TEIL I
Der Produkt-Leader
Dieser Teil des Buchs konzentriert sich darauf, was einen Produkt-Leader ausmacht und wie er erfolgreich sein kann. Um die Wichtigkeit der Rolle deutlich zu machen, beschreiben wir die Geschichte des Produktmanagements und erläutern, wie es sich weiterentwickeln wird. Wir werden die verschiedenen Schichten der Arbeit eines Produkt-Leaders in einer größeren Organisation abtragen, um zu erkennen, wie dessen Arbeit das Gesamtbild beeinflusst. Für Produkt-Leader liefert dieser Abschnitt Details zu den Themen und Mustern, die sich bei erfolgreichen Leadern erkennen lassen, und zeigt den Weg, wie man diese Eigenschaften erlangen kann. Wer mit dem Einstellen oder Aufbauen von Produkt-Leadern befasst ist, erfährt hier, nach welchen Eigenschaften er Ausschau halten beziehungsweise welche er weiterentwickeln sollte.
Teil I ist in eine Reihe von Kapiteln unterteilt, die beschreiben, was Produktmanagement ist, warum es heutzutage eine so große Relevanz hat, wie man ein guter Produkt-Leader ist und ob es eine Erfolgsformel gibt. Diese Kapitel bilden die Grundlage dafür, inwiefern Product Leadership im Rahmen der Produkterstellung beteiligt ist und wie der Leader solche Ergebnisse beeinflusst.
KAPITEL 1
Was ist Produktmanagement?
Bevor wir uns darum kümmern können, was es heißt, ein Produkt-Leader zu sein, ist es nützlich, zu klären, was wir mit dem Produktmanagement selbst meinen, da es sich um eine sich ständig weiterentwickelnde Rolle handelt. Wie schon erwähnt, sind Product Leadership und Produktmanagement nicht das Gleiche, aber sie sind untrennbar miteinander verbunden. Ein Verständnis dafür, was Produktmanagement ist – und was nicht –, wird dabei helfen, die Ausführungen über Product Leadership in den richtigen Zusammenhang zu bringen.
Wie Marty Cagan, Founding Partner der Silicon Valley Product Group und Veteran des Produktmanagements mit über 30 Jahren Erfahrung, schreibt: »Die Aufgabe eines Produktmanagers ist es, ein Produkt zu finden, das wertvoll, nützlich und umsetzbar ist.« Ebenso nennt Mitautor Martin Eriksson in seiner häufig zitierten Definition das Produktmanagement die Schnittmenge aus Business, User Experience und Technologie (siehe Abbildung 1-1). Ein guter Produktmanager muss in mindestens einem Bereich Erfahrung mitbringen, für alle drei eine Leidenschaft1 haben und auch mit den Fachleuten aus allen drei Bereichen vertraut sein.
Abbildung 1-1: Das Produktmanagement ist die Schnittmenge aus Business, Technologie und User Experience. (Quelle: Martin Eriksson, 2011)
Business
Produktmanagement ist vor allem eine Businessaufgabe, konzentriert darauf, den Businesswert eines Produkts zu maximieren. Produktmanager sollten sich vor allem darauf fokussieren, ein Produkt zu optimieren, um die Businessziele zu erreichen, während gleichzeitig der Return on Investment maximiert wird.
User Experience (UX)
Am vielleicht wichtigsten: Der Produktmanager ist die Stimme der Kunden im Business, daher muss er Leidenschaft für Kunden und deren Probleme, die sie lösen wollen, entwickeln. Das heißt nicht, dass er Vollzeitforscher oder -designer werden sollte, aber er muss sich für diese wichtige Aufgabe Zeit nehmen. Zu den Kunden zu gehen, um mit ihnen zu reden, das Produkt zu testen und Feedback aus erster Hand zu erhalten, aber auch eng mit internen und externen UX-Designern und -Forschern zusammenzuarbeiten – das alles sind Teilaspekte dieses Prozesses.
Technologie
Es ist nicht sinnvoll, zu definieren, was gebaut werden soll, wenn Sie nicht wissen, wie es gebaut werden wird. Ein Produktmanager muss dazu nicht programmieren können, aber das Verstehen des Technologie-Stacks – und vor allem der notwendigen Aufwände – ist entscheidend, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das gilt speziell in einer Agile-Umgebung, in der Produktmanager mehr Zeit mit dem Entwicklungsteam verbringen als mit jedem anderen im Business. Dazu benötigen sie und die Entwickler eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verständnis.
