Das Badezimmer
eBook - ePub

Das Badezimmer

  1. 128 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." (Blaise Pascal)Ein junger Mann, der, merkwürdig genug, von sich sagt, "noch 27, bald 29 Jahre alt" zu sein, beschließt, künftig sein Leben in der Badewanne zu verbringen. Er will ein abs-traktes Leben führen, unabgelenkt sein, warum, das verrät er nicht. Er liest Bücher, geht eigenen Gedanken nach. Ein Ich in Isolation, das registriert, was um es herum passiert. Da ist Edmondsson, seine Frau, die in einer Kunstgalerie arbeitet; da gibt es zwei Polen, Kunstmaler eigentlich, die für billig Geld die Küche streichen sollen. Ein Freund der Familie schaut vorbei, die besorgte Mutter kommt ihn besuchen. Dann aber eines Tages, fast überstürzt und ohne Gepäck, verlässt er sein Badezimmer, verlässt Paris, nimmt einen Zug, der ihn nach Venedig in ein Hotelzimmer bringt, das er nur selten verlässt. Dort spielt er Dart. Und er ist auf der Suche nach einem Tennisplatz.Als Jean-Philippe Toussaint 1985 in Frankreich "Das Badezimmer" veröffentlichte, seinen inzwischen berühmten Traktat über Bewegung und Stillstand, über den Sinn menschlichen Handelns und den Tod, rüttelte das die damals eintönig gewordene französische Romanlandschaft auf. Da legte ein unbekannter junger Autor ein Buch vor, das so ganz anders war, ein karger, alles Unnötige verbannender, glasklarer Stil, eine kuriose Geschichte. Hier war unerwartet in der ernst-komischen Schnittstelle eines Sa-muel Beckett und Jacques Tati ein neuer großer Autor aus dem Nichts aufgetaucht."Nun sind wir eingesperrt. Wir müssen zu Hause bleiben. Keine Reisemöglichkeiten mehr. Was kann man tun, um nicht der Langeweile zu verfallen? Der Debütroman eines heute bekannten französischen Autors [erregte], als es 1985 erschien, sofort Aufsehen – ›Das Badezimmer‹ von Jean-Philippe Toussaint. Ein sehr aktuell gewordener Roman." Marc Sagnol in der Thüringischen Allgemeine"Das Ich in der Badewanne: eine Variante des Aussteigers; aber während andere das Abenteuer mit dem Wandersack auf dem Rücken oder in einer alternativen Szenerie suchen, heisst das Abenteuer hier immobilite." NZZ (1987)"Was Jean-Philippe Toussaint mit seinem kleinen Werk geleistet hat, zählt zum Bedeutendsten, was in den letzten dreißig Jahren zu uns aus Frankreich gekommen ist."DIE WELT"Dass dieser Traktat über Bewegung und Stillstand auch nach zwanzig Jahren noch lesenswert ist, liegt vor allen an der wunderbaren Sprachkunst und subtilen Ironie Toussaints. Das Badezimmer gilt heute bereits als ein moderner Klassiker. Und ist nun, dank der hervorragenden Neuübersetzung durch Joachim Unseld, endlich auch in Deutschland wieder zu lesen." SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK"Um Toussaint einzuordnen, müsste man ihn irgendwo neben Kafka und Beckett stellen, eine Brücke zwischen Mondrian und Pascal." LE MONDE

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Das Badezimmer von Jean-Philippe Toussaint, Joachim Unseld im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literature & Literature General. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

DIE HYPOTENUSE

1) Ich war überstürzt aufgebrochen, ohne jemandem vorher Bescheid zu sagen. Ich hatte nichts mitgenommen. Ich trug einen dunklen Anzug und einen blauen Mantel. Ich ging die Straße entlang: Bäume, Gehweg, ein paar Passanten. Als ich zum Platz kam, sah ich den Autobus. Ich beschleunigte meinen Schritt, überquerte rennend die Avenue und stieg hinter den anderen Fahrgästen ein. Der Autobus fuhr los. Ich setzte mich ganz nach hinten auf die gerundete Rückbank. Die Scheiben waren mit Regen bedeckt. Zwei Personen saßen mir gegenüber, eine Dame, ein Mann, der Zeitung las. Die Schuhe meines Gegenübers waren durchnässt, um die Sohlen herum bildete sich eine kleine Pfütze. Wir fuhren über die Seine, überquerten sie noch einmal in Höhe des Pont d’Austerlitz. Bei jedem Halt beobachtete ich die Leute, die zustiegen, musterte ihre Gesichter. Ich fürchtete, jemandem zu begegnen. Manchmal erschreckte ich bei einem flüchtig wahrgenommenen Profil und senkte schnell den Kopf, weil ich jemanden erkannt zu haben glaubte, doch wenn die Person dann vor mir stand, stellte sich beim Anblick des unbekannten Gesichts Erleichterung ein, und wohlgefällig verfolgte ich sie mit den Augen, bis sie sich hingesetzt hatte. An der Endstation stieg ich aus und ging in Richtung Bahnhof. Ich schlenderte einen Moment ziellos in der Bahnhofshalle herum. Dann kaufte ich eine Fahrkarte, versuchte einen Platz im Liegewagen zu bekommen, aber dafür war es zu spät: Der Zug sollte in Kürze abfahren.
