Teil III
Im freien Fall
Oshawa – One-Way-Ticket nach Hause
»Komm nach Hause, Anna.«
Ich hatte meine Mutter aus dem Tiefschlaf geweckt und ihr einen riesen Schrecken eingejagt. Als ihr klar wurde, was vorgefallen war, versuchte sie, mich zu beruhigen. »Jetzt leg dich noch ein bisschen hin und nachher buchst du einen Flug für dich und den Jungen. Wenn du hier bist, sehen wir gemeinsam, was sich machen lässt. Es gibt immer eine Lösung, Kind.« Auch wenn ich ihr nicht glaubte, hatte ihre Stimme eine beruhigende Wirkung auf mich.
Ich wollte weg von diesem grauenhaften Haus mitten im Nirgendwo, weg von der Familie meines Mannes, die mich nie akzeptiert hatte, und vor allem wollte ich weg von Paul.
Das erste Morgenlicht brach sich in den schweren Vorhängen, als es an der Tür klingelte. Mats schlief noch. Meine Armbanduhr zeigte sieben Uhr früh – wer mochte das sein?
Ich zog die Gardinen beiseite und sah David, einen Becher French Vanilla in der Hand.
»Darf ich kurz reinkommen?«, fragte er, als ich ihm öffnete.
»Bitte.« Ich trat einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen, und er ging an mir vorbei ins Wohnzimmer.
Wir setzten uns auf die Ledercouch. Mein Schwiegervater hielt die Hände im Schoß verschränkt, den Blick gesenkt. Nach einer Weile sah er auf. Tränen schimmerten in seinen Augen. »Es tut mir so leid, Anna!«
»Danke«, war alles, was ich herausbrachte.
»Ich dachte, der Junge hätte sich endlich gefangen. Paul hat uns immer Probleme gemacht. Ich habe gehofft, bei dir hätte er endlich Halt gefunden.«
Es war das erste Mal, dass David so über seinen Sohn sprach. Ich glaubte, Frustration aus seinen Worten zu hören, und noch etwas anderes: nackte Wut. In seiner Empörung gab David an diesem Morgen Details aus Pauls Leben preis, von denen ich nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte und die nicht zu dem Bild passen wollten, das ich mir von der Vergangenheit meines Mannes gemacht hatte.
Bis heute weiß ich nicht, was ich von den schockierenden Eröffnungen meines Schwiegervaters halten soll. Aber ich weiß, dass sie mich in meinem Entschluss nur noch bestärkt haben: Ich wollte die Scheidung.
»Es ist zu spät«, erklärte ich, ohne genau zu wissen, worauf ich eigentlich anspielte. Vielleicht war es sogar zum Reden zu spät.
Bevor mein Schwiegervater ging, versprach er, nachmittags mit Theresa wiederzukommen.
Wenig später rief Mats nach mir. Seine Stimme klang wie immer: morgenmüde, aber auch hell und neugierig – er konnte es kaum erwarten, in den Tag zu starten. Seine Unbekümmertheit versetzte mir einen Stich. Mats sollte nicht spüren, dass unser Leben heute Nacht kollabiert war. Schnell wusch ich mir die Tränen aus dem Gesicht, bevor ich ihm einen Gutenmorgenkuss gab. Bei der Berührung seiner kleinen Stirn ging mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich in den nächsten Tagen und Wochen nicht mehr loslassen würde und der nichts mit meiner Wut zu tun hatte: Mein kleiner Sohn muss ohne Vater aufwachsen. Paul und ich waren gescheitert und Mats musste etwas entbehren, das so wichtig war wie die Luft zum Atmen. Die tägliche Nähe seines Vaters. Obwohl der Gedanke an Paul blanken Hass in mir auslöste – ein verzehrendes Gefühl, das ich bis dahin nicht gekannt hatte –, gab ich Mats ein stummes Versprechen. Ich würde dafür sorgen, dass er sich nie wie ein Halbwaise fühlte. Er würde seinen Vater so oft wie möglich sehen und ich würde meinen Zorn vor ihm verbergen wie eine hässliche Krankheit. Er sollte nicht vorzeitig mit der Erwachsenenwelt in Berührung kommen, einer Welt voller Lügen und zerbrochener Träume.
Am Nachmittag kamen, wie von David angekündigt, meine Schwiegereltern vorbei. Es war das zweite Mal, dass ich Theresa weinen sah. Auch David wirkte völlig aufgelöst. Während sie sich um Mats kümmerten, packte ich unsere Sachen. Jedes Kleidungsstück, das ich aus dem Schrank nahm, verschaffte mir Erleichterung, nahm Druck von mir. Ich musste fort von hier, nur fort.
Gegen fünf rief Paul an. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich wieder nach Oshawa käme?«, fragte er vorsichtig.
»Tu, was du willst«, gab ich grob zurück. »Das hier ist dein Haus. Mats und ich waren und sind hier nur Gäste.«
Wenige Stunden später saßen wir nebeneinander vor Pauls Computer. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, aber er bat um Aufschub.
»Tanya feiert am Samstag ihren Geburtstag«, erklärte er. »Da könntet ihr alle noch einmal sehen und euch in Ruhe verabschieden. Bitte, Anna.«
Die Vorstellung, unsere Trennung gewissermaßen mit einem Familienfest zu besiegeln, erschien mir absurd. »Findest du das nicht etwas unpassend?«, wandte ich mich an Paul.