Andere Aufgaben, wie zum Beispiel Teamentwicklung, Marketing und strategische Planung, spielen auch eine Rolle, aber Business, UX und Technologie bilden den Kern dessen, was Produktmanager jeden Tag tun.
Die Rolle des Produktmanagements
Weiter oben haben wir geschrieben, dass gute Manager nicht notwendigerweise auch gute Leader sind. Gute Leader müssen aber gute Manager sein, daher werden wir in diesem Abschnitt die Rolle des Produktmanagers und deren Überschneidungen mit der des Produkt-Leaders besprechen.
Warum braucht ein Produktmanager Fähigkeiten in Bereichen wie Business, UX und Technologie? Vor allem, weil die Rolle selbst unglaublich breit und vielseitig angelegt ist. Nilan Peiris, VP of Product and Growth bei TransferWise, sagt, dass Produktmanager »alles tun müssen, was zu tun ist«. Tanya Cordrey, frühere Chief Digital Officer beim Guardian, fügt hinzu: »Einer der besonders tollen Aspekte des Produktmanagements – aber auch einer der stressigsten – ist, dass es sich um eine sehr breit aufgestellte Rolle handelt. Sie müssen ein guter Stratege sein, inspirieren können und das langfristige Bild verstehen. Gleichzeitig müssen Sie im operativen Geschäft sehr gut sein und Dinge erledigen können.«
Das beginnt damit, eine Vision für das Produkt zu schaffen. Der Produktmanager sollte Marktforschung betreiben, Kunden befragen und das Problem herausfinden, das der Kunde lösen möchte. Er muss große Mengen an Informationen zusammenführen – einschließlich des qualitativen Feedbacks von Kunden, den quantitativen Daten aus Analysetools und Statistiken sowie Forschungsberichten und Markttrends, um nur ein paar zu benennen. Der Produktmanager muss alles wissen, was zu wissen ist, und dann all die Informationen mit einer guten Portion Kreativität verbinden, um einen Vision für das Produkt zu definieren.
Ist die Vision vorhanden, muss der Produktmanager sie in seinem Businessbereich verbreiten. Er muss an das Produkt glauben und die Utopie verkünden, die die Produktvision repräsentiert. Wenn er sich dafür nicht begeistern kann, ist es möglich, dass niemand dafür Geld oder Ressourcen lockermacht. In extremen Situationen kann das bedeuten, dass er im falschen Beruf ist oder Produkt und Vision nicht deutlich genug übereinstimmen. Die Vision voranzutreiben, ist der erste Bereich, in dem sich Management und Leadership überlappen. Es ist eine Leadership-Aufgabe, weil es um Ownership und Führung geht, und eine Managementaufgabe, weil ein Kommunikationssystem notwendig ist und der Weg immer wieder neu zu beschreiten ist. Das Team muss dabei die Vision des Leaders unterstützen und gleichzeitig die Umsetzung durch den Manager verstehen. Für den Erfolg eines Produktmanagers – und darauf aufbauend des Produkts – muss jedes Teammitglied, von Sales bis zur Entwicklung, die Vision verstehen und zumindest ein bisschen Begeisterung dafür zeigen.
Der Produktmanager muss dann daran arbeiten, einen umsetzbaren strategischen Plan zu erarbeiten – eine Roadmap mit schrittweisen Verbesserungen, Problemchecks sowie iterativem Design und iterativer Entwicklung, die das Produkt Schritt für Schritt näher an die finale Vision bringt. Hier zahlt sich dann die harte Arbeit des Predigens der Produktvision aus, und das ganze Team macht sich, gesteuert vom Produktmanager, mit Elan daran, bessere Designs, besseren Code und bessere Lösungen für das Problem des Kunden zu finden.
In diesem Stadium wird der Prozess sehr detailorientiert, wenn der Produktmanager tagein, tagaus mit dem Entwicklungsteam als Produkt-Owner zusammenarbeitet. Der Manager definiert und iteriert das Produkt fortlaufend, während es sich weiterentwickelt, er löst auftauchende Probleme und behält den Scope genau im Auge, damit das Produkt pünktlich und ohne das Budget zu sprengen auf den Markt gebracht werden kann.
