dp n="20" folio="19" ?1
Wie sieht ein Elefant aus?
Eckard Minx, Harald Preissler, Burkhard Järisch
dp n="21" folio="20" ?
DIE INFORMATIONSGESELLSCHAFT - IDEE ODER REALITÄT?
Wir haben davon gehört: Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen. Aber schon das Hier und Heute weist Tücken auf. So stellt Armin Pongs in seinem gleichnamigen Buch die unschuldige Frage: »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« Beim Versuch einer Antwort kommen wir ins Straucheln. Gesellschaften werden als »kapitalistisch«, »feudalistisch«, »industriell«, »autoritär«, »freizeit- und/oder erlebnisorientiert« bezeichnet. Immer stärker tritt nun der Begriff »Information« als charakterisierende Größe der modernen Welt hervor; viele Autoren haben Länder wie die USA, Japan und Deutschland als Informationsgesellschaften identifiziert.
Dabei ist die »Informationsgesellschaft« nur eines der Label, mit dem die befragten Zeitdiagnostiker unsere Gegenwart zu beschreiben suchen. Zu den anderen Kandidaten gehören die Verantwortungsgesellschaft, die Wissensgesellschaft, die flexible Gesellschaft, die Mediengesellschaft, die moderne oder gar die postmoderne Gesellschaft.
Man fühlt sich in die mittlerweile berühmte Gruppe von Blinden hineinversetzt, die gebeten werden, einen Elefanten zu beschreiben. Je nachdem, welche Stellen die tastenden Hände berühren, fällt das Ergebnis aus: Der Blinde, der ein Bein des Elefanten fühlt, ist davon überzeugt, dass es sich um einen Baum handele, die Person, die das Ohr fühlt, erkennt darin den Fächer, und der Schwanz führt zur Vermutung, es handele sich beim Elefanten um ein Seil. Jeder der Blinden hat auf seine Weise recht, und dennoch erfasst keiner von ihnen das gesamte Erscheinungsbild des Elefanten.
Mit der Frage »Was kommt nach der Informationsgesellschaft?« wird es uns also nicht anders gehen als den Blinden, die den Elefanten beschreiben sollen. In jedem Fall steht fest: Antworten auf Fragen hängen immer davon ab, aus welcher Perspektive wir auf die Frage blicken. Bei der Frage nach der Informationsgesellschaft können mögliche Perspektiven die folgenden sein.
DIE TECHNISCHE SICHT - DIE DATENAUTOBAHN: Dieses Bild der Informationsgesellschaft ist wesentlich geprägt durch die Leistungssteigerung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Die Konvergenz von Rechnerleistung, Telekommunikation und Medien ist unbestritten der Trend der 90er Jahre. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, wieviel Informations- und Kommunikationstechnologie notwendig ist, um eine Informationsvon einer Industriegesellschaft unterscheiden zu können.
DIE ÖKONOMISCHE SICHT - DIE »NEW ECONOMY«: Der Internet-Boom führte zur oft geäußerten Meinung, die Wirtschaft habe die Ära der zyklischen Entwicklung überwunden und befinde sich nun in einer Phase des langen Aufschwunges. Das Platzen der Spekulationsblase bestätigte die Kritiker und enttäuschte diejenigen, die in der Tat auf eine »Neue Ökonomie« gehofft und in diese Hoffnung investiert hatten.
Der Einfluss der elektronischen Informationsverarbeitung scheint dabei übertrieben. Robert J. Gordon zeigte 1999 in einer vielbeachteten Studie, dass dem unbestritten starken Anstieg des Produktivitätswachstums im IT-Hardware-Bereich eine weitgehend indifferente, zum Teil gar stagnierende Entwicklung in allen anderen Branchen gegenübersteht.
Insgesamt ist die Bedeutung von Informationstechnologien für Wirtschaft und Gesellschaft unbestritten. Jedoch ist die Wirtschaft nach wie vor stark durch die Nutzung bodenständiger Faktoren geprägt, von natürlichen Ressourcen bis hin zu menschlicher Arbeitskraft, die sich nicht ohne Weiteres virtualisieren lassen.
