1. Die Aufgabe: Problemhorizont und Forschungsdesign
Eine auf differenzierte Ergebnisse und nachhaltige Empfehlungen setzende Studie bedarf unabhängig von der Dimension des Themas eines ganzheitlichen Forschungsdesigns, eines damit verbundenen Forschungsmixes (»Mixed-Methods-Design«) und interdisziplinärer Ansätze. Die unterschiedlichen Einflussfaktoren bildungspolitischer, gesellschaftlicher, kultureller und künstlerischer Art entscheiden direkt oder indirekt über die Zukunft der Opernsängerinnen und Opernsänger – entsprechend rücken die System-Umwelt-Beziehungen und verschiedene disziplinäre Erkenntnisse in den Fokus der Untersuchung.
Ausgangspunkt ist daher eine kontextbasierte und kontextorientierte Vorgehensweise, die die Einflussfaktoren (Politik, Gesellschaft) und Bezugsfelder (Markt, Kultur, Soziales) des Opernbetriebs im engeren Verständnis (Strukturen, Ablauforganisation, künstlerischästhetische Entwicklungen etc.) und des Ausbildungssystems in ihren Interdependenzen darstellt und analysiert. Das so skizzierte Forschungsfeld mit seinen Rahmenbedingungen, Institutionen, Akteuren, Bezugs- und Anspruchsgruppen ist komplex und erfordert eine ebenso breit angelegte wie exemplarisch tiefgreifende Recherche.
Der Materialsichtung, -generierung und -ausfertigung gingen übergeordnete und spezifizierende Fragestellungen voraus. Die grundlegenden Reflexionen zur Entwicklung des Kulturbetriebs und der kulturpolitischen Leitbilder greifen die wesentlichen Diskussionen der vergangenen Jahre auf, soweit mit ihnen systemisch-strukturelle, künstlerisch-ästhetische sowie bildungs- und gesellschaftspolitische Langzeitwirkungen verbunden sind. Zumindest kursorisch werden dabei publizistische Quellen wie auch wissenschaftliche Forschungsergebnisse verarbeitet.
Für die Aufgabenstellung im engeren Sinn wurde vorweg ein ausführlicher Fragenkatalog zum Musiktheaterbetrieb und -arbeitsmarkt sowie zum Ausbildungssystem formuliert. Für den Opern- und Sängermarkt fokussiert sich das Fragenspektrum auf folgende Aspekte:
–Wie entwickelt sich die Nachfrage in den traditionellen Beschäftigungsfeldern von Opernsängern, den Anstellungen und Engagements als Solisten an Opernhäusern?
–Wie haben sich die Arbeitsformen in diesen Beschäftigungsfeldern verändert, welche neuen Profile zeichnen sich ab?
–Wie wirkt sich die Verkleinerung von Ensembles auf die Anforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten von Sängerinnen und Sängern aus?
–Welche Auswirkungen hat die zunehmende Bedeutung von Regie, Inszenierung und Produktionsdesign?
–Welche Kompetenzen, welches Wissen, welche Haltungen sind konkret geboten, um als Gesangsnachwuchs unter den sich verändernden Bedingungen zu reüssieren?
–Bringt der derzeitige Gesangsnachwuchs diese Qualifikationen mit? Wo bestehen die größten Nachhol- bzw. Ergänzungsbedarfe?
–Welche Rolle spielen Agenturen und andere Karrieremittler angesichts des gesteigerten Wettbewerbs?
–Welche alternativen Berufsfelder bestehen, welche neuen entwickeln sich?
–Welche neuen Arbeitsformen, Tätigkeits- und Anforderungsprofile zeichnen sich in diesen Feldern ab?
Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf die curriculare Praxis des Operngesangsstudiums:
–Wie sollte das Studium gestaltet sein, um die beschriebenen Qualifikationsprofile sowohl für den traditionellen Musiktheaterbetrieb als auch für alternative Arbeitsfelder zu entwickeln?
–Wo besteht der größte Veränderungsbedarf – kurz-, mittel- und langfristig, sowohl aus der Sicht von Vertreterinnen und Vertretern der Institutionen und Agenturen als auch aus der Sicht von Sängerinnen und Sängern?
–Welche Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich an, insbesondere unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen des Systems von Bachelor und Master?
–Welche Strukturen und Kooperationen brauchen Musikhochschulen, um zukunftsgerecht ausbilden zu können?
