»Generation’90«: Herausforderungen an eine Jugend
Klaus Hurrelmann, Mathias Albert
Was »Jugend« ist, ändert sich im Laufe der Zeit. Heute erstreckt sich das Jugendalter auf etwa sieben Jahre vor Erreichen der Volljährigkeit und auf einen etwa ebenso langen, wenngleich weniger eindeutig einzugrenzenden Zeitraum danach. Mit Bezug auf das Erreichen der Volljährigkeit lässt sich die heutige Jugendgeneration als »Generation ’90« bezeichnen. Ein solches, alleine am Alter und nicht an substanziellen Merkmalen festgemachtes Verständnis der »Generation ’90« ist dabei bewusst gewählt. Mehr als jemals zuvor verbietet es sich heute, Gemeinsamkeiten eines primär über das Lebensalter definierten Teils der Bevölkerung festzustellen, die etwa an sozialer Herkunft orientierte Unterschiede derart überlagern würden, dass sie die Vorstellung eines irgendwie als einheitlich vorzustellenden Gebildes einer »Generation« tragen würden.
Selbstverständlich zeichnet sich auch die Generation der heute Zwölf- bis 25-Jährigen durch Spezifika aus, welche sie von anderen Generationen unterscheiden - etwa das Aufwachsen im Internet-Zeitalter oder die besondere Betroffenheit durch die Auswirkungen des demographischen Wandels. Aber es lässt sich gegenwärtig nichts erkennen, was - und dies wäre eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen eines ernsthaften Generationenkonfliktes! - darauf hindeutet, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe zum Bezugspunkt für eine Primärdefinition sozialer Rollen, gesellschaftlicher Teilhabechancen oder aber politischer Einstellungen würde.
Unbeschadet dieser Beobachtungen befindet sich die »Generation’90«, wie auch alle Generationen vor ihr, in einer besonderen Situation: In den letzten beiden Jahrhunderten ist die Lebensdauer der Menschen in den westlichen Gesellschaften um rund 40 Lebensjahre gewachsen, sie hat sich praktisch verdoppelt. Die Menschen in Deutschland, der Schweiz und Österreich wie auch in allen anderen europäischen Ländern werden immer älter. 80 bis 90 Lebensjahre werden zur Regel. Im Vergleich zu 1900 werden zugleich erheblich weniger Kinder geboren. Die ältere Generation wird zahlenmäßig und damit auch politisch immer wichtiger, die jüngere verliert an Einfluss. Es wird nur noch wenige Jahre dauern, dann leben in Deutschland genauso viele Menschen über wie unter 50 Jahren. Es wird dann schwierig, die Interessen der Älteren nicht stärker zu gewichten als die der Jüngeren und die Ressourcen gerecht zwischen den Generationen zu verteilen.
Die demographische Veränderung führt zu tiefgreifenden Umschichtungen der Lebensphasen:
• Die Lebensphase Kindheit wird kürzer, denn das Jugendalter beginnt immer früher. Der Zeitpunkt der Geschlechtsreife (»Pubertät«) hat sich von 1800 bis 2000 um fünf Jahre im Lebenslauf nach vorne verschoben, wahrscheinlich wegen ernährungs-und umweltbedingter Beschleunigungen der Hormonproduktion. Es gibt heute schon neunjährige Mädchen, die biologisch gesehen zur Frau geworden sind. Das Durchschnittsalter für das Eintreten der Pubertät liegt bei 11,5 Jahren für Mädchen, Jungen folgen ein Jahr später.
• Das Jugendalter beginnt in den westlichen Gesellschaften so früh wie noch nie, aber es hat kein eindeutig markiertes Ende mehr. Der traditionell typische und bis 1960 auch immer noch mehrheitlich zu beobachtende Übergang vom Jugendalter in das Erwachsenenalter war durch die Übernahme der Erwerbstätigkeit und das Eintreten in ein Familienleben mit eigenen Kindern charakterisiert. Die beiden Meilensteine Berufsübernahme und Heirat, die den Eintritt in »das« gesellschaftliche Leben markierten, werden heute von den meisten Jugendlichen entweder sehr spät, manchmal erst im vierten Lebensjahrzehnt, oft aber gar nicht passiert. Das Jugendalter, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Übergangszeit zwischen der abhängigen Kinderzeit und der selbstständigen Erwachsenenzeit entdeckt wurde, ist heute zu einem langgestreckten Lebensabschnitt von im Durchschnitt 15 Jahren geworden. Es hat seinen eigenen Wert und seinen eigenen sozialen Rhythmus, es unterscheidet sich in vielen Facetten (private Lebensgestaltung, Konsumverhalten, Lebensstil) nicht mehr vom Erwachsenenleben. Umgekehrt legen viele Erwachsene Wert darauf, sich so wie Jugendliche zu verhalten und damit die Offenheit des Lebens, die auch sie zunehmend erfahren, als eine Herausforderung zu begreifen, die kreativ gestaltet werden kann. Das Jugendalter ist keine Übergangsphase mehr, sondern ein Lebensabschnitt mit eigener Dynamik.
Das Leben in den modernen westlichen Industriegesellschaften ist für Menschen aller Altersgruppen im Vergleich zu früheren Epochen sehr flexibel geworden. Kinder und Jugendliche trifft dieses in einer formativen Phase ihres Lebens. Dadurch erhalten sie die Möglichkeit, sich von Anfang an auf die Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens einzurichten und mit einer Pluralität von Lebenswelten umzugehen. Dabei darf trotz aller lebensweltlichen Relevanz europäischer und globaler Vernetzung und einer transnationalen Angleichung bzw. Ähnlichkeit vieler Jugendkulturen und Styles nicht aus den Augen verloren werden, dass die Situation der Jugendlichen auch zwischen einzelnen Ländern und besonders hinsichtlich der unterschiedlichen Altersstruktur der Bevölkerung zum Teil erheblich variiert. So zeichnet sich die hier angesprochene »Generation ’90« in Deutschland dadurch aus, dass sie den demographischen Wandel prismenhaft in sich selbst abbildet, indem sich in ihr der Wandel von den letzten geburtenstarken zu den geburtenschwachen Jahrgängen vollzieht.
Vorwiegend auf der Grundlage der Ergebnisse besonders der letzten beiden Shell-Jugendstudien versucht der vorliegende Beitrag im Folgenden, die Besonderheiten der Lebenssituation und der Wertorientierungen der »Generation ’90« zu umreißen. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose schließen sich Überlegungen dazu an, wie die Jugendlichen am besten zu erreichen und zu motivieren sind. Abschließe...