Teil 1
1867 - 1870
Oh, il est nécesaire de se construire de tels paradis, de tels lieux de refuges poétiques où l’on puisse oublier, pendant quelques temps, l’époque épouvantable où nous vivions.
Es ist notwendig, sich Paradiese zu schaffen, poetische Zufluchtsorte, wo man auf einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann.
Ludwig II. von Bayern
Kapitel 1
Un mensonge en entraîne un autre.
Eine Lüge bringt eine andere mit sich.
Térence
Ludwig II1 zweifelt an der offiziellen Geschichte
München, 1867
Aus den Aufzeichnungen Ludwigs II
Sinnend sitze ich in meinem Arbeitszimmer und betrachte die Miniatur, die ich in der Hand halte. Louise de La Vallière2, Louise de Bourbon, man sollte ihr ihren richtigen Namen geben. Nein, man sollte ihr ihren Titel geben: Die Königin ist eine wunderschöne Frau. Die Kopie, die ich in der Hand halte, zeigt sie in königlichem Staat. Einige Bilder als Königin gibt es von ihr, einige wenige. Zumindest einige wenige, von denen ich weiß.
Meine Augen verweilen über dem Portrait.
«Wenn Ihr nur sprechen könntet», murmele ich, «wenn Ihr nur berichten könntet, was Euch widerfahren ist.»
Ich glaube die offizielle Geschichte nicht, ich habe sie noch nie geglaubt. Zu viele Dinge passen nicht zusammen. Die Kinder, die diese Teufelin3 nur «gebar», wenn Louise am Hof war, und die nicht gebar, als von Louise eine Fehlgeburt ruchbar wurde. Die Kinder, die ausblieben, als Louise hinter den Klostermauern verschwand. Der Hinweis auf den vermeintlich doppelten Ehebruch des Königs und der Montespan, der doch Henri IV4 nicht zum Vorwurf gemacht wurde. Im Gegenteil, König Louis XIV5 wurde sogar des Leichtsinns und der Dummheit bezichtigt, als er mit der Demoiselle de la Vallière eine Jungfrau mit in sein Bett nahm – und man riet ihm, sich doch unter den verheirateten Damen umzusehen. Kuckuckskinder haben zumindest in der Theorie den Ehemann zum Vater.
Ich glaube kein Wort davon. Ein Mann, der gegen alle Widrigkeiten seine natürlich geborenen Kinder anerkennt, muss der Treue fähig sein.
Der König, der ausgerechnet in Versailles seinen Sitz nahm, in dem Schloss, in dem ihn alles an die Demoiselle de La Vallière erinnern musste. Die Mainte-non6 - was für ein Wortspiel. Hat sich darüber schon einmal jemand den Kopf zerbrochen?
Und dann die Briefe, deren Kopien man mir zugespielt hat. Derjenige hat recht getan, meine Zweifel wurden vertieft.
«Wenn Ihr doch nur sprechen könntet», sage ich noch einmal zu dem Bildnis in meiner Hand. Und da scheint es mir, als könne ich das perlende Lachen der Königin vernehmen.
«Aber das kann ich doch», scheint sie zu flüstern. «Ich spreche für den, der findet. Aber das bedeutet, dass sich jemand auf die Suche machen muss.»
Ich richte mich auf. Auf die Suche. Paris? Versailles? Das ist es. Auch, wenn mir der Gedanke im Augenblick nicht schmeckt. Schon wieder besetzt einer aus dem korsischen Gesindel7 den französischen Thron, schon wieder ist die Königswürde nicht gut genug, man muss gleich Kaiser sein. Nun, wenn die Taten nichts rechtfertigen, dann muss es zumindest der Titel tun.
Kapitel 2
L’histoire est écrite par les vainqueurs.
Die Geschichte wird von Siegern geschrieben.
Robert Brasillach
Ludwig II kehrt aus Paris zurück
München, 1870
Aus den Aufzeichnungen Ludwigs II
Mon Dieu. Ich bin allein, endlich. Bebend sitze ich in meinem Arbeitszimmer und schaue auf die unschuldige Truhe, die die fatalen Dokumente enthält. Ich bin zurück von meiner Reise nach Paris. Was habe ich alles erfahren! Ich bin selbst dort gewesen, in den Kellergewölben des Louvre, wo niemand sonst Zugang erhält. Ich habe die Geheimgänge zur Seine gesehen. Und ich habe endlich eine Vorstellung davon, wie Versailles zu Zeiten des großen Königs ausgesehen haben muss.
Oh ja, man kennt noch seinen Namen, doch er hat keinen guten Klang mehr. Louis XIV oder der Sonnenkönig, wie man ihn gerne nennt, ohne die Bedeutung dieses Beinamens noch zu würdigen, ist in gewisser Weise ebenfalls Opfer der schrecklichen französischen Revolution und ihrer Folgen geworden - und dieser schrecklichen Sippschaft1, die im Augenblick in Frankreich wieder auf dem Thron sitzt.
Von den vielen großen Taten, die auf ihn zurückgehen, scheint kaum noch etwas erhalten. Keine Rede mehr von den Reformen, den Errungenschaften seiner Regierungszeit, für die er von seinen Zeitgenossen verehrt worden ist. Stattdessen gibt man sich alle Mühe, ihn zu diskreditieren.
Ich lache auf. Mit jeder Revolution, die in Frankreich folgte, und seit der von 1789 machen es noch einige, scheint sein Ruf immer etwas mehr zu leiden, und die Angst davor, sein großes Geheimnis zu enthüllen, immer größer zu werden.
Ich atme tief durch. Das Geheimnis der Bourbonen. Ich lache auf. Eines? Viele nennen die Bourbonen ihr Eigen, doch eines ist mit Abstand das gefährlichste. Der Thron der korsischen Möchtegerns wankt, so hört man. Hoffen die verbleibenden Mitglieder des Hauses Bourbon darauf, ein weiteres Mal einen Bonaparte - pah! - ablösen zu können?
Dann muss ihre Abstammung natürlich lupenrein sein. Schließlich wirft man dem Korsen vor, den französischen Thron nur durch einen Staatsstreich errungen zu haben. Nach dem Wiener Kongress2 erhielt Louis XVIII3 - le Désiré4, was für ein Witz - den Lilienthron zurück. Und wie sehr fürchtete er sich, das große Geheimnis könne ans Tageslicht kommen.
Soll ich es wagen? Soll ich es wagen, die fatalen Worte aufzuschreiben, die doch Grundlage für alle weiteren Geschehnisse sind, die ich erfahren durfte?
Louis XIII war nicht der Vat...