Kapitel 1
Lehrjahre (1900–1927)
Sein Berufswunsch war Arno Breker gleichsam in die Wiege gelegt worden. Denn er wurde als ältester Sohn des Steinmetz-Meisters und Grabmalkünstlers Arnold Breker geboren. Das Geräusch von Meißelschlägen auf Stein zählte zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen.
Arno Breker kam am 19. Juli 1900 in Elberfeld zur Welt. Ebenfalls auf den Namen Arnold getauft, scheint er von klein auf »Arno« gerufen worden zu sein. Als Künstler trat er später nur sehr kurze Zeit als »Arnold Breker« in Erscheinung und nannte sich von 1928 an nur noch Arno Breker. Sein Vater Arnold, ein gebürtiger Elberfelder, war zum Zeitpunkt seiner Geburt sechsundzwanzig Jahre alt, seine Mutter Luise Dorothea, eine geborene Gley und ebenfalls eine Tochter der Stadt, war rund ein halbes Jahr jünger. Das kleine, im Tal der Wupper gelegene Städtchen am Nordrand des Bergischen Landes ging erst 1929 im Zuge der vom Preußischen Landtag beschlossenen kommunalen Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets in der Stadt Barmen-Elberfeld auf, die ein Jahr später in Wuppertal umgetauft wurde.
Der Landstrich, in dem Breker aufwuchs, war bereits seit Jahrhunderten durch die florierende Textilindustrie geprägt. Garnbleichereien im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Textilfärbereien seit dem 18. Jahrhundert sowie Garn- und Tuchmanufakturen im 19. Jahrhundert trugen erheblich zum Wachstum dieser Region bei. In der Zeit unmittelbar vor Brekers Geburt erfuhr die Region durch eine geradezu explosionsartige Industrialisierung einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Zahlreiche neue Industriezweige hatten sich angesiedelt: Teppich- und Trikotagenfabriken, außerdem Gummi- und Kabelwerke. Wirtschaftsbeziehungen in alle Welt waren geknüpft worden. Der Export von Gütern in die Vereinigten Staaten hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Samt und Seide aus Elberfeld waren allerorten gefragt, die Gewinnspannen teils beträchtlich. Die Städte im Wuppertaler Gebiet waren zur Zeit von Brekers Geburt längst zu einem großen Ballungsraum zusammengewachsen, der vierhunderttausend Menschen eine Heimstatt bot. Allein in Elberfeld lebten laut einer 1900 durchgeführten Volkszählung rund einhundertfünfzigtausend Menschen.
Der wirtschaftliche Erfolg, auf den die Bürger der Region zu Recht stolz waren, sollte auch nach außen hin demonstriert werden. In Brekers Geburtsstadt Elberfeld war gerade ein neues monumentales Rathaus im neogotischen Stil erbaut worden, das im Oktober 1900 unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit eingeweiht wurde. Selbst Kaiser Wilhelm II. und seine Gattin Auguste Viktoria ließen es sich im Oktober 1900 nicht nehmen, zu diesem Anlass eigens an die Wupper zu reisen. Der Kaiser nutzte die Gelegenheit, gleich auch eine Probefahrt mit der im Bau befindlichen Wuppertaler Schwebebahn zu unternehmen. Ein Jahr später wurde die legendäre Schwebebahnstrecke regulär in Betrieb genommen und ebenso wie der bereits 1889 eingeweihte Eiffelturm in Paris als Symbol des neuen Jahrhunderts der Technik und des Fortschritts gefeiert.