2) Am darauffolgenden Morgen erreichte der Zug sein Ziel. Ich trat auf den Bahnsteig, lief, die Hände in den Taschen meines eleganten Mantels, durch den Bahnhof. Neben einer großen Schaufensterfront befand sich, etwas nach hinten versetzt, das Fremdenverkehrsbüro. Ich betrachtete die Fotos, die Plakate. Hinter dem Schalter telefonierte ein Fräulein, machte mit der rechten Hand Notizen. Als sie aufgelegt hatte ging ich hinein und bat sie, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie Französisch sprach, mir ein Hotelzimmer zu reservieren. Single oder matrimoniale?, fragte sie mich. Ich betrachtete sie argwöhnisch. Nein, sie sprach kein Französisch. Es ist für mich, rief ich und machte weitausholende Gesten, die mich von oben bis unten bezeichneten.
3) Ich schaute mir das Hotelzimmer an. Auf dem Bett lag eine rostbraune Daunendecke. Ein Waschbecken ragte aus der Wand, darunter befand sich ein Plastikbidet. Ein runder Tisch und drei Stühle waren auf wunderliche Weise in die Mitte des Raums gestellt. Das Fenster war groß, es gab einen Balkon. Ohne den Mantel auszuziehen, ließ ich Wasser in das Waschbecken einlaufen, schälte eine winzige Seife aus ihrer Verpackung und wusch mir die Hände. Den Kopf zur Seite geneigt, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel, beugte mich etwas vor, um meinen Hals besser sehen zu können, der übersät war mit vereinzelten, schwarzen Stoppeln. Das Wasser lief immer noch ins Becken. Und jetzt auch über meinen Schal.
4) Die Nacht hatte ich in einem Zugabteil verbracht, allein, das Licht gelöscht. Reglos. Offen für die Bewegung, nur für die Bewegung, die äußere, offensichtliche Bewegung, die mich trotz meiner eigenen Reglosigkeit von einem Ort zum anderen beförderte, aber offen auch für die Bewegung im Inneren meines Körpers, der sich zerstörte, eine nicht wahrnehmbare Bewegung, der ich meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen begann und die ich mit allen Kräften festhalten wollte. Aber wie sollte ich sie erfassen? Wo sie feststellen? Die einfachsten Gesten lenkten die Aufmerksamkeit ab. Ich hielt einem italienischen Zöllner meinen Pass hin.
5) Ich verließ das Hotel, nachdem ich meinen Schal zum Trocknen auf die Heizung gelegt hatte. Auf der Straße rieb ich meine Zunge gegen die Zähne und den Gaumen. Ich hatte einen Geschmack nach Zug im Mund und klamme Kleider. Ich klopfte mir den Staub von den Ärmeln, im Gehen schüttelte ich meinen Mantel aus. Die engen Straßen bestimmten die Richtung, ohne zu überlegen ging ich immer geradeaus, überquerte Brücken. Ich fand eine Bank, in der ich Geld wechseln konnte. Ich schaffte mir ein billiges Transistorradio an. Ich trank auf die Schnelle einen Kaffee, verlangte nach Zigaretten. Im Kaufhaus Standa kaufte ich mir einen Schlafanzug, zwei Paar Socken, eine Unterhose. Bepackt mit Einkaufstüten machte ich einen letzten Halt in einer Apotheke. Die Eingangstür knarrte. Der Apotheker verstand nicht recht, worauf ich hinauswollte. Ich musste meine Pakete auf den Ladentisch legen, um ihm Zahnbürste, Rasierer und Rasierschaum zu mimen.
