Wie wird Inklusion gut gemacht? Gelebte Praxis inklusiver Schulen
Nicole Hollenbach-Biele, Dennis Vogt
In Deutschland gelingt es heute schon vielen Kollegien, das Konzept einer inklusiven Schule umzusetzen. Viele Schulen haben sich bereits auf den Weg gemacht und gezeigt, dass die individuelle Förderung jedes Kindes – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Förderbedarf – in heterogenen Lerngruppen zu realisieren ist. Wie groß der Handlungsbedarf hier ist, zeigt auch ein Blick auf die aktuellen Zahlen: Rund eine halbe Million Schüler in Deutschland haben einen ausgewiesenen sonderpädagogischen Förderbedarf – knapp zwei Drittel von ihnen werden noch in Förderschulen unterrichtet. Zudem geht die Kultusministerkonferenz von 325.000 geflüchteten schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen im Jahr 2015 aus. Vor diesem Hintergrund sehen sich viele Schulen mit großen Herausforderungen konfrontiert. Denn es gilt, allen Kindern unabhängig von sonderpädagogischem Förderbedarf, Migrationshintergrund oder sozialer Herkunft faire Bildungschancen zu ermöglichen, ohne dass dabei der Leistungsgedanke auf der Strecke bleibt.
Wie stellen sich Schulen diesen und weiteren Herausforderungen, die mit steigender Heterogenität in den Klassenzimmern durch Inklusion und Integration einhergehen? Vor allem: Wie gehen Schulen ganz konkret damit um, welche pädagogischen und programmatischen Elemente erweisen sich in der Praxis als tragfähig? Und wie können andere von diesen Erfolgen lernen?
»Am stärksten wirken Beispiele« – davon war schon Jakob Muth (1927–1993), Namensgeber des Jakob Muth-Preises, als Vorkämpfer und Wegbereiter des gemeinsamen Lernens überzeugt. Dieser Preis für inklusive Schule zeichnet seit dem Jahr 2009 Schulen aus, die inklusive Bildung beispielhaft umsetzen und so allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, an hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre individuellen Potenziale zu entwickeln. Mit dem Preis wollen die Projektträger positive Beispiele für den gemeinsamen Unterricht bekannt und anderen Schulen Mut(h) machen (vgl. Döttinger in diesem Band).
In den vergangenen sieben Jahren haben sich insgesamt über 600 Einzelschulen beworben. Die von ihnen eingereichten Bewerbungsunterlagen zeigen eindrucksvoll, wie viele Gesichter gut gelebte Inklusion haben kann. Es wird deutlich, wie viele Möglichkeiten es gibt, um den Ansprüchen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) einer lebendigen, bunten und chancenorientierten schulischen Wirklichkeit für alle Kinder näher zu kommen.
Dabei findet jede Schule ihren eigenen Weg. Die Bewerbungen machen deutlich, wie unterschiedlich die Ausgangsbedingungen von Schulen sind und wie häufig institutionelle und individuelle Initiative, Kreativität, Improvisationstalent und Zuversicht gefragt sind, damit das gemeinsame Lernen gut umgesetzt werden kann. In vielen Fällen sind die politischen, finanziellen und personellen Rahmenbedingungen nicht geklärt oder gar gesichert. Einige der Bewerberschulen haben ihren ursprünglichen Ansatz von Grund auf hinterfragt und sich dann, mit dem Fokus auf Inklusion, ganz neu erfunden, andere Schulen haben bereits bei ihrer Gründung den inklusiven Ansatz im pädagogischen Konzept verankert. Eine dritte Gruppe von Schulen hat sich auf Druck von außen hin verändert und geschafft, das Thema von einem fremden zum eigenen Anliegen zu machen.
Die Schritte hin zu einem Unterricht für alle Kinder sehen ebenfalls je nach Schule sehr unterschiedlich aus: Einige Schulen kooperieren zunächst mit Förderschulen, andere beginnen mit der Öffnung einer Klasse für zunächst ein oder zwei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, wieder andere entscheiden sich von Tag eins an für die grundlegende schulweite Öffnung für alle Kinder – unabhängig von Faktoren wie Geschlecht, Herkunft oder dem Förderbedarf. Alle Bewerber verstehen ihren Weg zu einer inklusiven Schule als stetigen Entwicklungsprozess. Mit ihrer Bewerbung zeigen sie, dass sie sich auf einem guten Weg befinden, und können damit andere Schulen anregen, sich ebenfalls zu öffnen. Wie das gehen kann, zeichnet dieser Beitrag anhand konkreter Elemente aus der Praxis von Jakob Muth-Preis-Bewerberschulen nach.