DIE SOZIALE SICHT - INFORMATION ALS GESELLSCHAFTLICHER MACHTFAKTOR: Aus dieser Perspektive wird versucht, die Informationsgesellschaft über die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie sowie deren gesellschaftliche Bedingungen zu interpretieren. Was sind die Rahmenbedingungen dieser Nutzung: Kosten, Qualifikation, Demographie? Wie steht es um die mögliche Überwachung von Mitarbeitern mittels Informations- und Kommunikationstechnologie, also etwa die automatische Erfassung der Anschläge pro Minute von Schreibkräften? Trotz weiter steigender Durchdringung der Gesellschaft mit solchen Technologien ist deren Nutzung nach wie vor stark unterschiedlich ausgeprägt.
ARBEIT - DIE »INFORMATIONSARBEITER«: Die Informationsgesellschaft wird vielfach über die Zahl solcher Erwerbstätiger definiert, deren Arbeit der Umgang mit sogenannter Information ist. Wenn die Zahl der Lehrer, Rechtsanwälte, Finanzdienstleister, Unterhalter die Zahl der Stahl-, Werftund Bauarbeiter übersteige, so konstituiere das die Informationsgesellschaft, so diese Definition.
Auch sie ist wegen des Zuordnungsproblems umstritten. Ist der Bahnangestellte im Stellwerk, der Zugfahrpläne verarbeitet, mit anderen Stellwerken kommuniziert und die Streckenbenutzung regelt, ein Informationsarbeiter? Laut Statistik ist er bisher ein »Industriearbeiter«.
KULTUR - DIE SUCHT NACH WENIGER UND MEHR INFORMATION: Der Begriff Kultur bezeichnet einen Satz von gemeinsam getragenen - meist impliziten - Theorien, Meinungen und Anschauungen darüber, wie das gesellschaftliche Leben abläuft.
In den hochentwickelten westlichen Gesellschaften ist die Alltagserfahrung in einem bisher nie da gewesenen Umfang durch Medien und eine anwachsende Informationsflut gekennzeichnet.
Paradoxerweise ist es gerade diese starke Zunahme von medialer Information, die Kritiker wie Baudrillard aufgreifen, um vom »Ende der Informationsgesellschaft« zu sprechen. Die schiere Informationsmenge, ihre extreme Vielfalt, Kurzlebigkeit und Widersprüchlichkeit mache sie selbst bedeutungslos. Gleichzeitig würden »Erfahrungen aus erster Hand« zunehmend Mangelware.
Was also ist die Informationsgesellschaft? Außer der Meinung, dass Information einen zunehmenden Stellenwert in der Gesellschaft einnehme, gibt es kaum Übereinstimmung über deren wesentliche Merkmale. Es muss also offen bleiben, was mit dem Begriff Informationsgesellschaft eigentlich gemeint ist. Wir werden auch künftig mit der Spannung zwischen Euphorie (»Das ist die Zukunft!«) und grundsätzlichen Zweifeln über die Legitimität des Begriffs leben müssen.
Die Prognose einer Informationsgesellschaft und enthusiastische Reaktionen auf neue Technologien sind kein neues Phänomen. Blicken wir in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die revolutionäre Erfindung hieß damals nicht Internet, sondern Telegraph, doch die Grundidee war dieselbe: Kommunikation und der Austausch von Informationen wurden über ein Netzwerk abgewickelt.
Schnell überzog ein Netz aus Kupferkabeln Europa, Amerika und Asien. Unternehmen, die Länder und Kontinente mit Überland- und Unterseeleitungen verbanden, schossen wie Pilze aus dem Boden. Viele Kommentatoren sprachen von einer neuen Weltordnung. Philanthropen träumten vom Weltfrieden - wenn jeder mit jedem kommuniziere, so die These, gebe es keine Mißverständnisse mehr. Der Weg zur aufgeklärten, friedlichen Welt schien nicht mehr weit.
dp n="26" folio="25" ?
Leider wurden die optimistischen Prognosen nur allzu rasch von der Wirklichkeit eingeholt: Statt zum Instrument der Völkerfreundschaft zu werden, diente die schnelle Informationsübermittlung vorrangig Geschäftsleuten zur Beschleunigung ihrer Transaktionen und Generälen zur modernen Kriegsführung; zudem nutzten kleine und große Gauner das Telegraphennetz für ihre Betrügereien. Auch die Freude der Investoren über das Wachstum der Telegraphenfirmen währte nur kurz, denn die nächste Revolution der Kommunikation - das Telefon - zerstörte schon wenig später viele Hoffnungen und Entwicklungen der Telegraphen-Ära.