Pauls Blick hatte etwas Flehentliches. »Tu mir diesen Gefallen, bitte, nur noch diesen einen«, bat er.
Ich zuckte mit den Schultern. Auf die paar Tage kam es jetzt auch nicht mehr an. »Okay. Wir fliegen am Sonntag.«
Die Flüge waren teuer und ich schlug Paul vor, pro forma einen Rückflug zu buchen, um Geld zu sparen. »Aber ihr kommt doch nicht wieder?«, brachte mein Mann heraus.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, wir kommen nicht wieder. Es wäre ja nur pro forma, wie gesagt.«
»Und wenn sie meine Kreditkarte mit dem One-Way-Ticket-Preis belasten, sobald sie merken, dass ihr den Rückflug nicht angetreten hast?«, fragte Paul beunruhigt.
»Unsinn.« Ich seufzte. »Glaub einer gelernten Reiseverkehrskauffrau: Das wird nicht passieren.«
Mehr oder weniger überzeugt klickte Paul schließlich nach dem Zufallsprinzip ein Rückflugdatum im November an. Die Situation war irgendwie vertraut, wenn auch auf für mich unangenehme Art, und vielleicht war es dieses trügerische Gefühl, das Paul zu einer überraschenden Feststellung verleitete.
Er sah mich von der Seite an. »Eigentlich ist das Ganze ja noch recht glimpflich ausgegangen.«
Ich hob die Augenbrauen. »Was meinst du?«
»Na ja – mit einer Ohrfeige hatte ich schon gerechnet.«
Mir fehlten die Worte. Ich war im Begriff, Paul mit unserem gemeinsamen Sohn zu verlassen, und er war erleichtert, weil er sich keine Ohrfeige eingefangen hatte?
Mein Mann war ein Fremder. Wir verstanden einander nicht mehr. Mein altes Leben war so plötzlich zu Ende, wie ein Herz aufhört zu schlagen. Man konnte nichts mehr tun.
In diesen Tagen hörte ich auf zu essen. Ich schlief auch nicht mehr. Ich kümmerte mich nur noch um meinen Sohn.
Ich weiß noch, dass Theresa mir ein Bild von sich und David brachte, ein Porträtfoto in einem schweren, verzierten Rahmen. »Das ist für Mats«, sagte sie. »Würdest du es in sein Kinderzimmer stellen?«
Ich nickte. »Sicher.«
»Damit er uns nicht vergisst.«
Obwohl ich meine Schwiegermutter nicht vermissen würde, tat sie mir leid. Was hier geschah, war nicht richtig. Es war einfach nicht natürlich, dass Väter von ihren Söhnen getrennt wurden und Großmütter von ihren Enkeln – aber mir blieb keine Wahl. »Besucht uns, sooft ihr wollt«, sagte ich sanft. »Mats wird euch nicht vergessen.«
Am Samstagmittag kamen wir gegen eins in Cobourg bei Pauls Eltern an. Nachdem ich Tanya zum Geburtstag gratuliert hatte, ging ich hinaus auf die Veranda. Es war eine traurige Party. Ich schaute zum Hafen hinüber und sog die salzige Luft der See in meine Lungen, als David mit zwei Gläsern in der Hand zu mir trat. »Ich dachte, du könntest jetzt einen Schluck vertragen.«
Ich nickte und nahm den Rotwein dankbar an.
»Ich hab heute Nacht kaum geschlafen«, sagte er unvermittelt. »Es ist, als wäre ein lieber Mensch gestorben.«
Ich sah zu Boden.
»Ich werde meinen einzigen Enkel nicht aufwachsen sehen. Das ist schlimm für mich. Aber ihr seid ja nicht aus der Welt, nicht wahr?«
Froh über seine verständnisvollen Worte schüttelte ich den Kopf.
»Hör zu, Anna.« David legte seine Hand auf meinen Arm. »Ich will offen zu dir sein. Theresa hat mich auch betrogen, als die Kinder noch klein waren. Aber ich hab das durchgestanden.«
Überrascht blickte ich auf. Theresa hatte David betrogen? Und jetzt wollte David, dass ich Pauls Fehltritt genauso hinnahm wie er damals den seiner Frau? Was sollte ich darauf antworten? »Hm«, machte ich zögernd. »Ich finde es nicht richtig, wegen der Kinder zusammenzubleiben. Mats würde spüren, dass etwas nicht stimmt.«
David seufzte. Aber in seinen Augen las ich, dass er mich verstand.
An diesem Abend sah ich Tanya zum ersten Mal weinen. Pauls Familie war betroffen. Jeder von ihnen war sich bewusst, was unsere Trennung bedeutete. In meiner Gutgläubigkeit fühlte ich mich ihnen verbunden.
Zurück in Oshawa schloss ich die Koffer. Ich würde diesen Ort mit hundert Kilo Gepäck verlassen – und mit einer Traurigkeit, die noch viel schwerer wog.
Zwei Stunden bevor wir am Sonntag loswollten, schrillte das Telefon. Paul nahm ab. Sein Tonfall v...