Das kleinbürgerliche Milieu, in dem Breker kurz nach der Jahrhundertwende aufwuchs, hatte durchaus seinen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung der Region. Während Brekers Großväter beide noch in Angestelltenverhältnissen standen – Arnolds Vater Johann Hermann Breker, der bereits ein Jahr vor Arnos Geburt starb, war einfacher Fabrikarbeiter, Luises Vater Adolf Ernst Julius Gley, der aus Detmold am Fuße des Teutoburger Waldes stammte, arbeitete als Gärtner –, war es Arnold Breker gelungen, sich nach seiner Ausbildung und der Erlangung des Meisterbriefes 1904, vier Jahre nach Arnos Geburt, mit einem Steinmetzbetrieb selbständig zu machen. Mit der Gründung des Ateliers für Grabmalkunst, Architektur und Plastik – Arnold Breker, Elberfeld hatte er erreicht, sein eigener Herr zu sein und zudem mit seinem weitgehend konjunkturunabhängigen Betrieb finanziell wesentlich besser dazustehen als sein früh verstorbener Vater und sein Schwiegervater. Sein kleiner, auf die Herstellung von Grabmalen spezialisierter Betrieb in der Hochstraße 10 –12, Ecke Wiesenstraße, unmittelbar am evangelisch-reformierten Friedhof in Elberfelds Nordstadt gelegen, ernährte die junge Familie, und so blieb der erstgeborene Sohn Arno auch nicht der einzige Spross der im Oktober 1899 geschlossenen Ehe. Neben drei Schwestern wurde am 6. November 1906 Arnos jüngerer Bruder Hans geboren, der ebenfalls den Beruf des Bildhauers ergreifen sollte.
Über die familiären Verhältnisse der Brekers in dieser Zeit ist wenig bis nichts bekannt, denn Arno Breker schwieg sich über seine frühen Jahre stets weitgehend aus. Rückblickend konstatierte er lediglich: »Ich komme aus einer äußerst gesunden, mütterlicherseits stark christlich geprägten Familie.« Die Brekers gehörten der evangelisch-reformierten Kirche an – der Großteil der Bevölkerung des Bergischen Landes war in der Zeit der Reformation zum evangelischen Glauben übergetreten, die Wuppertaler Gegend galt seitdem als eine der Hochburgen des deutschen Protestantismus. Der Zusammenhalt innerhalb der offensichtlich sehr bodenständigen Familie scheint durchaus stark gewesen zu sein: »Ich hatte ein fabelhaftes Familienleben. Wir waren eine großartige Einheit.«
Zielstrebigkeit, Fleiß und Sparsamkeit waren die Werte, die die Brekers ihren Kindern mit auf den Weg gaben. Die Familie lebte, bevor sie sich in der Hochstraße niederließ, zunächst unweit des väterlichen Betriebs in einem Haus in der Nüllerstraße 34, in den nordwestlichen waldreichen Höhenlagen Elberfelds. Im Volksmund wurde dieses Gebiet »Petroleumsviertel« genannt, weil die hier stehenden, schnell hochgezogenen Mehrfamilienhäuser im Gegensatz zu den Villen und Einfamilienhäusern im sich südwestlich anschließenden Stadtviertel Brill noch nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen waren, sondern von Öl- und Petroleumlampen beleuchtet wurden. Hier wohnten, lebten und arbeiteten die »kleinen Leute« – verarmte Bauern und Handwerker, die in die Stadt gekommen waren, um hier ihr Glück zu suchen.
Arno Breker besuchte zunächst die Volksschule, im Anschluss dann die Oberrealschule in Elberfeld. Über seine Schulzeit ist so gut wie nichts bekannt, Breker gestand jedoch freimütig ein, kein besonders fleißiger Schüler gewesen und auch nicht sonderlich gern zur Schule gegangen zu sein. Wesentlich wichtiger als das Drücken der Schulbank scheinen dem Heranwachsenden seine Freizeitaktivitäten gewesen zu sein. 1911, im Alter von elf Jahren, wurde Breker Mitglied der Ortsgruppe Wuppertal-Elberfeld der Jugendorganisation Wandervogel e. V. Wie Breker auf den Wandervogel aufmerksam wurde, ist unbekannt, jedoch ist überliefert, dass ein die Bewegung unterstützender Professor zu dieser Zeit »an mehreren Schulen in Elberfeld ausgedehnte Propaganda« für den Wandervogel machte.
