Jugendjahre in der Schweiz 1930-1950
  1. 360 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Die Geschichte vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg war auch in der neutralen Schweiz geprägt durch die Wirtschaftskrise, durch Militärdienst und Lebensmittelrationierungen, durch technische Entwicklungen und durch die Aufbruchstimmung nach dem Krieg. Für diejenigen, die sie erlebt haben, fand diese Geschichte in kalten, verdunkelten Wohnzimmern statt, im engen Luftschutzkeller, beim Radiohören mit der Familie, mit dem ersten Chewing Gum und mit dem ersten, einzigen Auto im Quartier. 28 prominente Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schauen zurück und erzählen in ihren Beiträgen davon, wie sie den Krieg und die Vor- und Nachkriegszeit als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Ihre persönlichen Geschichten und Schilderungen des Alltags lassen die Vergangenheit lebendig werden und hinterlassen einen fesselnden Eindruck vom Lebensgefühl jener Zeit.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783724520412
Peter Achten

Der neunte Neunte

Das grelle Licht der St. Josefs-Klinik an der Basler Schützenmatte und damit das Licht der Welt erblickte ich am neunten Neunten. Was für eine Glückszahl! Das fand ich Jahrzehnte später in China heraus. Aber nicht nur von der glücklichen Neun durfte ich profitieren, im Familiennamen habe ich ausserdem noch eine Acht. Viele chinesische Bekannte beneiden mich wegen der Neun-Acht. Weil das so ist, gaben mir chinesische Freunde und damit auch die Behörden einen chinesischen Namen, der fast so klingt wie «Achten» aber eine besonders schöne Bedeutung hat: A Cheteng, was so viel heisst wie: «der Kranich, der sich in die Lüfte erhebt».
An jenem neunten Neunten war meine Mutter überglücklich und soll mich als das hübscheste Kind auf Erden bezeichnet haben. Erst später, als meine Freunde die ersten eigenen Kinder bekamen, dämmerte es mir, dass überhaupt alle Babys die hübschesten Kinder der Welt sind.
Weniger glücklich war an jenem neunten Neunten der Kinderarzt. Wie er mir Jahre danach schmunzelnd erzählt hat, bin ich blau auf die Welt gekommen. Keine Luft hätte ich beim Anblick des grellen Kliniklichts im irdenen Jammertal bekommen. Deshalb habe er mir bereits am Anfang meines Erdenlebens eine wohldosierte Tracht Prügel auf den zarten, butterweichen Hintern applizieren müssen.
Überglücklich war natürlich auch mein stolzer Vater. Nach einer Tochter im Jahr zuvor war ihm nun auch ein Stammhalter geboren worden. Weil Mama eine begeisterte Johanna-Spyri-Leserin war, bekam meine Schwester den Namen Heidi und ich gezwungenermassen den Namen Peter. Immerhin nicht Geissenpeter, dafür mit dem Zusatznamen Georges, weil mein Vater französischer Zunge war.
Das reine Glück war jedoch getrübt durch den Lauf der Zeiten. Nur neun Tage zuvor hatte Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselt. Vor dem Reichstag rief Adolf Hitler am i. September 1939 aus: «Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!» Mein Vater rückte zum Aktivdienst ein.
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Heidi und Peter Achten im Basler Zolli in den späten Kriegsjahren
Das lang durchzogene, schrille Heulen der Sirenen gehört zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen. Verschlafen rannte ich an der Hand der Mutter in den Keller hinunter. Das war ein ganz gewöhnlicher Keller, kein bundesgenormter Luftschutzkeller wie nach dem Krieg. Dafür war der improvisierte Bombenkeller recht gemütlich. Jedenfalls ist er das in meiner Erinnerung. Es gab für uns Kinder zunächst immer einen kleinen Riegel Schokolade, eine rare Köstlichkeit in jenen Tagen. Dann durfte ich mich mit meinem Bruder und meiner Schwester auf die am Kellerboden ausgebreitete Matratze legen und friedlich weiterschlafen. Auf zwei mit buntem Segeltuch bespannten Gartenstühlen hielten Vater und Mutter Wache. Es war ein Gefühl der absoluten Geborgenheit. Bis dann plötzlich leicht verändert, aber unüberhörbar das langdurchzogene schrille Heulen der Sirenen Entwarnung gab. An den mit Notvorrat und Wasser belegten Kellergestellen vorbei ging es die Treppe wieder hoch ins warme, eigene Bett.