6) Zurück im Hotel erwischte ich die falsche Etage. Ich irrte über Flure und Treppen. Das Hotel war wie ausgestorben; es war ein Labyrinth, nirgends hing ein Hinweisschild. Hinter einem Treppenabsatz mit Korktäfelung, den ein paar Grünpflanzen schmückten, fand ich schließlich den Flur, der zu meinem Zimmer führte. Ich leerte die Einkäufe auf den Tisch, zog meinen Mantel aus. Ich ließ mich aufs Bett fallen. Dort, auf der Seite liegend, verbrachte ich den Rest des Vormittags, beim vergeblichen Versuch, einen Sender in meinem Transistorradio zu finden. Ich drehte an allen Knöpfen herum, wechselte zu UKW, kehrte wieder zur Langwelle zurück. Der Apparat gab nur ein Rauschen von sich. Ich schüttelte ihn, bog die Antenne hin und her.
7) Zum Mittagessen ging ich nicht hinunter.
8) Das Badezimmer befand sich eine Etage tiefer. Um dorthin zu gelangen, musste man einen langen Flur hinter sich bringen, eine Wendeltreppe hinuntersteigen, dann auf dem Treppenabsatz die erste Tür links nehmen. Das Zimmermädchen hatte mir schon am Morgen den Weg erklärt. In Kleidern stellte das kein Problem dar. Aber ich war in Unterhose unterwegs, mit einem Handtuch und den Toilettensachen drückte ich mich an die Wand der Treppe und wartete gespannt, dass ein Pärchen sich entschied, entweder sein Zimmer zu verlassen oder es zu betreten. Aus irgendeinem Grund, der mir verborgen blieb, schienen die beiden sich nicht entscheiden zu können. Ich hörte, wie sie sich auf dem Treppenabsatz, vermutlich vor ihrem Zimmer – auf Französisch – über Tizian und Veronese unterhielten. Der Mann redete von wahrhaftem Gefühl und reiner Empfindung. Er sprach davon, wie sehr er von den Gemälden Veroneses berührt gewesen sei, aufrichtig berührt, und das, sagte er, ohne sich auf dem Gebiet der Malerei nun besonders auszukennen (das müssen Franzosen sein, sagte ich mir). An die Wand gepresst und immer ungeduldiger lauschte ich angestrengt nach oben, aus Angst, hier im Treppenhaus in der Unterhose erwischt zu werden, ohne mich zu rühren. Als aber über mir plötzlich Schritte zu hören waren, beschloss ich, meinen Weg fortzusetzen, auch wenn ich dabei den Blicken des Pärchens unten auf dem Treppenabsatz trotzen musste. Eilig nahm ich die letzten Stufen, die mich von ihnen trennten, hielt kurz inne, um mein Handtuch so gut als möglich um die Hüfte zu binden, und bog um die Ecke, mit dem gleichgültigsten Gesicht der Welt. Ich stand in der Hotelbar. Es waren fast keine Leute da. Ein Pärchen, das auf einem Sofa saß, drehte sich nach mir um, betrachtete mich prüfend. Der Barmann hob nicht einmal den Blick.
9) Die Wände des Badezimmers waren hellgrün gestrichen, an einigen Stellen wellte sich die Farbe. Ich hatte die Tür abgeschlossen, die Unterhose ausgezogen und sie über den Türknauf gehängt. Ich duschte in der Badewanne, trocknete mich ab, erreichte fröstelnd wieder mein Zimmer, das Handtuch über meinen Schultern. Die neue Unterwäsche lag auf dem Tisch. Mit den Zähnen trennte ich die durch einen Faden verbundenen Socken. Die Wolle war weich, sie roch gut. Ich zog die frischen Socken an, die neue Unterhose. Ich fühlte mich wohl. So trödelte ich ein wenig im Zimmer herum; ich zog am Gummi meines Slips, las die mit Reißzwecken an die Tür gehefteten Notizen, die Sicherheitshinweise, die Preise für Zimmer und Frühstück. Zurück am Tisch schlüpfte ich in meine Hose und zog mein altes Hemd über, das nach Achselschweiß stank.
10) Der Nachmittag wollte nicht enden, wie immer im Ausland, wo sich die Stunden des ersten Tages schleppend hinziehen, länger zu sein scheinen, langsamer, endlos. Auf meinem Bett ausgestreckt betrachtete ich den grauen Tag, der durch mein Fenster drang. Im Zimmer wurde es allmählich dunkler. Die Umrisse der Möbel verwischten sich, wurden vom einsetzenden Halbdunkel verschluckt. Mein Transistorradio hatte irgendeinen Sender gefunden, der ununterbrochen Rock ’n’ Roll brachte. Ich hörte in voller Lautstärke, und mein Fuß mit der Socke wippte auf der Daunendecke fast unmerklich im Rhythmus mit.