Der Wandervogel, der Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin entstanden war und sich schnell über ganz Deutschland ausgebreitet hatte, galt als Bewegung von Schülern und Studenten, die hauptsächlich aus dem eher bürgerlichen Milieu stammten, und verstand sich selbst gleichermaßen als Wanderorganisation für Jugendliche wie aber auch als eine von der Jugend getragene bildungsbürgerliche Erneuerungsbewegung. Angesichts der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung, deren Auswirkungen natürlich gerade im rheinisch-westfälischen Industriegebiet zu spüren waren, versuchten die Mitglieder des Wandervogels sich weitestgehend aus dem schulischen, universitären und gesellschaftlichen Umfeld zu lösen, sich von Rationalismus und Materialismus zu befreien, um außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine eigene, selbstbestimmte jugendspezifische Lebensart zu entwickeln, wobei sie sich stark von den Idealen der deutschen Romantik leiten ließen. Das Leben in und im Einklang mit der Natur, gemeinsame Wandertouren, mehrtägige oder gar mehrwöchige Ausflüge, die romantisch gefärbte Rückbesinnung auf eine als ursprünglich verklärte Volkskultur und insbesondere auf die wiederbelebten alten Volkslieder sowie ein betont asketischschlichter Lebenswandel, der »Scheunenschlafen und Selbstkochen« umfasste, gehörten zu den unumstößlichen Prinzipien dieser Aufbruchbewegung am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Für viele Jugendliche bedeutete der Eintritt in den Wandervogel so etwas wie den Sprung in ganz andere Lebensumstände, das Erlebnis einer fast rauschhaften Eröffnung völlig neuer Horizonte. Die im Kreis der »Eingeweihten« herrschende Solidarität, die Erfahrung des Lebens in der Gruppe, die bewusste Pflege des Gemeinschaftserlebnisses, die geforderte Bereitschaft zu Selbstdisziplin und Gehorsam prägten die Mentalität und den Lebenslauf vieler Mitglieder nachhaltig.
Der Wandervogel richtete sich fast ausschließlich an Jungen und heranwachsende Männer. Nicht wenige erwachsene Aktivisten der Organisation sahen das Wesen des Wandervogels erheblich dadurch bedroht, auch »wandernde Mädchen« zuzulassen, wie zunehmend gefordert wurde. Im Selbstverständnis, ein reines »Bubengewächs« zu sein, sträubte man sich lange und vehement gegen diese Tendenz, durch die man die sorgsam gepflegten Männlichkeitsideale infrage gestellt sah: »Wir wollen ganze Kerle erziehen im Wandervogel, keine Waschlappen!« Der Wandervogel war streng hierarchisch strukturiert, Führertum und Gefolgschaft spielten eine wichtige Rolle. Man kann den Wandervogel zweifellos als eine männerbündische Jugendbewegung betrachten, die durchaus nicht frei von erotischen Untertönen war, denn im Wandervogel gab es den Darstellungen des selbst homosexuellen ehemaligen Wandervogel-Führers Hans Blüher zufolge homoerotische Tendenzen von nicht näher bestimmbarem Ausmaß. Nachdem der Diplomat Philipp Fürst zu Eulenburg, ein enger Freund und Vertrauter von Wilhelm II., 1906 in eine Affäre mit homosexuellem Hintergrund verstrickt worden war, geriet im Zuge des »Eulenburg-Skandals«, der das gesamte Kaiserreich erschütterte, auch der Wandervogel zunehmend unter Beschuss und wurde in der Presse offen als »Päderastenklub« und »Hort der Jünglingsliebe« angegriffen.
Trotz dieser zeitweiligen Negativschlagzeilen expandierte die Wandervogel-Bewegung im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts in ganz Deutschland, wobei es aufgrund von Streitigkeiten um die Aufnahme von Mädchen oder die Aufrechterhaltung eines strikten Alkoholverbots immer wieder zu Abspaltungen und Neuorganisationen kam, bis 1910 als gemeinsamer Bund der »Wandervogel e. V.« gründet wurde, dem 1911 der »Verband Deutscher Wandervögel« folgte. Zum Zeitpunkt von Brekers Beitritt gehörten der Organisation deutschlandweit bereits rund fünfundzwanzigtausend Jugendliche an, die die Anstecknadel mit dem silbernen Greif auf blauem Grund trugen. Überall entstanden Ortsgruppen des Wandervogels, so auch in Elberfeld.