Solche vorschnellen Euphorien haben eine ebenso lange Tradition wie Fehlprognosen. So meinte der berühmte Mathematiker und Erfinder Lord Kelvin im Jahr 1897: »Das Radio hat absolut keine Zukunft.« Eine Mercedes-Benz-Marktanalyse aus dem Jahre 1900 ergab, dass wegen der begrenzten Anzahl von Chauffeuren »die weltweite Nachfrage nach Automobilen die Zahl 5000 nicht übersteigen« werde. Der Flugpionier Wilbur Wright vertrat noch 1901 die Ansicht: »Der Mensch wird es in den nächsten fünfzig Jahren nicht schaffen, sich mit einem Metallflugzeug in die Luft zu erheben.« Thomas J. Watson, Vorstandsvorsitzender der IBM, meinte 1943: »Ich glaube, auf dem Weltmarkt besteht Bedarf für fünf Computer, nicht mehr.« Ken Olsen, CEO des Computerherstellers Digital, sah noch 1977, also mehr als eine Generation später, keinen Grund, »warum einzelne Individuen ihren eigenen Computer haben sollten«. Wie kommt es, dass selbst ausgewiesene Experten mit ihren Prognosen oft so fürchterlich danebenliegen?
ZUKUNFT WISSEN?
Das Problem ist zunächst ein systematisches: Exaktes Wissen über die Zukunft ist unmöglich. Ein Gedankenexperiment verdeutlicht diese Tatsache: Stellen wir uns vor, wir führen in einem Auto mit schwarz abgeklebter Windschutzscheibe auf einer Einbahnstraße. Durch den Blick in den Rückspiegel besitzen wir einiges Wissen über den Straßenverlauf der Vergangenheit, die Sicht nach vorne bleibt uns aber verwehrt. Der prognostische Ansatz wäre nun, aus dem Verlauf der Straße, den wir bereits kennen, die weitere Straßenführung abzuleiten. Es ist offensichtlich, dass dies nur bis zur nächsten Kurve gutgehen kann.
Ein Problem, das mit genügend Erfahrung oder tiefgreifendem Wissen über den Status quo gelöst werden könnte? Nein. Zum einen ist bei den meisten Problemen die Forderung nach Kenntnis aller Fakten schlichtweg nicht zu erfüllen, weil die Datenmenge in kürzester Zeit gigantische Ausmaße annähme. Selbst die Wettervorhersage - eine Betrachtung relativ weniger, gut beschreibbarer Größen wie Luftdruck oder Temperatur - stößt beim Versuch, aus der Kenntnis aller Fakten und Zusammenhänge das Wetter vorherzusagen, schnell an ihre Grenzen.
dp n="28" folio="27" ?
Laplace beschwor 1814 seinen berühmten »Dämon«, ein theoretisches Konstrukt einer allwissenden Intelligenz, die »für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte... [N]ichts würde ihr ungewiss sein, und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.«
Diese deterministische Weltsicht und damit die Vision der exakten Prognose wurden jedoch spätestens mit Plancks Quantentheorie und Heisenbergs Unschärferelation hinfällig. Winzige »Unschärfe-Effekte« auf atomarer Ebene pflanzen sich fort und erzeugen makroskopisch erkennbare Unsicherheiten, die mit keiner Prognosemethode der Welt vorherzusagen sind. Seitdem wissen wir, dass das Unwissen über letzte Zusammenhänge und damit das Unwissen über die Zukunft systembedingt und nicht zu durchdringen ist.
Ist schon der Versuch problematisch, die Dynamik unbelebter Materie vorherzusagen, so wird der Versuch der Prognose menschlicher Entscheidungen oder gar sozialer Systeme vollends absurd. Belastbare Aussagen über die Zukunft sind also im besten Fall von höchster Unsicherheit geprägt, im schlimmsten Fall sind sie reine Scharlatanerie.
Dennoch leben wir in einer Zeit, die süchtig nach Zukunft ist. Trendforscher, selbst ernannte Zukunftsexperten und Berater erfreuen sich großer Nachfrage. Im gleichen Maße, wie die Frage aus der Mode gekommen ist, was wir aus dem lernen können, was war, hat sich die Aufmerksamkeit auf das verlagert, was kommt. Prognosen sollen Unsicherheiten abbauen, Orientierung vermitteln oder Entscheidungen ersetzen.
Unser Umgang mit Zukunft hat immer auch eine psychologische Komponente. Selbst der »objektive Experte« ist nicht in der Lage, sich aus seinem Kontext, seinem Wunschdenken und seinen unbewussten ...