Teil II
Bildungsprozesse mit musikalischem Experimentieren und Gestalten begleiten
Der individuelle Bildungsweg jedes Kindes wird auch in seiner Art und Weise sichtbar, mit Musik zu experimentieren und zu gestalten. Als Bildungsbegleiterin stellt sich Ihnen daher zunächst die Aufgabe zu erfassen, auf welchen Erfahrungen und auf welchem bisherigen Wissen das musikalische Spiel der Kinder beruht. Und: Welche »neuen« Erfahrungen und welches »neue« Wissen könnten die Kinder darauf aufbauend suchen?
Nehmen Sie sich dafür Zeit. Schauen und hören Sie den Kindern aufmerksam zu, um zu entdecken, wie musikalische Aktivität das Kind »innerlich« und »äußerlich« bewegt. Beobachten Sie die Kinder,
um zu entdecken, welchen Zugang Kinder zur Welt der Musik wählen, um zu begreifen, wie Kinder durch ihre musikalischen Aktivitäten ihre Lebenswelt wahrnehmen, erleben, deuten und verstehen, um zu erkennen, wie Kinder durch musikalisches Forschen und Gestalten ihr Selbstbild und ihr Weltbild weiterentwickeln und verändern, um zu verstehen, welchen subjektiven Sinn Kinder im musikalischen Spiel entwickeln. Aufgrund Ihrer Beobachtungen und Ihres Eindrucks von seinem Bildungsweg können Sie dann Ideen entwickeln für die individuelle Begleitung eines Kindes. Folgende Fragen sind dabei hilfreich:
Welche neuen musikalischen Experimentier- und Gestaltungsräume kann ich anbieten? Welche Aufgaben und Rollen kann ich übernehmen, um die Kinder bei ihren nächsten Bildungs-»Schritten« zu begleiten? Wie kann ich mich selbst vom musikalischen Experimentieren und Gestalten der Kinder inspirieren lassen? So kann es Ihnen gelingen, musikalische Aktivität kindzentriert anzubieten. Dabei bemerken Kinder in der Regel unmittelbar, dass sie ernst genommen werden. Sie erleben: »Das musikalische Spiel gehört uns, wird für uns angeboten und ist ein interessantes Lern- und Erlebnisfeld.«
In einer solchen Atmosphäre bewegen sich Kinder als Klangforscher und Musikgestalter zwischen wahrnehmendem Entdecken und gestaltendem Handeln. Dabei erhalten sie die Möglichkeit,
ihr persönliches Wahrnehmungspotenzial auszuschöpfen und zu differenzieren, sich selbst handelnd und gestaltend zu erleben, sich in Beziehung mit der Lebenswelt zu setzen und selbsttätig ein Bild von der Lebenswelt und von sich selbst als Teil dieser zu entwerfen. In meiner Arbeit mit Kindern nehme ich wahr, wie unterschiedlich sie auf musikalische Impulse und Aktivitäten reagieren. Manche suchen Anregung für ihre Wahrnehmung, andere die Möglichkeit, ihre Bewegungsfreude oder Imaginationskraft auszuleben. Immer wieder beschäftigen sich Kinder auch mit musikalischen Techniken, Formen und Gestaltungsprinzipien.
Im Folgenden zeige ich auf, wie diese Unterscheidung in musizierende Kinder als Wahrnehmungs-, Bewegungs-, Symbolisierungskünstler und als Musikgestalter hilft,
das musikalische Spiel von Kindern zu verstehen, die individuellen Bildungswege der Kinder zu erkennen und ihre »nächsten Schritte« zu erspüren, die eigenen Aufgaben und Rollen bei der Bildungsbegleitung von Kindern zu finden, kreative Ideen zur Anregung musikalischer Bildungserfahrungen zu entwickeln. In das Sinnesereignis Musik eintauchen
Blick in ein Klanglabor
Zwei Kinder sind der Meinung: Die Klangschale klingt zu lange. Sie schlagen diese an und stoppen das Verklingen mit den Fingern. Eines von beiden greift spontan nach der in der Nähe liegenden Kastanie und legt diese in die Klangschale. Damit wird das Verklingen der Klangschale zwar nicht verkürzt, das leise Mitsurren der Kastanie gewinnt jedoch die Aufmerksamkeit der Kinder: Die Klangschale macht »gsssssss«. Dies weckt in den Kindern die Lust zu forschen. Im Lauf ihres Spiels liegen Reiskörner, Murmeln und der Ring der Erzieherin in der Klangschale. An der Klangschale hängen Streifen aus Papier, Alufolie und aufgebogene Büroklammern. Die Kinder legen sich auf den Boden, mit den Ohren so nahe wie möglich an der Klangschale, und lauschen hochkonzentriert deren Geräuschen. Aufmerksam wird jedes »gssss« und »krrr« registriert.
Die Kinder in diesem Beispiel begreifen musikalische Aktivität als eine Kunst der achtsamen Sinneswahrnehmung. Sie fordern sich selbst als Hörende, Sehende und Tastende heraus und schaffen eine Spielsituation, die sie anregt, ihr Wahrnehmungsvermögen zu verfeinern.
Mit Musik spielende Wahrnehmungskünstler suchen einen Handlungsraum, in dem sie über die Sinneswahrnehmung in intensiven Kontakt mit ihrer Lebenswelt kommen. Sie lassen sich davon beeindrucken und vergewissern sich, im Kontakt mit ihr zu sein. Dabei spüren sie sich selbst: Ich nehme wahr, also bin ich.
Das Beispiel zeigt, wie Kin...