Ist das Produkt dann schließlich im Markt, sollte sich der Produktmanager nun mit den Daten befassen und vor Ort mit den Kunden sprechen, um herauszufinden, wie das Produkt eingesetzt wird. Wurde das richtige Problem gelöst? Hat der Kunde den Wert des Produkts verstanden? Wird er für das Produkt bezahlen? Dann geht der Produktmanager zurück auf Anfang und beginnt von Neuem.
Verläuft das optimal, ist es kein Wasserfall-Prozess. Ein Vorgehen in kurzen, iterativen Runden bringt viel mehr. In größeren Produktorganisationen mit ausgereiften Produktlinien führen die Produktmanager und Produkt-Leader diese Dinge vermutlich nicht Schritt für Schritt nur für ein Produkt oder Feature durch, sondern für ein Dutzend Produkte oder Features gleichzeitig, die sich alle in unterschiedlichen Stadien ihres Lebenszyklus befinden – wobei sie nach Bedarf zwischen Strategie und Taktik wechseln.
Ellen Chisa, VP of Product bei Lola, bestätigt diesen Kontextwechsel: »Ein Produktmanager wechselt immer wieder zwischen dem großen Panorama und der Detailansicht.«
Mina Radhakrishnan, erste Head of Product bei Uber, sagt: »Viele Leute meinen, der Produktmanager ist wie der CEO oder ein Schiffskapitän. Ich sehe das nicht so, denn so beschrieben, hört es sich an, als würde der Produktmanager die Entscheidungen treffen oder festlegen, wie alles zusammenarbeitet. Für mich ist er eher die Person, die selbst mit allen anderen zusammenarbeitet, um zu definieren: ›So sollen die Dinge laufen, und das ist der Grund, warum sie so laufen sollten.‹«
»Produktmanagement ist der Klebstoff, der all die verschiedenen Funktionen und Rollen in einer Firma zusammenhält, die so unterschiedliche Sprachen sprechen«, ergänzt Ken Norton, Product Partner bei GV (ehemals Google Ventures). »Es ist wie der Universalübersetzer bei Star Trek – eine Kommunikationszentrale für all die verschiedenen Gruppen. Ein Produkt wird keinen Erfolg haben, wenn es nicht diesen Klebstoff gibt, der die Teams zusammenhält.« Das verdeutlicht die größte Herausforderung für Produktmanager – der Job dreht sich nicht nur um die weiter oben beschriebenen Hard Skills, sondern mehr noch um Soft Skills wie Überzeugungskraft, Verhandlungsgeschick, Storytelling, das Schaffen von Visionen und Kommunikation.
Gute Produkt-Leader müssen ihre Ideen anderen klar und knapp präsentieren und kommunizieren. Diese häufig unterschätzten Soft Skills sind für jeden Leader wichtig, insbesondere aber für einen Produkt-Leader. Entrepreneur und Bestsellerautor Seth Godin meint dazu, dass der Begriff »Soft Skills« ihre Wichtigkeit untergräbt: »Nennen wir sie lieber Real Skills, nicht Soft Skills. Ja, es handelt sich um zwischenmenschliche Fähigkeiten. Leadership-Fähigkeiten. Charisma, Fleiß und Mitwirken. Aber diese Bezeichnung – so korrekt sie auch ist – lässt sie irgendwie untergehen gegenüber den ›beruflichen Qualifikationen‹, denen, nach denen wir Bewerber auswählen, denen, nach denen wir einen Abschluss bewerten. Bezeichnen wir sie also lieber ein wenig unbequem als Real Skills.«2
Wie sich das Produktmanagement entwickelt hat
Es gibt zwar keine definitive Geschichte der nebulösen und sich schnell ändernden Rolle des Produktmanagers, aber es ist nützlich, sich der Herkunft dieser Rolle und ihrer Entwicklung bewusst zu werden. Zumindest hilft es dabei, die organisatorischen Verlagerungen zu verstehen, die sich durch die Änderungen der Fähigkeiten und Denkweisen rund um das Produktmanagement ergeben haben, und dient dazu, einige der immer noch vorhandenen zugrunde liegenden Konflikte zu beschreiben.
