Was verborgen bleibt
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Was verborgen bleibt

  1. 160 Seiten
  2. German
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Was verborgen bleibt

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Über dieses Buch

Es gibt ein Versprechen, abgegeben viele Jahre zuvor: Wer als Erster in der großen Stadt Fuß fasst, zieht den anderen nach. Nun ist sie ihrem Freund über den Ozean gefolgt, erst einmal auf Probe in die ferne Metropole. Was als Neuanfang gedacht war, stellt sich aber als der Beginn eines Abschieds heraus. Da sind Gregors Überstunden und die abendliche Beklommenheit, wenn beide in der Dunkelheit nebeneinanderliegen. Und die Katze im Innenhof, die er füttert, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Getrieben von ihrer Sehnsucht nach vertrautem Terrain, wandert die Erzählerin tagsüber durch die winterlichen Straßen, auf der Suche nach den Indizien der Liebe und der früheren Intimität. Aber alles bleibt fremd, nichts kann mehr zugeordnet werden. Der Versuch, neue Rituale zu schaffen, scheitert, und an alte anzuknüpfen, scheint unmöglich. Sie tastet sich durch den Dunst der Februartage, seltsam in Watte gepackt, versucht mitzuhalten mit der Schnelligkeit der Stadt, wenn sie unvermittelt in ihren Rhythmus gezogen wird. Szenen ihrer ersten Monate steigen in ihr auf, als das Spiel der Körper noch die Grenzen zwischen ihnen aufzulösen schien und sie gemeinsamen Träumen nachhingen, als sie ihm die Unterlagen für die Greencard- Lotterie vorlegte in dem Glauben, ihrer Zukunft einen Schubs zu geben. Nun muss sie schmerzlich hinnehmen, wie er ihre Wärme ablehnt und sich in sich zurückzieht. Ein gemeinsamer Opernbesuch wird zum Fiasko. Es ist ein Atemanhalten, eine Stimmung zerbrechlich wie Glas. Mit pointierter, klarer Sprache erschafft Britta Boerdner eine Gefühlswelt von hoher Authentizität, einen melancholischen Mikrokosmos innerhalb einer Weltstadt, in dessen Starre sich schon der Aufbruch ankündigt, und schildert in eindrücklichen Bildern den Moment, in dem eine Liebesbeziehung schweigend - im Verborgenen - zu Ende geht.

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Information

VII
Überall ist die Aufbruchstimmung zu spüren, schade, dass du gestern Abend nicht gekommen bist, ein neuer Kollege war dabei, er kommt aus Irland, ganz viele Iren haben dieses Jahr die Greencard gewonnen, alle sagen, es ist gar keine Lotterie, sie suchen ganz bewusst diejenigen heraus, die sie haben wollen, erzählt mir Gregor, bevor er am nächsten Morgen das Haus verlässt. Die morgendliche Gesprächigkeit ist unüblich für ihn, vielleicht hat meine Absage vom Abend zuvor damit zu tun. Seine Munterkeit treibt mich aus dem Bett trotz der Kopfschmerzen, die ich vom Bier und der Heizungswärme habe. Bevor ich ins Bad gehe, hole ich meine Reisetasche aus dem Regal und ziehe zum ersten Mal, seit ich hier bin, meinen Schatz hervor: eine Mappe aus Hartpappe, darin mein Lebenslauf und mein Profil. Seltsam statisch liegt nun alles vor mir, Jahreszahlen, die Schrift, die ich verwendet habe, mein Foto. Ich habe viel Mühe darauf verwendet, die Projekte zu beschreiben, in der Kürze liegt die Würze, das Übersetzungsbüro bat ich um amerikanisches Englisch. Ich dusche, ziehe mich an, schminke mich, sogar meine Stiefel habe ich angezogen, und hole am Schreibtisch im Straßenzimmer das graue Telefon zu mir heran. Meine Realität ist, dass ich die Greencard nicht gewonnen habe und nun endlich diesen plumpen amerikanischen Kasten benutze, der vor mir steht, und die beiden Nummern abtelefoniere. Mir ist noch flau im Magen, Newman wirkt nach. Ich lege mir die Worte zurecht, die ich gleich sagen werde, lege die Mappe direkt neben das Telefon, damit ich meine Leistungen herunterrasseln kann. Meine Unterlagen werden in keinen amerikanischen Ordner passen, sie sind im DIN-Format, ich habe nicht daran gedacht, wie anders hier alles ist. Übrig bleibt der USB-Stick, auf den ich zu Hause Arbeitsbeispiele gezogen habe, ich stecke ihn ein in Gregors Rechner. Designs in Grau und Blau, die mir mit einem Mal sehr angreifbar vorkommen, man wird es meiner Stimme anhören, wie schwach ich mich fühle. Ich bin nicht in der Verfassung, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, ich entschuldige mich mit aller Entschiedenheit bei mir selbst und vertage die Anrufe auf den nächsten Tag. Reiß dich zusammen, rufe ich mir zu, ich pflege meinen Kater, ruft es zurück, ich mache blau. Morgen werde ich mein Leben in die Hand nehmen und die beiden Telefonnummern anrufen. In der vorausschauenden Berechnung, wie sehr mich dieser Satz in einigen Jahren amüsieren wird, suche ich nach weiteren Versicherungen dieser Art, ich möchte mir alles Markante anhand solcher Sätze einprägen, die mir viele Jahre später noch sagen werden, wie befangen und ungeschickt ich am Anfang war und wie selbstverständlich ich dann doch jede Hürde genommen habe.