Als kleiner Knirps konnte ich das seltsame Geschehen natürlich nicht einordnen. Was ein Flugzeug wirklich war oder gar eine Bombe oder Krieg, davon hatte ich keine Ahnung. Dass Vater oft abwesend war und gelegentlich in Uniform nach Hause kam, schien mir seltsam. Aber all meinen Kindergartengspänli ging es ja genauso. Erst viel später begriff ich, dass dies der sogenannte Aktivdienst war. Meine Mutter war weit über 1000 Diensttage lang alleinerziehend.
Etwas konkreter wurde der Krieg für mich am 4. März 1945. Damals bombardierte die US-Airforce den Güterbahnhof Wolf ganz in der Nähe des Basler Hauptbahnhofs. An der Hand meines Vaters spazierte ich ins Gundeli-Quartier und inspizierte wie Aberhunderte von anderen Baslern die Bombenkrater. Anders als in Zürich oder Schaffhausen waren in Basel keine Menschen ums Leben gekommen.
Zu den frühen Kindheitserinnerungen gehört für mich das Einkaufen mit meiner Mutter. Man brauchte während des Krieges dafür nicht nur Geld, sondern auch Marken, denn die Grundnahrungsmittel waren rationiert. Das habe ich eigentlich in guter Erinnerung, regelmässig gingen wir ins Rationierungsbüro in der Nähe des Münsterplatzes. Ich sehe die Märkli noch heute vor meinen Augen. Es gab welche für Milch und Brot, dann welche für Fett, Butter, Eier, Zucker, Teigwaren und Reis. In was für einem Schlaraffenland wir im Vergleich zu den Nachbarländern trotz der Rationierung lebten, wusste ich damals natürlich noch nicht. Meine Mutter war, wie ich heute vermute, auch eine begnadete Händlerin. Mit Freundinnen nämlich tauschte sie Marken, Fett gegen Eier, Brot gegen Reis oder Zucker gegen Schokolade.
Erst kurz nach dem Krieg fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich lebte ich als Kind auch nicht im Schlaraffenland, für meine Begriffe wenigstens. In den Sommerferien in Saanenmöser musste ich als vierjähriger Knirps frische Milch vom Bauern nebenan trinken. So weit, so gut. Nur hatte die Milch leider einen feinen Rahmschleier auf der Oberfläche, von uns Kindern kurz «Schlämpe» genannt. Meine Geschwister liebten das, ich weniger. Mein Vater verdonnerte mich aber zum Schlämpen-Trinken, mit dem schlagenden Argument: «Denk an die armen Kinder in Deutschland und Österreich, für die wäre dies das Manna vom Himmel.» So würgte ich denn das Schlämpen-Manna herunter. Als dann nach dem Krieg zuerst Dagmar aus Hamburg und danach der Adi und der Otti aus Linz für je drei Monate zu uns nach Hause in die Schweiz zur Erholung kamen, war es offensichtlich. Besonders Dagmar aus Hamburg war spindeldürr. Mein Vater sagte: «Da siehst du es, ich habe es dir ja in Saanenmöser gesagt. Das arme Kind.» Gewiss. Doch Milch kann ich bis auf den heutigen Tag nicht mehr trinken.
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In der Kandererstrasse in Kleinbasel 1945: Peter und Heidi Achten vorne links, dahinter Adi und Otti aus Linz, hinten Martha Achten und das Dienstmädchen Micheline mit dem jüngsten Bruder Franz auf dem Arm
Im Zusammenhang mit Essen und Rationierung darf Hansi nicht unerwähnt bleiben. Wie viele Familien hielten wir während des Krieges auch Küngel. Das hing wohl, wie ich später erfuhr, mit der Anbauschlacht oder dem «Plan Wahlen» zusammen. «Plan Wahlen» war benannt nach dem Agronomen und BGB- (heute SVP-)Politiker Professor Friedrich Traugott Wahlen. Das war Hansi natürlich egal. Er freute sich mit seinen vier Mit-Kaninchen des Lebens in einer, wie man heute sagen würde, tierfreundlichen Stall-Gruppenhaltung. Auch Auslauf auf Gras genossen die glücklichen Küngel. Doch die glücklichen Küngeltage waren gezählt. Eines Tages verkündete die Mutter in der grossen Küche, dass es etwas besonders Feines zum Sonntagsessen geben würde. Wir waren alle gespannt. «Kaninchenbraten», verkündete das Dienstmädchen. Mein Blick wanderte zur Mutter, zum Vater und wieder zurück. Ja, es war Hansi, das Küngeli mit den roten Augen und dem weissen Fell. Weinend flüchtete ich in mein Kinderzimmer und selbst eine Sonderration Kriegsschokolade konnte mich nicht trösten.