Das Produktmanagement erblickt das Licht der Welt
Das moderne Produktmanagement wurde 1931 im Rahmen eines Memos von Neil H. McElroy bei Procter & Gamble erfunden. Dieses Memo war eine Begründung für das Einstellen von mehr Leuten – ein vertrautes Problem aller Leader –, wurde aber zum Grundstein einer modernen Denkweise über das Brand-Management und schließlich das Produktmanagement.
McElroys Memo aus nur 800 Wörtern3 enthielt eine einfache und präzise Beschreibung von »Brand Men« und ihrer absoluten Verantwortung für eine Marke – vom Beobachten der Verkäufe über das Managen von Produkt, Werbung und Aktionen. Einmalig skizziert er hier die Art und Weise, wie dies durch Feldtests und Interaktion mit den Kunden geschieht.
McElroy durfte zwei Mitarbeiter einstellen. Seine Ideen führten zudem dazu, dass P&G in eine markenzentrierte Organisation umstrukturiert wurde, und waren die Geburtsstunde des Produktmanagers im Bereich FMCG (Fast-Moving Consumer Goods). McElroy wurde später Verteidigungsminister und half dabei, die NASA zu gründen (was zeigt, dass alle Produktmanager zu etwas Großem geboren sind), aber er war auch Betreuer in Stanford, wo er zwei junge Entrepreneure namens Bill Hewlett und David Packard beeinflusste.
Hewlett und Packard interpretierten das Brand-Man-Ethos dahin gehend, Entscheidungen so nah wie möglich am Kunden zu treffen und den Produktmanager zur Stimme des Kunden in der Firma zu machen. Das bahnbrechende Buch The Hewlett-Packard Way von 1995 (Harper Business) rechnet den Rekord des jährlichen 20%igen Wachstums über 50 Jahre von 1943 bis 1993 diesem Vorgehen an. Bei Hewlett-Packard gab es viele weitere Innovationen, so zum Beispiel das Einführen der Divisionsstruktur, in der jede Produktgruppe eine sich selbst versorgende Organisation wurde, die für das Entwickeln, Herstellen und Vermarkten ihrer Produkte verantwortlich war. Überschritt eine Division die Zahl von 500 Mitarbeitern, wurde sie ausnahmslos aufgeteilt, um die Divisionen klein zu halten.
Währenddessen zwangen im Nachkriegs-Japan Engpässe und Liquiditätsprobleme die Industrie dazu, die Just-in-Time-Fertigung zu entwickeln. Taiichi Ohno und Eiji Toyoda (Letzterer der Neffe des Toyota-Gründers und schließlich der Vorstandsvorsitzende von Toyota Motors) nahmen sich dieser Idee an und entwickelten – in mehr als 30 Jahren kontinuierlicher Verbesserung – das Toyota Production System und den Toyota-Weg. Sie konzentrierten sich nicht nur darauf, Waste im Produktionsprozess auszumerzen, sondern auch auf zwei wichtige Prinzipien, die jeder moderne Produktmanager kennen wird: Kaizen – das kontinuierliche Verbessern des Business, während gleichzeitig Innovation und Evolution vorangetrieben wird, und Genchi Genbutsu – zur Quelle eines Problems zu gehen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Ein tolles Beispiel für diese beiden Prinzipien des Toyota Production System ist der Toyota-Ingenieur Yuji Yokoya, der für die Entwicklung einer neuen Generation des Minivans Toyota Sienna für den nordamerikanischen Markt verantwortlich war. Er schaute sich nicht nur die Daten und das Feedback an, die sie intern zum alten Modell zur Verfügung hatten, oder sprach mit bestehenden Kunden, er fuhr auch einen Sienna mehr als 80.000 Kilometer durch Amerika – von Anchorage in Alaska bis zur mexikanischen Grenze und von Florida bis nach Kalifornien. Seine Erkenntnisse aus dieser Reise sorgten für deutliche Verbesserungen am neuen Modell und einen erneuten Verkaufserfolg.
Als die Just-in-Time-Fertigung die westliche Welt erreichte, war Hewlett-Packard natürlich eine der ersten Firmen, die ihren Wert erkannte und sie übernahm. Mitarbeiter der Firma nahmen diesen kundenzentrierten, marken...