Diese Stadt, diese riesige Stadt, die sich ständig selbst zitiert, in der Filme über sie gedreht, Songs über sie produziert werden, die das Außen nach innen holen und wieder ausstrahlen als neues Abbild. Ich bin müde, wenn ich nur daran denke, dabei ist es erst früher Vormittag. Es ist mir jetzt zu viel, auf Entdeckungstour zu gehen, meine drei Bier am Abend zuvor sind genug, um dieses schale Gefühl zu spüren, die Melancholie, die ein Kater am nächsten Morgen mit sich bringt. Zum Einleben gehört auch ein ganz normaler, fauler Tag, an dem man zu Hause bleibt.
Ich sitze gerne an Gregors Schreibtisch, an diesem alten, amerikanischen Küchentisch mit Resopaloberfläche und Aluminiumrand, den er zu Hause niemals gekauft hätte, da strebte er nach Hochwertigem, nur wenig davon hat er mitgenommen, das Sofa, zwei Stühle. Ob auch ich diesen Tisch gekauft hätte? Gehört zu einem neuen Lebensabschnitt nicht auch ein neuer Stil, ein neuer Ausdruck, passt man sich nicht an die neue Umgebung an wie ein Chamäleon? In Gregors Wohnung hat sich nicht viel verändert seit seinem Einzug, sagt er, sechs unausgepackte Kisten stehen neben dem Schreibtisch, zwei davon sind geöffnet, CDs und Bücher, Jaspers, Foucault, The Art of Mingling, versehentlich eingepackte Verlängerungskabel und Krimskrams, den ich nicht kenne. Ich wühle ein wenig herum, doch nicht zu sehr, er soll es nicht merken. Die Heizung beginnt wieder zu klopfen, das macht sie mehrmals am Tag, immer wieder erschreckt mich das Seufzen, mit dem ihre Hitzewallungen ausklingen, es ist beinahe menschlich. Sie kann nicht anders, funktioniert nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip, ist nicht regulierbar. Man muss sich wehren gegen die Wärme in den Räumen, die zuerst den Körper vereinnahmt und dann das Denken. Auch das macht es mir oft schwer, das Haus zu verlassen, dieser Gegensatz zur Eiseskälte vor der Haustür. Der Hausmeister ist benachrichtigt, sagte Gregor am Morgen, doch bei ihm wisse man nie, irgendwann in den nächsten Tagen würde er hoffentlich nach der Heizung sehen und ihr die Luft ablassen. Vielleicht bin ich zu Hause, wenn er kommt, dann frage ich ihn nach der Katze, ich habe ihn noch nie gesehen, aber manchmal, wenn ich das Haus betrete, bleibe ich kurz stehen und hoffe, Geräusche aus der Erdgeschosswohnung zu hören. Diese Katze, ich kann nicht aufhören, an sie zu denken. Schnell laufe ich auf Strümpfen zum Schachtfenster, getrieben von dem Gedanken, dass es in meiner Nähe eine zweite Welt innerhalb dieser großen Stadt gibt, eine Welt im Schacht, von der ich nichts weiß. Die Katze ist nicht da, der alte Kinderwagen steht in der Ecke wie ein Mahnmal.