11) Zum Abendessen ging ich hinunter. Der Speisesaal war ein eher kleiner Raum. Die schweren Vorhänge aus bordeauxrotem Samt waren zugezogen und verstärkten den Eindruck des Privaten, Engen. Die elegant gedeckten Tische waren in der Mehrzahl frei. Eine alleinstehende Frau, etwas älter, saß in einem Winkel. Durch eine Tür sah man in den Aufenthaltsraum des Hotels, in dem ein Fernsehbildschirm flimmerte. Der Ton des Geräts musste abgeschaltet sein, von drüben war kein Geräusch zu hören. Auch im Speisesaal herrschte übrigens völlige Stille, noch betont durch das gelegentliche metallische Klappern des Bestecks der alten Dame, die in meinem Rücken aß. Nach dem Essen ging ich hinüber in den Aufenthaltsraum und setzte mich vor den Fernseher, in dem stumme, unverständliche Bilder von Katastrophen vorbeizogen.
12) Ohne Ton ist das Bild nicht in der Lage, das Entsetzen auszudrücken. Hätte man die letzten Sekunden des Lebens der neunzig Milliarden Menschen, die seit Entstehung der Erde gestorben sind, filmen und in einem Kino hintereinander zeigen können, wäre das Schauspiel meines Erachtens schnell langweilig geworden. Hätte man dagegen die letzten fünf Sekunden ihres Lebens, die letzten Geräusche ihrer Leiden, alle ihre Atemzüge, ihr Röcheln, ihre Schreie aufzeichnen, dann auf einen einzigen Tonträger mischen und in voller Lautstärke dem Publikum vorspielen können, in einem Konzertsaal oder in der Oper … Ein aus der Vogelperspektive gefilmtes Fußballstadion unterbrach meinen Gedankengang, zwei Mannschaften wärmten sich auf dem Spielfeld auf. Ich sprang von meinem Sitz hoch, hockte mich vor den Apparat und versuchte, den Ton zu bekommen.
13) Inter Mailand traf im Achtelfinale des Europapokal der Pokalsieger auf die Glasgow Rangers. Die Begegnung fand in Schottland statt. Um sich ihre Chancen für das Rückspiel zu wahren, machten die Italiener hinten dicht und igelten sich in ihrer Verteidigung ein. Das Spiel blieb trostlos. Es gab immerhin ein paar schöne Aktionen, die mich versöhnten; manchmal beugte ich mich abrupt vor, eine Hand am Boden, um näher am Bildschirm zu sein. In der fünfundzwanzigsten Minute der zweiten Halbzeit kam der Barmann herüber, um mir vor dem Fernseher Gesellschaft zu leisten. Bevor er sich setzte, richtete er mechanisch die Antenne aus, regelte den Kontrast. Die letzte Viertelstunde des Spiels war ein wenig lebhafter. Die Schotten schlugen nun weite Pässe in den Raum und schossen aufs Tor, wann immer sich eine Gelegenheit bot, sie setzten alles dran, in den letzten Spielminuten ein Tor zu erzielen. Als ein Schuss aus dreißig Metern an die Latte krachte, hielt ich den Atem an und wechselte einen vielsagenden Blick mit dem Barmann. Ich zündete mir eine Zigarette an und drehte mich um, weil ich jemanden in meinem Rücken spürte. Hinter uns, in der Tür, lehnte der Empfangschef.
14) Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und verbrachte einen ruhigen Tag.
15) Ich lernte das Hotel immer besser kennen, ich verirrte mich nicht mehr in den Gängen. Die Mahlzeiten wurden in regelmäßigen Abständen serviert, das Frühstück nahm ich in aller Herrgottsfrühe ein, im Allgemeinen war ich allein im Speisesaal. Auch beim Abendessen blieb ich allein, kurz vor zwanzig Uhr. Wir waren nicht mehr als fünf Gäste im Hotel. Gelegentlich begegnete ich dem französischen Pärchen auf der Treppe. Eines Morgens bei Tagesanbruch sah ich sie zu meiner Überraschung sogar den Speisesaal betreten. Sie durchquerten ohne mich zu grüßen den Raum, warfen mir im Vorbeigehen einen gleichgültigen Blick zu. Obwohl es so früh war, begannen sie, kaum dass sie saßen, mit ihrer Konversation (es mussten echte Pariser sein). Sie redeten über die schönen Künste, über Ästhetik. Ihre Überlegungen, völlig abstrakt, erschienen mir von einer höheren Richtigkeit. In ausgewählten Wendungen stellte der Mann seine umfassende Gelehrsamkeit unter Beweis, auch seinen Zynismus. Sie wiederum beschränkte sich, während sie sich ein Butterbrot schmierte, auf Kant. Die Frage des Erhabenen, so schien mir, trennte sie nur vordergründig.