Aus den vielfältigen strukturellen, organisatorischen und inhaltlichen Beispielen, mit denen Jakob Muth-Preis-Bewerberschulen ihren Umgang mit heterogenen Lerngruppen beschreiben, wählen wir unter dem Blickwinkel zentraler Merkmale guter inklusiver Schule (vgl. Arndt und Werning in diesem Band) exemplarisch einige aus und skizzieren sie.
Die sieben Merkmale (Abbildung 1) wurden in Anlehnung an die von Arndt und Werning (in diesem Band) entwickelten Kategorien verwendet und in der Analyse des Materials aus den Schulen leicht verändert.
Wir möchten auf diese Weise einen ersten Einblick in die Praxis von inklusiven Schulen geben, um den dortigen Erfahrungsschatz für andere greifbar und nutzbar zu machen. Wir hoffen, dass andere Schulen und Kollegien von diesen Erfahrungen profitieren und Anregungen für die eigene inklusive Schul- und Unterrichtspraxis ableiten können.
Abbildung 1: Sieben Merkmale guter inklusiver Schule
Quelle: Eigene Darstellung
In der inklusiven Schule stehen die Schüler mit ihrem Bildungserfolg im Mittelpunkt
Im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit aller Bewerberschulen des Jakob Muth-Preises steht das Kind mit seiner individuellen Persönlichkeit, seinen Stärken, Entwicklungsfeldern, Wünschen, Neigungen und Interessen. Alle Schulen eint das Grundverständnis, dass die Heterogenität im Klassenzimmer kein Problem ist, das man bewältigen muss – vielmehr stellt die Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen den (selbstverständlichen) Ausgangspunkt des Lernens dar. Die Lehrkräfte an den Bewerberschulen verstehen sich als Lernbegleiter der Kinder, sie beobachten den Lernprozess, behalten im Blick, wo die Schüler jeweils stehen und welcher nächste Entwicklungsschritt sich für das Kind anbietet.
Auf die Frage, wie ein Kind sein muss, damit es die Schule besuchen kann, antworten die Schulen unter Rückgriff auf ihre jeweiligen Leitbilder mit einer Gegenfrage: Wie muss sich die Schule verändern, damit sich alle Kinder willkommen fühlen und die bestmöglichen Entwicklungschancen vorfinden?
Wie Schulen sich den Bedürfnissen ihrer Schüler öffnen
Wie eine solche Anpassung von Schule an die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen aussehen kann, zeigt das Beispiel der Kinderschule in Bremen. Als Ganztagsschule mit durchgängiger Jahrgangsmischung und Inklusion in allen Klassen bietet die Schule ihren Schülern morgens ab acht Uhr in der Frühbetreuung Zeit zum Ankommen und Gelegenheit für Gespräche, Spiele und den Kontakt mit Kindern aus anderen Gruppen. Der Schultag (Abbildung 2) beginnt um halb neun mit zwei Doppelstunden in den Fächern Lesen, Rechnen und Schreiben. Nach der anschließenden Pause verteilen sich die Kinder, über alle Altersstufen gemischt, auf die verschiedenen Angebote.
Hier steht die Lust der Schüler am eigenen Lernen, Entdecken und Gestalten im Zentrum einer Angebotsstruktur: Alle Lerninhalte – mit Ausnahme von Mathematik und Deutsch – werden in Form abwechslungsreicher Angebote organisiert. So können sich die Grundschüler an jedem Wochentag in der Zeitschiene von 11.00 bis 12.40 Uhr beispielsweise für den »Leseclub«, die »Zeitforscher«, »die Stadterkundung«, »Fußball«, »Theater«, »Film«, »Garten«, »Ackern und Rackern« (Gartenbau auf der schuleigenen Parzelle), »Graffiti« und viele andere kreative Lerngelegenheiten entscheiden. An jedem Wochentag gibt es andere Angebote; die Wahl der Kinder unterliegt nur wenigen Regeln: Im Prinzip sieht damit jeder Wochenplan anders aus – mindestens einmal wöchentlich sollte jeder Schüler allerdings ein Bewegungsangebot nutzen. Immer donnerstags bieten die jüngeren Kinder eigene, von Lehrkräften und pädagogischen Mitarbeitern begleitete Angebote an. In dieser Zeit lernen die Großen Englisch und/oder nehmen am Schulschwimmen teil.
Abbildung 2: Wochenstruktur an der Kinderschule Bremen
Quelle: Kinderschule Bremen
In den meisten Angeboten mischen sich alle Altersgruppen; einige werden bewusst differenziert – wechselnd nach Alter, Geschlecht und Bedürfnissen. Die Angebote reichen jeweils vom Ferienende bis zum nächsten Ferienbeginn. In den zwei Wochen nach den Ferien können die Kinder in diverse Angebote hineinschnuppern. Anschließend entscheiden sie sich für ein Angebot und haben so bis zu den nächsten Ferien einen individuell zusammengestellten, festen Stundenplan. Die Vielfalt und der häufige Wechsel der Angebote bieten allen Kindern viele Möglichkeiten, die eigenen Interessen und Grenzen auszutesten.