Bis auf sein Bedauern darüber, dass ich am Abend zuvor nicht in die Mercury Lounge gekommen bin, bis auf seine überraschende Gutlaunigkeit, die er mir noch zurückließ, bevor er ging, war es auch diesmal das gleiche Ritual wie an jedem Morgen: Gregor steht leise auf, um mich nicht zu wecken, er duscht, kommt zurück und macht das Licht im Schlafzimmer an, um sich für den Tag zu rüsten. Mein Schlaf bleibt ungestört, solange Gregor unter der Dusche steht, und hat sich der Arithmetik des Ankleidens unterzuordnen, sobald er aus dem Bad kommt. Später höre ich ihn in der Küche auf und ab gehen, manchmal muss ich zur Toilette, dann sehe ich ihn auf dem Weg zum Bad im Mantel am Küchentisch stehen und seinen Apfel und ein Stück Käse essen. Er wirft das Fleisch für die Katze nur in den Schacht hinunter, wenn ich nicht im Raum bin. Seit zwei Tagen schlafe ich nicht mehr ein, sobald er das Bett verlassen hat. Seit zwei Tagen warte ich auf das Knirschen im Fensterrahmen wie auf das Klingeln eines Weckers.
Gregor hat mir in den Monaten zuvor von den Mühen mit der Wohnung erzählt, dem catch 22, für den Abschluss des Mietvertrags ein Konto bei einer Bank nachweisen zu müssen und für das Konto bei der Bank eine gültige Wohnadresse. Er hat mir beschrieben, wie grau die Trennwände des Cube sind, seines Arbeitsbereiches, und wie streng es untersagt ist, darin zu essen und zu trinken, aber er hat mir niemals von der Katze erzählt. Sie war in den letzten Monaten das erste Wesen, dem er morgens begegnete, davon gehe ich aus. Fühlt er sich manchmal einsam? Manches von zu Hause vermisst er. Seine Freunde, die alten Selbstverständlichkeiten wie das Autofahren oder sonntags stundenlang sorglos in einem Café sitzen. Manches von Deutschland vermisse ich, sagte er bereits nach vier Wochen am Telefon, und ich nahm zum ersten Mal wahr, wie entfernt seine Stimme klang. Aber nie sprachen wir über Einsamkeit. Wenn überhaupt, würde Gregor sie als theoretischen Begriff abhandeln. Einsamkeit gehört dazu, diesen abschließenden Satz habe ich schon einmal von ihm gehört, doch dabei ging es wahrscheinlich um mich.
An einem der vorangegangenen Abende sah ich ihn vom Bett aus vornübergebeugt an seinem Schreibtisch im Straßenzimmer sitzen, seine Unterschenkel über Kreuz, dicke Socken an den Füßen, eine Wollmütze auf dem Kopf gegen die leise Zugluft vom Fenster, sein leicht zur Seite geneigter Oberkörper als Scherenschnitt vor dem hellen Bildschirm. Manchmal, wenn ich einen Menschen sehe, wie er ganz bei sich ist, konzentriert auf das, was er gerade macht, nicht gewahr, dass er beobachtet wird, nimmt mich die Zartheit dieses Menschen völlig ein, erinnert mich an die Verletzlichkeit aller Menschen, an unser aller Anstrengung, das Leben so gut wie möglich zu meistern. Als ich Gregor dasitzen sah in seiner Abgewandtheit und der wunderbaren Empfindlichkeit, mit der er sich um sein Leben bemühte wie ein großes, ernsthaftes Kind und es mit niemandem teilen mochte, klangen in mir die Geschichten an, die er mir erzählt hatte, die Familiengeschichten, die Schulgeschichten, ich dachte an seine Haare, die so anders waren als meine, an seine tiefe Stimme, die ich so gerne hörte. Plötzlich der Gedanke: Ich betrachte ihn schon aus der Ferne, meine Rührung ist schon die Rührung des Abschieds, tritt sie nicht immer dann ein, wenn der andere nicht mehr nahe ist, wenn der Raum dazwischen der Zeit gleicht, über die hinweg man sich schon voneinander gelöst hat. Mir fielen die Augen zu, und ich träumte von ihm an seinem Schreibtisch, die abgewinkelten Unterarme rückten geheimnisvolle Dinge vor ihm zurecht, warfen Schatten auf den Holzboden, die fast bis zur Mitte des Raums reichten. Ich bildete mir ein, er ginge an mir vorüber, ich hörte die Wohnungstüre, schreckte von einem Geräusch hoch und sah, er saß nicht mehr am Schreibtisch, sondern auf dem Boden vor einem Karton mit CDs, die er sortierte. Jetzt hörte ich auch leise Musik, er lebt in seiner Wohnung, als gäbe es mich nicht, dachte ich gerade, da fiel ihm eine CD-Hülle aus der Hand, und das harte Geräusch des zerspringenden Plastiks ließ mich zornig auffahren.