16) Jeden Tag kam das Zimmermädchen am Ende des Vormittags, um mein Zimmer zu richten. Ich überließ ihr die Örtlichkeiten, nahm meinen Mantel und zog mich ins Erdgeschoss zurück. Dort in der Halle drehte ich, die Hände in den Taschen, meine Runde, bis ich sie, in Himmelblau mit Eimer und Besen, oben an der Treppe wieder auftauchen sah. Ich ging dann wieder hinauf auf mein Zimmer und fand ein gemachtes Bett, die Toilettenartikel auf der Ablage des Waschbeckens perfekt geordnet.
17) Wenn ich das Hotel verließ, entfernte ich mich selten weit davon. Ich blieb in den benachbarten Straßen. Einmal jedoch musste ich nochmals zu Standa: Ich brauchte Hemden, meine neuen Boxershorts begannen schmutzig zu werden. Das Kaufhaus war hell erleuchtet. Ich schritt langsam durch die Gänge, wie einer von der Gewerbeaufsicht, streichelte hier und da über den Kopf eines Kindes. In der Kleiderabteilung blieb ich stehen, suchte Hemden aus, betastete die Wolle der Pullover. In der Spielzeugabteilung kaufte ich ein Spiel mit Wurfpfeilen.
18) Wieder zurück in meinem Zimmer leerte ich die Einkaufstüte, riss die Plastikverpackung des Spiels auf. Eine Scheibe von äußerster Schlichtheit, mit konzentrischen Kreisen, und dazu sechs Pfeile, deren abgerundetes Ende mit Federn besetzt war. Ich befestigte die Zielscheibe an einer der beiden Flügeltüren des Schranks, trat dann zurück, um Abstand zu haben, und betrachtete sie mit Befriedigung.
19) Beim Wurfspiel war ich äußerst konzentriert. Bewegungslos gegen die Wand gelehnt, rollte ich einen Pfeil zwischen meinen Fingern. Mein ganzer Körper war angespannt, meine Augen angestrengt. Ich fixierte den Mittelpunkt der Scheibe mit absoluter Entschlossenheit, leerte meinen Kopf – und warf.
20) Die Nachmittage verliefen friedlich. Wenn ich ein Mittagsschläfchen hielt, wachte ich schlechtgelaunt, mit taubem Kiefer auf. Meinen Mantel zuknöpfend ging ich zur Bar, die um diese Zeit ausgesprochen leer war. Sobald der Barmann mich kommen sah, hievte er sich aus seinem Sessel und schlurfte vor mir zum Tresen. Ohne dass ich etwas sagen musste, drehte er schweigend den Filter in die Kaffeemaschine und stellte eine Untertasse vor mich hin. Nachdem er mich bedient hatte, schob er die Zuckerdose neben meine Tasse, wischte sich die Hände ab, griff sich wieder die Zeitung und ging zu seinem Sessel zurück.
21) Fast jeden Tag kaufte ich mir eine Zeitung. Ich betrachtete die Fotos, las den Wetterbericht, der sehr übersichtlich aus einem Schaubild der Wolkenbewegungen und einer tabellarischen Aufstellung der Höchst- und Tiefsttemperaturen bestand, der vergangenen und der zu erwartenden, für den jetzigen und den folgenden Tag. Ich überflog auch die Seiten mit der Außenpolitik, studierte Sportergebnisse und den Veranstaltungskalender.
22) Mit der Zeit begann ich mich mit dem Barmann anzufreunden. Wann immer wir uns im Treppenhaus begegneten, tauschten wir ein Kopfnicken aus. Es kam auch vor, dass wir uns, wenn ich am späten Nachmittag meinen Kaffee trank, unterhielten. Wir sprachen über Fußball oder über Autorennen. Dass uns eine gemeinsame Sprache fehlte, entmutigte uns nicht. Was zum Beispiel Radsport betrifft, waren wir nicht zu bremsen. Moser, sagte er. Merckx, gab ich nach kurzer Pause zurück. Coppi, sagte er, Fausto Coppi. Ic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Titel
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Motto
  6. Paris
  7. Die Hypothenuse
  8. Paris
  9. »Die Seelenruhe meines abstrakten Lebens.« Nachwort von Joachim Unseld
  10. Impressum
  11. Über den Autor