–Welche Qualifikationen und Haltungen sollte das Lehr- und Führungspersonal der Musikschulen mitbringen, um über den Ausbildungskern Stimme hinaus Studierende in unterschiedlichen Karrierewegen zu fördern?
Die Fragen implizieren eine qualitativ-verstehende Forschungshaltung. Sie zielen nicht darauf ab, probabilistische Hypothesen statistisch zu überprüfen, sondern darauf, die Zusammenhänge innerhalb des Feldes sowie seine System-Umwelt-Beziehungen herauszuarbeiten und zu deuten (vgl. Diekmann 2007: 33 ff.). Die folgende Abbildung gibt einen vereinfachten Überblick über die betrachteten Rahmenbedingungen und Akteure.
Abbildung 1: Rahmenbedingungen und Akteure
Quelle: eigene Darstellung
Auf der Grundlage eines solchen Gesamtbildes zeigt diese Studie realistische Szenarien für Ausbildung und Karrierewege im Operngesang auf.
Methodik
Dem umfassenden Ansatz der Studie entsprechend, wurden alle Akteursgruppen – durch ihre jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter – in die Erhebung einbezogen, die die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und die Hochschulausbildung direkt beeinflussen:
–Opernhäuser, Chöre und Projektträger
–private Agenturen und staatliche Arbeitsvermittler
–Sängerinnen und Sänger
–Musikhochschulen und -akademien
Die Akteure wurden dabei als Expertinnen und Experten im Sinne der empirischen Sozialforschung verstanden: Personen, die aufgrund ihrer Position spezifisches Wissen über das betrachtete Feld haben (Helfferich 2011: 163). Dieses Wissen betraf zunächst die Innensicht, den Blick auf den eigenen Arbeitsbereich: 1) von Verantwortlichen in Opernhäusern auf die Entwicklungen in den Opernhäusern, 2) von Agenten und Arbeitsvermittlern auf die Aufgaben und das Wirken von Agenturen und Arbeitsvermittlern, 3) von Sängerinnen und Sängern auf die erforderlichen und vorhandenen Qualifikationen und die Wege von Opernsängern, 4) von Verantwortlichen in den Hochschulen auf Struktur und Eignung von Ausbildungsangeboten der Musikhochschulen und -akademien.
Des Weiteren wurde die Außensicht herangezogen, also der Blick der Akteursgruppen auf die jeweils anderen. Alle Akteursgruppen sind eng miteinander verknüpft und erhalten fundierte Einblicke in das Wirken und die Wirkungen auf einzelne Akteursgruppen oder den Opernbetrieb insgesamt.
Die multiperspektivischen Erhebungen und Untersuchungen dienten dazu, bewussten oder unbewussten Wahrnehmungsverzerrungen oder »blinden Flecken« entgegenzuwirken, die die eigene Arbeit oder die anderer betreffen.
Diese Kombination von Informationsquellen zur Steigerung der Validität insbesondere qualitativer Forschung kann als Daten-Triangulation bezeichnet werden (vgl. Flick 2009: 519 f.). Die Validität der Ergebnisse wurde für die Experteninterviews und Gruppendiskussionen durch die Auswahl der Akteure in einem Prozess des theoretischen Samplings abgesichert (vgl. ebd.: 158 ff.). Hierbei werden die einzubeziehenden Akteure schrittweise daraufhin ausgewählt, dass ihre Erfahrungen und Deutungen die bisher gewonnenen Erkenntnisse entweder erweitern oder ihnen widersprechen können.
Das Sach-, Zusammenhangs- und Deutungswissen der einzelnen Expertinnen und Experten wurde also nicht als gesicherte Tatsache angesehen, sondern als spezifische Wahrnehmungen des betrachteten Feldes. Die individuellen Wahrnehmungen wurden durch die Gegenüberstellung wechselseitig überprüft und zu einem Gesamtbild integriert, das auch widersprüchliche Interpretationen und Bewertungen enthalten kann.
Bei den Akteursgruppen wurden spezifische Schwerpunkte in den Untersuchungsgegenständen gesetzt und unterschiedliche Erhebungsmethoden verwendet. Die konkrete Umsetzung des theoretischen Samplings wird jeweils im Zuge der Beschreibung der einzelnen Methoden näher erläutert. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die angewendeten Methoden der Erhebung.