Ich bin allein, auch er und ich sind voneinander getrennt wie alle Menschen, mit diesem Gedanken drehte ich mich wieder um und suchte nach meiner Wärme im Bett, wie immer war das Knistern der Kissenfüllung zu laut in meinem Ohr.
Manchmal ist mir, als könnte ich die Katze durch die Wände hindurch zwei Stockwerke unter mir auf dem Schachtboden sitzen sehen, mit blinzelnden Augen in ihrem schwarz-weißen Gesicht, die Vorderpfoten eng beieinander. Sie ist eine Gefangene, davon gehe ich aus. Vom Abend bis zum Morgen ist sie die Hauskatze, die ihrem Herrchen oder Frauchen um die Beine streicht, auf dem Sofa liegt oder auf dem Bett, über den Küchentisch hinunter zu ihrem Fressnapf springt, tagsüber jedoch wird sie ausgesetzt in den Schacht, wahrscheinlich zusammen mit dem Katzenklo, das vielleicht unter dem Kinderwagen steht.
Ich kannte einmal eine Katze, die sich mit dem neuen Liebhaber ihres Frauchens nicht abfinden konnte. Wenn er da war, urinierte sie in seine Schuhe, auf seine Tasche unter der Garderobe, wenn sie tagsüber allein war, benutzte sie das Sofa, die Kissen, das Bettzeug als Toilette. Sie war sechzehn Jahre alt und hatte sich immer tadellos gehalten, diesen Mann jedoch hasste sie aus tiefstem Katzenherzen. Vielleicht war er ein schlechter Mensch, und nur sie spürte es. Wahrscheinlicher jedoch schien es ihrer Besitzerin, dass sie von einer unheimlichen Eifersucht befallen war, vielleicht war es auch die Angst, kurz vor ihrem Tod durch eine neue Liebe ersetzt zu werden. Wegen ihres Alters und der großen Zuneigung, die Frau und Katze füreinander empfanden, war nicht daran zu denken, die Katze wegzugeben, ebenso absurd schien es, sich ihrem Willen zu beugen und sich von dem neuen Freund zu trennen. Es blieb ihrem Frauchen nichts anderes übrig, als sich mit der fortlaufenden Verwüstung ihrer Wohnung abzufinden, sich mit dem Geliebten hauptsächlich in seiner Wohnung zu treffen und morgens, bevor sie zur Arbeit ging, Sofa, Sessel und Bett mit Plastikbezügen abzudecken und die Teppiche zusammenzurollen. Ich weiß nicht, wie diese Geschichte ausging, Frauchen und ich verloren uns aus den Augen, aber ich stelle mir vor, dass es mit der Katze in der Parterrewohnung eine ähnliche Bewandtnis hat. Es gibt etwas, wovon sie ferngehalten wird. Und Gregor füttert sie jeden Morgen.
Wenn ich den Beginn unserer Beziehung beschreiben soll, fällt mir nichts anderes ein als, wir heilten uns gegenseitig, und doch weiß ich, gerade damit schicke ich die Undurchführbarkeit voraus. Jede Beziehung hat ein Thema, kein Gefühl nährt sich lange aus sich selbst heraus, es sucht nach einem Bezug. Unser Thema war die Einsamkeit.
