Dekoration abgebildet. Vor alten Anlagen fragt man sich heute, wie es möglich war, die verschiedenartigen und nicht aufeinander abgestimmten Komponenten zusammen-zuspannen und wie diese Anlagen überhaupt laufen. Du hast mit Totally Integrated Automation eine neue Sprache eingeführt. Totally Integrated Automation hat die Grenzen zwischen Automatisierungs- und Antriebstechnik genauso wie diejenigen zwischen Fertigungs- und Verfahrenstechnik aufgehoben. Die Benutzeroberfläche hat sich die früher unabhängigen technischen Komponenten unterworfen. Totally Integrated Automation ermöglicht, daß ein Fertigungssystem sich selbst ausdrücken kann, in diesem Sinne ist Totally Integrated Automation tatsächlich eine Art klassisches Projekt.
Während wir beide brav den weißen Steinen durch dein Dorf folgen, erzählst du, daß in den letzten Jahren das Ma...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. ERSTER TEIL
  7. ZWEITER TEIL
  8. DRITTER TEIL
  9. VIERTER TEIL
  10. FÜNFTER TEIL