In den Sommerferien in Saanenmöser kaufte mein Papa ein Huhn beim Bauern nebenan, wiederum für ein Sonntagsessen. Ein lebendiges Huhn. Der Bauer griff zum Beil, legte den Hals des Huhns auf einen Holzblock und schlug zu. Einer kleinen Unachtsamkeit wegen entglitt dem wackeren Bauern das Huhn nach erfolgter Schlachtung aus der Hand. Der Kopf lag auf dem Holzblock und der kopflose Körper hüpfte, halb flog er, noch einige Meter. Es hat mich tief beeindruckt, nicht aber wirklich schockiert.
Während des Krieges stand ich mit meiner Mutter, die eine hervorragende Köchin war, oft in der Küche. Da ich noch nicht lesen konnte, fragte ich, was denn auf dem schönen grossen, an der Wand hängenden Teller geschrieben stehe. Mama las vor: «Hartes Brot ist nicht hart, kein Brot ist hart.» Es war eine Lektion fürs Leben. Auch altes Brot wurde zu Hause nicht weggeworfen. Die Mutter machte daraus leckeres «Vogelheu». Mit etwas Ei, Konfitüre und Zucker oder mit Ei, Gartenkräutern und etwas Salz – damals wie heute eine herrliche Mahlzeit. Selbst meine verwöhnten Enkelkinder Maximilian und Anna wären voll des Lobes, wenn der Nonno wieder einmal zum Kochlöffel greifen und «Vogelheu» zubereiten würde.
Die ersten Jahre meiner Kindheit verbrachte ich während des Krieges in der Nähe des Rheins in der Kandererstrasse beim Erasmusplatz. Unvergessen bleibt mir von dort unter anderem die Heilsarmee. Nicht wegen deren guten Taten, dafür war ich noch zu jung, sondern wegen der Heilsarmee-Blasmusik, welche jeden Sonntagabend von der Klybeckstrasse her kommend in Richtung Erasmusplatz marschierte, wo die Heilsarmee ein Lokal hatte. Für uns Kinder war die flotte Marschmusik eine Freude. Stolz im Gleichschritt und erhobenen Kopfes marschierten wir mit. Noch heute bin ich deshalb, wenn ich um die Weihnachtszeit in der Schweiz bin, bei der Topfkollekte grosszügig. Dann nämlich treibt mir – ich bin sonst ziemlich unsentimental – das Blasmusikständchen in Erinnerung an die Sonntagabende in der Kandererstrasse die Tränen in die Augen.
Etwas später sind wir von der Kandererstrasse im Kleinbasel in ein Haus beim Neuweilerplatz am Dorebächli umgezogen. Als Knirps in kurzen Hosen durfte oder musste ich jeden Sonntagabend die Zeitungen holen. Damals gab es täglich noch drei Ausgaben. Am Sonntag wurden zwar keine Zeitungen publiziert, doch am Sonntagabend ab 18 Uhr war die erste Ausgabe des Montagmorgenblatts erhältlich. Zwei Zeitungen musste ich kaufen: die «Basler Nachrichten» und die «Nationalzeitung». Zu Hause angekommen übergab ich die – wie ich später erfuhr – konservativen «Basler Nachrichten» dem Vater und die eher progressive «Nationalzeitung» der Mutter. Nach etwa einer halben Stunde wechselten Vater und Mutter die Zeitungen. Rund eine Stunde war für uns Kinder absolute Ruhe geboten.
Das Zeitungholen am Sonntagabend am Neuweilerplatz hat mich wohl fürs Leben geprägt. Zum einen lese ich Tageszeitungen immer noch so, wie meine Mutter sie damals gelesen hat, nämlich von der hintersten Seite nach vorne zur Frontseite. Heute allerdings elektronisch als e-Paper. Zum anderen wurde ich dann selbst Journalist, ganz am Anfang bei den «Basler Nachrichten» bei meinem journalistischen Ziehvater Oskar Reck, danach noch kurze Zeit bei der «Nationalzeitung». Nicht von ungefähr hat meine journalistische Karriere aber zunächst als Korrektor und dann vor allem als Zeitungsverkäufer am Sonntagabend begonnen – lernen von der Pieke auf, sozusagen. Die Schlagzeilen auf meiner Verkäufermütze habe ich jeweils selbst verfasst. All die Jahre danach hatte ich immer eine besondere Beziehung zu Zeitungsverkäufern – bis zum heutigen Tag. In den Ferien in Estavayer-le-Lac bedient mich immer freundlich Frau Schaller. Am Kiosk in Peking weiss seit Jahr und Tag Xiao Wang, welche Tages- und Wochenzeitungen ich liebe. Mit ihm diskutiere ich über Gott und die Welt, den Smog und die Familie. Wir sind Freunde geworden. Der beste Zeitungsverkäufer jedoch stand einst auf der Grossbasler Seite der Mittleren Rheinbrücke quer vis-à-vis vom Lälle-Keenig beim Café «Spillmann». Als 1959 erstmals die Boulevardzeitung «Blick» erschien und das Schweizer Volk sich in eine die «NZZ» und die «Basler Nachrichten» lesende, vermeintliche Elite und den von diesen verachteten Plebs teilte, stand er – der bekennende Plebejer – da mit seinen «Blicks» und rief mit einem fiesen Grinsen: «<Blick>, nur für Intellektuelle!»