Wir lernten uns an dem unfreundlichen Frühlingsabend meines dreißigsten Geburtstags kennen, ich gab ein Fest und lud ein, wen ich kannte. Kollegen aus der Agentur waren darunter, ehemalige Studienfreunde, wir alle hatten die ersten Jahre in unseren Jobs hinter uns, hatten viel zu erzählen und hatten uns auch noch nicht zu weit voneinander entfernt, um nicht jede Story in Gelächter enden zu lassen. Einige meiner Freunde kannten sich, die meisten nicht, und so wuchs das Beziehungsgeflecht vom ersten Türöffnen an wie ein Baum durch die Wohnung, der seine Äste in jedes Zimmer trieb, dessen Blätter im Wind zitterten, dessen Früchte unter Gelächter reiften und zu Boden fielen. Ich hatte Gregor noch nie zuvor gesehen, er kam spät, mit einer Flasche Wein in der Hand, als bereits Gin und Wodka ausgeschenkt wurden, schon den ganzen Abend war ich gespannt auf ihn, ein Kollege hatte mir von ihm erzählt, als einem alten Freund und dem schönsten Mann, den er kenne. Nie werde ich seinen Lockenkopf über seinem weißen Hemd vergessen, dessen lange Ärmel an den Handgelenken sorgsam geknöpft waren, eine erwachsene Erscheinung, die sich mit ruhiger Stimme unterhielt und selten lachte, während die anderen Männer mit T-Shirts, kurzen Hosen und Baseballkappen die lärmenden, überschwänglichen Alter Egos ihrer Kinderzeit darstellten. Seine aufspringenden Locken ließen ihn wie einen ungestümen Erfinder aussehen, das Gesicht darunter war blass und ernst. Auf dem Kopf ein Junge, im Gesicht ein besorgter Mann, dachte ich noch, Gegensätze haben mich schon immer angezogen. Seine Ernsthaftigkeit war keine Allüre, wie ich später feststellte, stets dachte er sorgfältig über das nach, was gesprochen wurde, er ließ sich nie durch Heiterkeit bestechen. Alle Gedanken müssen zu Ende gedacht, alle Sätze zu Ende gesprochen werden, sagte er einmal, da waren wir bereits ein Paar und setzten oft Tage später unvermittelt einen gemeinsam entwickelten Gedanken fort, sprachen einen begonnenen Satz zu Ende, ohne Auffrischung oder neuen Ansatz. Alles war in uns, alles, was uns anging. Es konnte jederzeit in Gang gesetzt werden, jede unserer Regungen wurde vom anderen aufgenommen.
In der Nacht der Party blieb er bei mir. Es war so selbstverständlich, als wären wir schon immer füreinander da gewesen. Vielleicht vollendeten wir da bereits einen Satz, einen Gedankengang, der vor langer Zeit schon angelegt, der noch nicht zu Ende gebracht worden war, der noch des Drehens und des Wendens, des Schweigens und eines neuen Ansatzes bedurfte, ehe wir uns mit einem Blick in die Augen des anderen vergewisserten, wir waren im Gleichklang. Bis spät in der Nacht, die meisten anderen Gäste waren schon gegangen, saßen wir uns in meinem Wohnzimmer gegenüber. Ich sah ihm zum ersten Mal in aller Ruhe ins Gesicht, es war von einer klassischen Schönheit mit weit auseinanderstehenden braunen Augen, hohen Wangenknochen, einer geraden Nase mit fein geschwungenen Nasenflügeln.
Es gibt diese magischen Momente, wenn die Nacht schon fortgeschritten, die Müdigkeit groß ist, in denen sich alles im Körper öffnet, in denen jedes Wort, jede Geste von einer solchen Einzigartigkeit und Gültigkeit ist, dass man sie nie vergisst. Wir sprachen über Fotografie, mit der ich mich damals beschäftigte, wir sprachen über das Wesen der Dinge, ich zitierte Walter Benjamin: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder dem Schatten eines Zweiges folgen …«
»… das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen«, ergänzte mich Gregor. Ich habe diesen Moment später niemandem nahebringen können, immer klang es kitschig, wenn ich die Sekunde beschreiben wollte, in der wir uns ineinander verliebten, und so habe ich ihn schließlich ganz allein für mich behalten.