Abbildung 2: Die Erhebungsmethoden
Quelle: eigene Darstellung
Sekundärquellen
Für diese Studie wurden Statistiken zum Ausbildungssystem, zum Arbeitsmarkt, zum Musikmarkt und zum Musiktheaterbetrieb recherchiert, ausgewertet und aufbereitet:
–Statistiken des Deutschen Musikinformationszentrums (MIZ): Das MIZ ist eine Informations- und Serviceeinrichtung, die die Orientierung in der Musiklandschaft Deutschlands erleichtern soll und die seine Entwicklung dokumentierend begleitet. Dafür werden unter anderem Statistiken und Untersuchungen zur Musiklandschaft aus verschiedenen Quellen gesammelt, aufbereitet und kontinuierlich aktualisiert. Folgende Statistiken wurden für diese Studie herangezogen:
•Freiberuflich Tätige in der Sparte Musik nach Durchschnittseinkommen und Tätigkeitsbereich. Die Werte beruhen auf Daten der Künstlersozialkasse (KSK). Sie weist Personen aus, die einer überwiegend in Deutschland ausgeübten selbstständigen künstlerischen Haupttätigkeit nachgehen und einen Bruttojahresverdienst von mehr als 3.900 Euro aufweisen (Ausnahme: Berufsanfänger). Grundlage für die Berechnung des Einkommens ist das im Frühjahr für die Berechnung des Beitragssatzes prognostizierte durchschnittliche Jahreseinkommen aus der künstlerischen Haupttätigkeit (MIZ 2018e).
In dieser Studie werden die Zahl der freiberuflich Tätigen und ihr Einkommen als Indikatoren für die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten von Selbstständigen in der Sparte Musik verwendet.
•Personal an öffentlich finanzierten Musiktheatern. Diese Statistik weist die Zahl der ständig beschäftigten Sänger, Tänzer, Chormitglieder und Theaterorchestermitglieder sowie die des künstlerischen Personals aus Gastverträgen aus. Das MIZ errechnet die Zahlen aus den Werten der Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins (DBV) und aktualisiert sie nach Erscheinen der jährlich im Herbst veröffentlichten Ausgabe. Die Daten beruhen auf der jährlichen Abfrage des DBV bei seinen Mitgliedern. Kleinere Schwankungen zwischen Spielzeiten können daher auch auf fehlende Rückläufe zurückzuführen sein (MIZ 2018g).
Die Zahlen zum Personal dienen als Indikator für die Entwicklung der Arbeitsmöglichkeiten im traditionellen Arbeitsbereich der Opernhäuser.
•Einnahmen der öffentlich finanzierten Theater (Sprech- und Musiktheater). Das MIZ dokumentiert auf der Grundlage der Theaterstatistik des DBV die Einnahmen der öffentlich finanzierten Theater in Deutschland. Wie die Angaben zum Personal beruhen die Daten auf der Umfrage bei den DBV-Mitgliedern. Kleinere Schwankungen können daher hier ebenfalls an fehlenden Rückläufen liegen.
Auch wenn die Zahlen für den Sprech- und Musiktheaterbereich insgesamt gelten, ist die Entwicklung der öffentlichen Zuweisungen und Zuschüsse ein wichtiger Indikator für den finanziellen Handlungsspielraum auch der Opernhäuser und -sparten (MIZ 2018f).
•Studienanfänger (1. Hochschulsemester) in Studiengängen für Musikberufe an Musikhochschulen, Universitäten, pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen. Grundlage der Statistik sind die von den Hochschulen an die Landesämter gemeldeten Zahlen von Studienanfängern, die in dem betreffenden Studienjahr für das 1. Hochschulsemester eingeschrieben waren. Die Studienanfänger der Studienrichtung »Gesang« werden einzeln ausgewiesen. Zu den Musikhochschulen werden auch die Kirchenmusikhochschulen gezählt (MIZ 2018b).
Zusammen mit den beiden folgenden Statistiken zur Zahl der Studierenden und zur Zahl der Abschlussprüfungen wird die Entwicklung der Werte als Indikator für die künftige Entwicklung des Angebotes an ausgebildeten Sängerinnen und Sängern herangezogen.
•Studierende in Studiengängen für Musikberufe an Musikhochschulen, Universitäten, Pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen. Auch diese Werte beruhen auf Zahlen, die von den genannten Hochschulen an die statistischen Landesämter gemeldet werde...