Wie ein individuelles Leistungs- und Entwicklungsverständnis aussehen kann
Inklusive Schulen fördern und fordern ihre Schüler individuell, egal ob ein Kind sonderpädagogischen Förderbedarf benötigt, hochbegabt ist oder ein ganz »normaler« Regelschüler ist. Hier vertreten die Bewerberschulen einen konsequent individualisierten Leistungsbegriff.
An der Gemeinschaftsgrundschule Wolperath-Schönau wird die Lern- und Leistungsentwicklung der Schüler in Form von zwei Lernportfolios (zu den genannten Methoden vgl. das anschließende Glossar) dokumentiert: In einem von den Kindern zusammen mit den Eltern angelegten Lernportfolio finden sich die Produkte und Lernergebnisse, die den Kindern wichtig sind und mit denen sie selbst (mithilfe ihrer Eltern) ihre Lernerfolge dokumentieren und einschätzen. Dazu kommt ein Portfolio, das von den Lehrkräften geführt wird und das diagnostische Ergebnisse sowie die darauf abgestimmte Lern- und Entwicklungsplanung enthält. Zusätzlich führt jedes Kind ab dem zweiten Schuljahr ein Lerntagebuch, in dem es wichtige Lernerfahrungen und die geleistete Arbeit festhält. Alle drei Dokumentationen bilden regelmäßig den Ausgangspunkt für gemeinsame Gespräche zwischen Lehrkräften, Eltern und Kindern. Die von den Kindern erarbeiteten Wochenziele können auf diese Weise transparent gemacht und wöchentlich reflektiert werden. Lernportfolios und Lerntagebücher treten an die Stelle von Ziffernzeugnissen. Auf Noten verzichtet die Schule bis zum Beginn der vierten Klasse.
Die Brüder-Grimm-Schule in Ingelheim hat mit Blick auf die Kompetenzentwicklung der Schüler Kompetenzraster ausgearbeitet (Abbildung 3). Diese wurden in Anlehnung an die VERA-Stufen, die Bildungsstandards und die Rahmenpläne entwickelt. Sie werden außerdem zur Leistungsdokumentation und -bewertung verwendet. Anstelle der klassischen Zeugnisse werden an der Schule »Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräche« (S-E-L-G) geführt, in denen die Kompetenzentwicklung (anhand eines Soll-/Ist-Vergleichs) und die Stärken der Kinder im Vordergrund stehen; zum Abschluss gibt es jeweils Zielvereinbarungen für die nächste Zeit. Die S-E-L-G ersetzen in den ersten drei Jahren die Zeugnisse.
Abbildung 3: Ein Kompetenzraster in Deutsch an der Brüder-Grimm-Schule
Quelle: Brüder-Grimm-Schule Ingelheim
Ihre Lernziele und Lernfortschritte halten die Schüler an der Erich-Kästner-Gesamtschule in Hamburg in einem Logbuch fest. Das Logbuch gibt es in verschiedenen Ausführungen, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Im Abstand von zwei bis drei Wochen besprechen die Schüler in den »Logbuchgesprächen« Fortschritte und Hürden mit den Lehrkräften. Darüber hinaus finden zweimal im Jahr ausführlichere Lernentwicklungsgespräche zwischen Schülern, Eltern und Lehrern statt, in denen Vereinbarungen über die nächsten Lernziele getroffen werden. Notenzeugnisse gibt es an der Gesamtschule erst ab der neunten Klasse.
Um inklusiv lehren und lernen zu können, ist es für die Eine-Welt-Schule in Minden entscheidend zu wissen, welche Bedürfnisse jedes einzelne Kind hat. Die Schule erstellt daher für jedes Kind (unter anderem in Anlehnung an die VERA-Ergebnisse) für das gesamte Schuljahr einen individuellen Diagnostikfahrplan. Dieser enthält zum Teil von der Schule selbst erarbeitete diagnostische Schritte, zum Teil aber auch normierte Verfahren, mit deren Anwendung, Auswertung und Interpretation alle Lehrkräfte an der Schule sicher vertraut sind. Jeden Freitag erarbeiten die Lehrkräfte individuelle Wochenpläne für jedes Kind. Die Bearbeitung der Lernanreize in den Wochenplänen wird von den Lehrkräften und Erziehern begleitet und regelmäßig mit den Schülern reflektiert.
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