Wir sprachen, wir hielten uns unvermittelt an den Händen und lösten uns wieder, es gab keine Eile, wir wussten, wir würden diese Nacht und alle folgenden Nächte und Tage miteinander verbringen. Die Musik drang nur noch leise zu uns herüber, die restlichen Partygäste hatten sich in der Küche versammelt, manchmal schien es, es redete niemand mehr, dann wieder erzählte eine sonore Stimme etwas, das mit Gelächter belohnt wurde. Alle Geräusche drangen mit größter Klarheit durch die geöffneten Türen zu uns, doch bald war es, als gäbe es nur noch Pausen und undeutliches Lachen, mit unseren Stimmen und Handbewegungen hatten wir einen Kokon um uns gewoben, den wir für die nächsten Jahre nicht verlassen sollten, nichts konnte uns von außen berühren. Wir fanden Vergnügen an der Welt des anderen, öffneten unsere verborgenen Türen, damit der andere sie betrete. Wir schwebten über den Dingen, schwammen unter ihnen hindurch, blieben stets im gleichen Tempo. Alle Worte waren lebendige Dinge, Fortsetzungen unser selbst, und in dem gedämpften Licht, das dem Raum eine gewisse Diesigkeit verlieh, erschienen mir unsere Köpfe, die jeden Gedanken des anderen aufnahmen und weiterspannen, tatsächlich von einer Aura umgeben. Von Anfang an waren wir einander vollkommen zugewandt und schlossen damit die anderen aus, schon nach der ersten Nacht bezogen wir uns nur auf uns selbst, bald zählten wir diejenigen auf, die wir nicht mehr brauchten, unsere Welt war komplett, sie war die reichste, die wir kannten. Wir stellten fest, wie ähnlich wir uns beide als Kinder gewesen waren, jeder hatte sich auf seine Weise seine Phantasiewelt eingerichtet, nun setzten wir sie gemeinsam fort, wir kultivierten unsere Einsamkeit, nur du kennst mich, wie ich dich kenne, sagten wir oft und merkten zu spät, wie brüchig diese Exklusivität war, dann, als es niemanden mehr gab, an den wir uns wenden konnten. Da war schon das Einerlei eingekehrt wie in so viele andere Beziehungen auch, wir waren nichts Besonderes mehr, und in der Welt um uns herum gab es niemanden, der davon Notiz nahm, wie verlassen wir uns fühlten. Doch daran dachten wir in dieser ersten Nacht nicht, zu verheißungsvoll war es, im anderen einen Menschen kennengelernt zu haben, der ein Spiegel des Eigenen war. Gregor mit seinem schönen Gesicht, seinen langsamen, fließenden Bewegungen saß damals vor mir wie ein Wesen, das ich immer schon kannte. Wir sehen aus wie Geschwister, nur seitenverkehrt, sagte er einmal, als wir nebeneinander vor dem Spiegel standen. Und tatsächlich: Alles, was an ihm kantig war, seine Stirn, seine Nase, seine Kiefer, seine Schultern, war rund an mir, doch die Grundlagen waren gleich, unsere blasse feine Haut, die dunklen Augen, selbst unsere Lippen waren einander in der Farbe ähnlich, zwei Münder, die gleich groß waren, meiner ein wenig runder als seiner. Ein Muttermal, bei mir auf der linken Wange, bei ihm auf der rechten Stirnseite, kurz oberhalb der Augenbraue. Nur mit unseren Haaren tauschten wir die Rollen, auch sie von gleicher Farbe, doch die Locken, die warmen, weiblichen Locken bis tief in den Nacken, die hatte er, während meine Haare kurz und glatt waren. Viel später einmal sah ich in seiner Wohnung eine kleine Schwarz-Weiß-Fotografie der Tutenchamun-Maske in einem dunkelbraunen Holzrahmen in der Küche hängen. Die Ähnlichkeit war frappierend, als hätte man zwei Bilder von uns übereinandergeschoben.
Ich stehe auf, klappe meine Mappe zu, ziehe den USB-Stick aus dem Rechner, ich brauche einen Tee, da setzt eine Polizeisirene ein. Gelbe Streiflichter flackern über die gegenüberliegende Fassade, eine Stimme spricht Unverständliches durch ein Megaphon, zu kurz für einen Satz, mein Herz klopft bis zum Hals. Von ferne, viele Straßen weiter, antwortet eine zweite Sirene. Männer und Frauen mit Walkie-Talkies laufen über die Straße, ein Polizeiauto steht vor Maria’s Deli, eine Kamera wird in eine Spur gesetzt. Die rechte Fahrbahn ist gesperrt. Ich ahne, hier wird eine Szene für eine Polizeiserie gedreht, das kommt öfter vor, schrieb mir Gregor schon wenige Tage nach seiner Ankunft.
Wieder fällt mir ein, wie wir unsere Urlaubsreise in dieser Stadt beendeten, fast ist es, als zählten die fünf Jahre zwischen damals und jetzt nicht mehr, als könnte ich von den Highways Arizonas direkt wieder herkommen, in die Stadt, wie wir sie damals erlebten. Fifth Avenue, die Museen, Central Park und abends in eine irische Kneipe, wir hatten nur diesen einen Tag, es war der letzte Tag vor unserem Rückflug, und doch hatte dieser Tag mehr Gewicht als die Rundreise davor. Als aneinandergereihte Polaroidfotos tauchen die Bilder vor mir auf, während ich das Teewasser aufsetze: Sonnenlicht, von polarisierten Irrlichtern durchzogen, Gregors lächelnder Mund, die Hügel und Felsen des Parks, im Vordergrund verschwommen meine Nase un...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. I
  4. II
  5. III
  6. IV
  7. V
  8. VI
  9. VII
  10. VIII
  11. IX
  12. X
  13. XI
  14. XII
  15. XIII
  16. XIV
  17. Impressum
  18. Über die Autorin