Psychosozialer Stress am Arbeitsplatz: Indirekte Unternehmenssteuerung, selbstgefährdendes Verhalten und die Folgen für die Gesundheit
Anja Chevalier, Gert Kaluza
Gesundheit in der Arbeitswelt
Aufgrund der großen Bedeutung, die der Arbeit nicht nur für die Existenzsicherung, sondern auch für die Identitätsbildung des einzelnen Menschen in modernen Gesellschaften zukommt, spielen Belastungen, die im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit stehen, eine herausragende Rolle für psychisches Wohlbefinden und körperliche Gesundheit.
Die weite und zunehmende Verbreitung psychomentaler und sozioemotionaler Belastungen im Arbeitskontext ist in zahlreichen repräsentativen Studien dokumentiert (z. B. Lohmann-Haislah 2012). Typische Belastungsfaktoren sind ein zu hohes Arbeitspensum, starker Termin- und Leistungsdruck, Multitasking, Arbeitsunterbrechungen, mangelnde soziale Unterstützung und geringe Handlungsspielräume. Die gesundheitlichen Folgen zeigen sich in zunehmenden körperlichen und psychovegetativen Beanspruchungs- und Erschöpfungssymptomen der Beschäftigten. Auch der seit über zehn Jahren festzustellende Anstieg der Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen ist unter anderem in Verbindung mit zunehmendem Stress am Arbeitsplatz zu sehen (z. B. Badura et al. 2012). Die damit verbundenen Produktionsausfallkosten wurden für das Jahr 2012 auf sechs Milliarden Euro geschätzt (BAuA 2014).
Mit der wachsenden Bedeutung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz hat in den letzten Jahren gleichzeitig ein Paradigmenwechsel in der Unternehmenssteuerung stattgefunden: Direkte Steuerungsformen (»Command and Control«) werden zunehmend durch indirekte, ergebnisorientierte Steuerungsformen (»Management by Objectives«) ersetzt. Hierbei wird die Leistung der Erwerbstätigen allein nach dem erzielten Ergebnis bewertet; die Dauer sowie die Art und Weise der Leistungserbringung und eventuelle Probleme, die dabei aufgetreten sind, spielen für die Beurteilung keine Rolle und sind allein Sache der Beschäftigten (wie bei Selbstständigen oder Freiberuflern; Menz, Dunkel und Kratzer 2011).
Flexible Arbeitszeiten, leistungsabhängige Bezahlung und das Führen mittels Zielvereinbarungen sind prominente Merkmale der indirekten, ergebnisorientierten Unternehmenssteuerung. Welche Auswirkungen dies auf das Leistungsverhalten der Beschäftigten hat und welche Chancen und Risiken im Hinblick auf ihr Stresserleben und ihre Gesundheit sich daraus ergeben, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.
Was verursacht Stress am Arbeitsplatz?
Die arbeitspsychologische Stressforschung hat eine Reihe von Modellen entwickelt und empirisch geprüft, in denen jeweils spezifische Arbeitsplatzmerkmale identifiziert werden, die bei den Beschäftigten zu Stress führen können (zusammenfassend Siegrist und Dragano 2008).
So sind aus handlungstheoretischer Perspektive alle die Arbeitsplatzbedingungen ein möglicher Stressor, die die Beschäftigten daran hindern, ihre Ziele zu erreichen und effektiv zu arbeiten. Dazu zählen beispielsweise schwerfällige Informationsflüsse (Intransparenz), Arbeitsunterbrechungen, Zeitdruck, viel bürokratische Kontrolle sowie unklare oder schwer zu vereinbarende beziehungsweise erreichbare Ziele.
Nach dem »Effort-Reward Imbalance«-Modell (Modell der beruflichen Gratifikationskrise; Siegrist 1996) ist ein wesentlicher Stressfaktor ein wahrgenommenes Ungleichgewicht zwischen hohem Einsatz und geringer Belohnung (Gratifikation). Als Belohnung sind nicht nur finanzielle Entlohnung, sondern auch Status und Anerkennung sowie Zukunftsperspektiven zu sehen. Mehrere internationale prospektive epidemiologische Studien zeigten, dass die Kombination von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung zu einer Erhöhung des Risikos kardiovaskulärer Erkrankungen um das 2- bis 4,5-Fache sowie für depressive Störungen um das 1,5- bis 3,5-Fache führt (Siegrist und Dragano 2008).
Nach dem »Job Demand-Control«-Modell (Anforderungs-Kontroll-Modell; Karasek und Theorell 1990) sind besonders stressgefährdete Arbeitsplätze gekennzeichnet durch
•eine Kombination von hohen quantitativen oder qualitativen Arbeitsanforderungen (besonders infolge von Zeitdruck) und
•einen geringen Grad an Kontrolle über den Arbeitsablauf beziehungsweise einen geringen Entscheidungsspielraum am Arbeitsplatz.
Auch hier zeigen internationale Studien, dass ein geringer Handlungs- und Entscheidungsspielraum in Kombination mit hohen Anforderungen längerfristig eine Risikoverdopplung für das Auftreten von kardiovaskulären Erkrankungen wie auch depressiven Störungen zur Folge hat (Siegrist und Dragano 2008).