Führer dieser 1908 gegründeten Ortsgruppe, die einer der frühesten Stützpunkte des Wandervogels in Westdeutschland gewesen ist, war zum Zeitpunkt von Brekers Beitritt der dreiundzwanzigjährige Publizist und Schriftsteller Walter Hammer, der sein Leben der Idee einer »neuen Jugend« verschrieben hatte. Der gebürtige Elberfelder, der mit journalistischen Arbeiten auf dem Gebiet der Kulturpolitik und der Lebensreform begonnen hatte, fand 1912 Anschluss an die Freideutsche Jugendbewegung und nahm im Oktober 1913 auch am legendären »Ersten Freideutschen Jugendtag« auf dem Hohen Meißner bei Kassel teil, dem ersten großen Treffen einer rebellierenden, aufbegehrenden Jugend in Deutschland, die sich zum Ziel gesetzt hatte, eine »neue, edle deutsche Jugendkultur« zu begründen. Auch der dreizehnjährige Breker hatte eigentlich an diesem Treffen teilnehmen wollen, war entgegen anderslautender Darstellungen jedoch nicht mit von der Partie: »Leider habe ich die große und auch wichtige Zusammenkunft im Jahre 1913 auf dem Hohen Meißner versäumt, da mein Wecker versagt hatte, was einen Sturzbach von Tränen bei mir auslöste.« Walter Hammer fungierte als Herausgeber der Zeitschriften Junge Menschen und Junge Gemeinde, die er als Sprachrohr der jungen Generation verstanden wissen wollte, und publizierte später in seinem eigenen Fackelträger-Verlag lebensreformerisches und pazifistisches Schrifttum.
Das jugendbewegte Milieu, das Hammer schon vor Ausbruch des Krieges in der von ihm geleiteten Ortsgruppe um sich sammelte, galt innerhalb der Wandervogel-Bewegung als durchaus eher »fortschrittlich« und war insofern vor Anfechtungen von konservativer Seite nicht gefeit. Nationalistische Kreise verdächtigten Hammer und seine Ortsgruppe 1913 gar »der Nähe zur Sozialdemokratie, nicht zuletzt deshalb, weil sie ein distanziertes Verhältnis zum pathetischen und säbelrasselnden Patriotismus des Wilhelminischen Deutschlands zur Schau trugen«. Für die Jugendlichen, die er im Wandervogel betreute, war Walter Hammer hingegen zweifellos ein Idol. Ihm ging es darum, die ihm anvertrauten Jungen zu Menschenwürde und zu vorurteilsloser Toleranz, zu Verantwortungsbewusstsein, innerer Wahrhaftigkeit, Selbständigkeit und Zivilcourage zu erziehen – ein ehemaliger Weggefährte bezeichnete Hammer im Rückblick als einen überzeugten »Moralisten« und als einen »Fahnenträger des Humanismus«. Als Vegetarier, Antialkoholiker und Nichtraucher war er stets bemüht, den Jugendlichen, die in seine Ortsgruppe kamen, ein Vorbild zu sein. Er lehnte »weichliches Genussleben« ebenso wie »wichtigtuerisches Gebaren« ab, predigte stattdessen »männliche Einfachheit« und »sportlichen Ernst«. Seine Bücher über Wintersport und Vegetarismus machten Eindruck auf die Jungen, auch sein 1913 erschienenes Büchlein Nietzsche als Erzieher, das sich dem Gott der jungen Intellektuellengeneration widmete, zählte zur Standardlektüre der Elberfelder Wandervögel.
1911, im Jahr von Brekers Beitritt, war es Walter Hammer mit Unterstützung der Stadt Elberfeld gelungen, ein eigenes, selbst organisiertes Heim des Elberfelder Wandervogels ins Leben zu rufen, das im leer stehenden Mühlenturm von Schloss Lüntenbeck beheimatet war, den der damalige Schlossbesitzer Gustav Römer dem Wandervogel kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, wie Arno Breker sich rückblickend erinnerte: »Er hatte großes Verständnis für unsere Bewegung und stellte uns Wald und Feld zur Verfügung. Bei den Sonnwendfeuern, die ich sehr eindrucksvoll empfand, stiftete er das Holz.« Die inmitten eines romantischen Schlossparks gelegene Örtlichkeit bot natürlich ganz andere Möglichkeiten als der nüchterne Klassenraum der Volksschule Marienstraße, in dem die Wandervogeltreffen bis dato stattgefunden hatten. Bereitwillig halfen die Jugendlichen mit, den Schlossturm zu renovieren und einzurichten, auch der elfjährige Breker beteiligte sich begeistert. Mit vereinten Kräften war das Vereinsheim schnell fertiggestellt und stand der Gruppe fortan für ihre Treffen zur Verfügung: »Bei den wöchentlichen Zusammenkünften, die zwei bis drei Stunden dauerten, wurden Lieder aus dem ›Zupfgeigenhansl‹ gesungen. Damit hatten wir Einblick in die Lebensgewohnheiten früherer Jahrhunderte.« Entgegen der offiziellen Politik des Wandervogelbundes lud Walter Hammer regelmäßig die seit 1911 in Elberfeld bestehende Mädchengruppe des Wandervogels ein, an den Aktivitäten seiner Gruppe teilzunehmen.