An Kirchen in meiner frühen Kindheit mag ich mich nicht erinnern, aber an ein Tischgebet. Vor jeder Mahlzeit sprach es meine fromme Mutter. Es war immer das gleiche und ging – auf Baseldytsch – folgendermassen: «Schbiis Gott, dränk Gott, dreescht Gott alli arme Kind, wo uff dr Arde sind. Amen» (Speise Gott, tränke Gott, tröste Gott alle armen Kinder auf der Erde). Dieses Tischgebet gab mir schon als vierjähriger Knabe schwer zu denken. Warum, fragte ich mich monatelang, speist und tränkt Gott die armen Kinder, nur um sie dann am Schluss zu rösten? Das wollte mir einfach nicht in den Kopf. Als Fünfjähriger fragte ich dann eines Tages meinen Vater. Eine schallende Ohrfeige war die Antwort. Lange Jahre später erklärte mein Vater die Reaktion damit, dass er den Verdacht hatte, ich wolle ihn mit Absicht auf den Arm nehmen. Verschmitzt hätte ich bei der Frage leise gelächelt. Ich hatte es aber todernst gemeint. Auch im Katechismusunterricht. Der Vikar sprach von der unbefleckten Empfängnis Marias. Auch das gab mir, unterdessen achtjährig, schwer zu denken. Ich konnte mir ganz einfach nichts darunter vorstellen. Ich fragte also den Vikar. Die Antwort war eine Ohrfeige. Zu Hause beklagte ich mich darüber und fragte dann meinen Vater, was es denn mit der unbefleckten Empfängnis auf sich habe. Diesmal gab es zwar keine Ohrfeige mehr, dafür die knappe Antwort: «Frag später».
Zu meinen frühen Kindheitserinnerungen gehören auch Hausierer. Sie klingelten an der Haustür und präsentierten dann in einem kleinen Koffer oder einem sogenannten Bauchladen ihre Ware. Von Schuhbändeln bis zu Knöpfen, Garn und vielem mehr war alles zu haben. Meine Mutter hatte immer ein freundliches Wort bereit und kaufte diese oder jene Kleinigkeit.
Nach dem Krieg kamen oft auch Bauern aus dem Elsass mit ihren von Pferden gezogenen Wagen und boten quasi frisch vom Acker Gemüse, Kartoffeln, Milch, Käse oder Fleisch an. Auch die Bauernsame aus dem Baselbiet und dem Kanton Solothurn entdeckte die nahe Stadt als willkommenes Absatzgebiet. Das ging damals noch ohne eidgenössische und europäische Vorschriften und so unbürokratisch wie heute auf den unzähligen Märkten in der Megalopolis Peking.
Besonders freute ich mich im Herbst auf den Buttenmost. Meine Mutter hatte zwei Lieferanten: Eine Bauersfrau aus dem solothurnischen Hochwald und eine aus dem Elsass. Aus einem grossen Holzbottich wurde mit der Kelle das leckere, süsse Hagebuttenmus der Hundsrose ins Kesseli geschöpft. Ob es das heute noch gibt?
Für mich als bald sechs Jahre altes Kind hörte der Krieg am 1. August 1945 auf. Es war der erste Nationalfeiertag mit Feuer, Schweizerkreuz-Lampions und allem, was dazugehört. Wir Kinder machten uns im Hof bereit und harrten der unbekannten Dinge, die da kommen sollten. Wir waren sehr gespannt. Um die Wartezeit zu vertreiben, turnte ich an der Teppichstange herum, den Kopf nach unten. Eine kleine Unachtsamkeit und ich fiel – ungespitzt sozusagen – auf den mit kantigen Kieselsteinen bedeckten Boden. Meine Mutter verarztete mich mit Jod, einem Pflaster und einem riesigen Kopfverband und obwohl also buchstäblich auf den Kopf gefallen, stolzierte ich mit meinem Schweizerkreuz-Lampion an der Hand meiner Mutter ans nahe Rheinufer. Es gab eine Rede, die mich als Kind natürlich nicht interessierte, dann Vorführungen des Turnvereins im Lichte bengalischen Feuers und schliesslich sangen alle zusammen die Landeshymne und «z’Basel a mym Rhy». Vater und Mutter hatten Tränen in den Augen.