Die hier vorgestellten Arbeitsstressmodelle verweisen auf wichtige Merkmale stressgefährdeter Arbeitsplätze und liefern wertvolle Hinweise für eine gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitsbedingungen sowie Arbeits- und Leistungskulturen. Sie reflektieren allerdings nur unzureichend den gravierenden Wandel, der sich seit mindestens zwei Jahrzehnten in der Arbeitswelt vollzieht. Stichworte sind hier der Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensarbeit, der Zwang zur Produktivitätssteigerung im globalisierten Wettbewerb und eine damit einhergehende zunehmende Verdichtung und Flexibilisierung der Arbeit innerhalb ergebnisorientierter Steuerung.
Risiken für eine gesunde Arbeitswelt: Indirekte Steuerung und selbstgefährdendes Verhalten
Indirekte, ergebnisorientierte Formen der Unternehmenssteuerung sollen Vorteile sowohl für das Unternehmen (z. B. Steigerung der Produktivität, bessere Planbarkeit von Lohnkosten) als auch für die Beschäftigten bringen (z. B. durch mehr Autonomie und Selbstbestimmung in der Arbeitsplanung, bessere Vereinbarkeit von Freizeit, Familie und Beruf). Die Unternehmen räumen den Beschäftigten ein hohes Ausmaß an individuellen Handlungsspielräumen ein; Arbeitnehmer können ihre Aufgaben selbstständig planen, einteilen und ausführen sowie teilweise sogar ihre Arbeitszeiten völlig selbst bestimmen (Vertrauensarbeitszeit) (Ahlers 2011).
Nach dem »Job Demand-Control«-Modell sind derartige Handlungsspielräume grundsätzlich gesundheitsförderlich. Allerdings stellen sie zugleich erhöhte Anforderungen an die Eigenverantwortung und Selbstorganisation, die von Kratzer und Dunkel (2013) als zusätzliche, aber unsichtbare Leistung beschrieben werden und auch zur Überforderung werden können. Wann, wo, wie und mit welcher Priorität Aufgaben erledigt werden, können und müssen die einzelnen Beschäftigten zunehmend selbst entscheiden.
Weiterhin gehen mit den neuen ertragsorientierten Steuerungsformen vielfach auch neue Belastungskonstellationen einher (Krause et al. 2012; Menz, Dunkel und Kratzer 2011; Peters 2011). Menz, Dunkel und Kratzer (2011) führen hier unter anderem reduzierte Zukunftsperspektiven (Arbeitsplatzunsicherheit), moralische Dilemmata (Zielerreichung versus Kundenorientierung) und die Bürokratie der Controlling-Instrumente an.
Zusätzlich zu den typischen Merkmalen indirekter Steuerung (nämlich flexible Arbeitszeiten, leistungsabhängige Bezahlung und das Führen mittels Zielvereinbarungen) stellen Menz, Dunkel und Kratzer (2011) dynamisierte Leistungsziele als wichtigen Faktor der modernen Belastungskonstellationen heraus. Damit gemeint sind stetig steigende Zielvorgaben, die sich allein am Marktwachstum, aber nicht am Leistungspotenzial der Beschäftigten und den zur Verfügung stehenden Ressourcen orientieren. So würden in vielen Unternehmen Arbeits- und Ertragsziele in regelmäßigen Abständen, mindestens jährlich, kontinuierlich gesteigert. Derartige wahrgenommene Zielspiralen würden von den Beschäftigten als Hauptbelastung empfunden. Angesichts der dynamisch steigenden Anforderungen erscheine die eigene Leistungsfähigkeit immer wieder als unzulänglich und permanent ungenügend und blockiere so einen stabilen »sense of accomplishment« (Menz, Dunkel und Kratzer 2011: 174).
Diese Zielspiralen können, müssen aber nicht prinzipiell mit ergebnisorientierter Führung (Führen über Zielvereinbarungen) einhergehen. Entscheidend ist, wie die Ziele definiert werden – anhand des Leistungspotenzials der Beschäftigten oder des Marktwachstums. Nur durch Letzteres können die von Menz, Dunkel und Kratzer (2011) beschriebenen Zielspiralen entstehen. Für die vorliegende Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen von Merkmalen indirekter Unternehmenssteuerung werden diese beiden Aspekte (Führen über Ziele und wahrgenommene Zielspirale) daher getrennt voneinander betrachtet.
Indem abhängig Beschäftigte unter den Bedingungen indirekter Unternehmungssteuerung wie Selbstständige behandelt werden, verhalten sie sich auch entsprechend, um ihre Ziele zu erreichen: etwa durch überlange Arbeitszeiten, den Verzicht auf Regenerationszeiten (Pausen, Feierabend, Urlaub) und Präsentismus (Arbeiten trotz Krankheit). Diese Phänomene werden unter dem Begriff der »interessierten Selbstgefährdung« zusammengefasst (Peters 2011).
Krause et al. (2015) definieren Selbstgefährdung als Handlungen, mit denen Erwerbstätige arbeitsbezogene Stressfaktoren zu bewältigen versuchen, die jedoch gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Erkrankungen erhöhen oder notwendige Regeneration verhindern. Neben dem Verzicht auf Erholung äußert sich selbstgefährdendes Verhalten auch im übermäßigen Konsum von leistungssteigernden Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Medikamenten etc. oder im Unterlaufen von Sicherheits-, Schutz- und Qualitätsstandards. Selbstgefährdendes Verhalten kann verstanden werden als negative Nebenwirkung der erhöhten Selbstständigkeit von Beschäftigten durch indirekte Unternehmenssteuerung.
Selbstgefährdung kann als Folge einer Arbeitsgestaltung und Leistungssteuerung gesehen werden, die die Beschäftigten zum Überschreiten eigener Leistungsgrenzen herausfordern (et...