Breker erinnerte sich rückblickend: »Jedes Wochenende machten wir eine Wanderung in das damals noch unberührte Bergische Land. Die Mahlzeiten wurden von uns selbst zubereitet, ausschließlich vegetarisch. Bei Wanderungen, die sich einige Tage hinzogen, übernachteten wir mit Erlaubnis des jeweiligen Bauern in seiner Scheune. Außerdem waren wir die freiwilligen Helfer der Bauern bei den Erntearbeiten. Das war ein wundervolles, freies Leben in der Natur. Die Liebe zur Natur, die für mich eine so ungeheure Bedeutung haben sollte, wurde in den ersten Jahren des Wandervogels geweckt.« Doch auch in Elberfeld bestand das Wandervogelleben nicht nur aus gemeinsamen Ausflügen, sondern begründete und festigte darüber hinaus ein eigenständiges, sich vom Althergebrachten abgrenzendes Lebensgefühl, das Arno Breker damals teilte: »Wir waren die ersten, die Sandalen, kurze Hosen und Manchesteranzüge trugen, keine Kopfbedeckung und Schillerkragen. Nikotin und Alkohol erklärten wir als die gefährlichsten Feinde der Menschheit.« Für Breker galten die Jahre im Wandervogel noch im Alter von vierundachtzig als »die herrlichste Zeit meiner Jugend, auf die ich nie verzichten könnte, und die ich auch nie vergessen werde«.
Neben der Begeisterung für die Natur wurde im Rahmen der Wandervogelaktivitäten Brekers Interesse an kulturellen und künstlerischen Dingen geweckt, denn Walter Hammer war mit zahllosen Künstlern und Schriftstellern befreundet, die er im Rahmen von Vorträgen sowie Lese- und Liederabenden mit den Jugendlichen bekannt machte. Hammer legte großen Wert darauf, dass die Jungen sich im musisch-künstlerischen Bereich betätigen konnten, denn hiervon versprach sich die Wandervogel-Philosophie eine »Veredelung des Geistes«, wie auch Arno Breker bestätigte: »Der Literatur und Kunst galt das größte Interesse.« Da sich der Wandervogel nicht zuletzt als Protestbewegung gegen die erstarrte Welt der Väter begriff, stand man der von oben verordneten und letztlich allein dem Geschmack des Kaisers verpflichteten Kultur des Wilhelminischen Deutschlands kritisch bis ablehnend gegenüber. Das Interesse galt vielmehr der neuen künstlerischen Avantgarde und hier besonders der expressionistischen Kunst, die aufgrund ihrer geradezu revolutionär neuartigen, die akademischen Kunstgrenzen sprengenden Wirkung von den Altvorderen als schlimmer Affront gegen den bürgerlichen Geschmack betrachtet und als aufrührerische »Rinnsteinkunst« gebrandmarkt wurde.
Hammer war es ein Herzensanliegen, den ihm anvertrauten Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich fernab aller Denkverbote ausprobieren zu können, und ihnen mit auf den Weg zu geben, sich in jeglicher Hinsicht nicht als Anhängsel der älteren Generation zu sehen, sondern Jugend als einen eigenständigen Wert zu betrachten und das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Vielleicht waren es nicht zuletzt diese enthusiastischen Worte Hammers, die wenig später den Steinmetzlehrling Arno Breker unbescheiden davon träumen ließen, einstmals ein großer Bildhauer zu werden...