Nach dem Krieg kamen amerikanische Soldaten regelmässig für Kurzferien zur Erholung («Rest and Relaxation», kurz R&R) in die Schweiz. Das Zentrum Basels auf dem Marktplatz vor dem imposanten roten Rathaus war natürlich eine touristische Attraktion erster Güte für die amerikanischen GIs. Vor der ersten Begegnung unterrichtete mich mein Vater kurz in dem, was man wohl heute als Frühenglisch bezeichnen würde: «Hello, Welcome in Basel!», «Chewing Gum, please!» und – dies vor allem bläute mir Papa ein – «Camel, please!!» Als gescheites Kind lernte ich schnell. Eines Tages befand ich mich mit einem Primarschulfreund auf dem Märt. Und was sah ich? Einen schwarzen Amerikaner beziehungsweise, wie man heute politisch korrekt sagt, einen Afroamerikaner. Gekonnt applizierte ich mein Frühenglisch. Und siehe da, bevor ich richtig überlegen konnte, hatte ich schon einen Kaugummi im Mund. Der schwarze GI duckte sich auf Augenhöhe zu uns und zeigte, wie man mit einem Kaugummi durch feines, korrektes Blasen und mit der richtigen Mundstellung grosse, blassrosa Ballönchen fabrizieren konnte. Ich beherrsche diese Kunst noch heute. Zum Schluss gab mir der amerikanische Soldat noch einige Camel-Zigaretten – mit erhobenem Zeigefinger, wohl in der Annahme, dass wir knapp achtjährigen Bengel selbst rauchen wollten. Vermutlich hatte er im kriegszerstörten Deutschland schon solche Erfahrungen gemacht. Zum Abschied schüttelte er uns die Hand. Mein Schulfreund und ich rannten so schnell es ging um die nächste Ecke und sahen uns unsere Hände an. Wir waren hoch erstaunt, denn nein, sie waren nicht schwarz. Es war meine erste Begegnung mit dem Fremden.
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Peter Achten 1949
Besonders ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Georg Kreis - Vorwort
  6. Lys Wiedmer-Zingg - Das verschwundene Dreiländereck
  7. Jürg Ramspeck - Zinnsoldatenmarsch
  8. Emil Steinberger - Emil und Miggu – Kindheit und Jugend während der Kriegsjahre
  9. Rolf Lyssy - Einer kurzen Filmszene gleich
  10. Peter Gross - Das Toggenburg. Mein Transsylvanien
  11. Peter Zeindler - «Klinge Munotglöckelein …»
  12. Arnold Hottinger - In Basel vor und während dem Krieg
  13. Marco Solari - Von Schmugglern, Krieg und Hermann Hesse
  14. Ruth Binde - Mein Soldat hiess Otto Kopp
  15. Eugen Gomringer - Nach Auskunft des Dienstbüchleins
  16. Elisabeth Kopp - Was war nur mit den Eltern los?
  17. Kurt Wyss - Maria und ein gebranntes Kind
  18. Guido A. Zäch - Das muss einen Sinn haben
  19. Werner Arber - Eine Jugend auf dem Land
  20. Erich Gysling - Ein Jeep! Da wussten wir, dass Gegenwart Zukunft geworden war
  21. Lilian Uchtenhagen - Ein Blick zurück, mit Dank und ohne Reue
  22. Werner von Mutzenbecher - Flashback to Riehen
  23. Heinz Lüthi - Skiferien in Parpan
  24. Bruno Spoerri - Eine Jugend mit Jazz
  25. Yvette Kolb - Neu-Allschwil, Narzissenweg
  26. Werner Catrina - Viel Apfelmus und wenig Bananen
  27. Buddy Elias - Das Eis, das die Welt bedeutet
  28. Dorine Abegg - Wir sind doch keine Sauschwaben
  29. Iso Camartin - Kinderohren
  30. Peter Achten - Der neunte Neunte
  31. Angeline Fankhauser - Die Köstlichkeit von gebackenen Kartoffeln
  32. Georg Kreis - Im Zuge der Zeit: Aus dem Archiv einer Kindheit
  33. Franz Hohler - Aufwachsen
  34. Werner von Mutzenbecher - Das alte Haus