Mord
eBook - ePub

Mord

  1. 150 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Als Protokollant in der Einlaufstelle eines großen Konzerns wird er tĂ€glich Zeuge von Fehlentscheidungen, die unausweichlich zum Untergang des Unternehmens fĂŒhren werden. Seltsamerweise scheint keiner der Verantwortlichen oder Kollegen von seinen Bedenken und verzweifelten Warnungen Notiz nehmen zu wollen.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783990470473
Die ganze Nacht wachgelegen. Endlich ist es so weit: Ich werde dem Herrn Direktoriumsvorsitzenden meine VorschlÀge unterbreiten. Bisher wurde ich jedesmal abgewiesen. Drei-, viermal hatte mir FrÀulein Wolf im letzten Moment abgesagt. Einmal war es mir gelungen, bereits im Vorraum des Direktionszimmers Platz zu nehmen, aber dann hiess es doch wieder, dass der geehrte Herr Direktoriumsvorsitzende verhindert sei.
Andere hĂ€tten lĂ€ngst aufgegeben. Auch ich war ein paarmal nahe daran. Sobald jedoch mein jĂŒngerer Sohn wĂ€hrend des ĂŒblichen Sonntagspaziergangs in einer der GrĂŒnanlagen am Rande der Stadt wieder einmal eine seiner seltsamen Fragen an mich gerichtet hatte, etwa, weshalb man die Triebwagen der U-Bahn nicht endlich automatisiere, um den Fahrern das schlimme Schicksal zu ersparen, jahrelang unter der Erde im Kreis fahren zu mĂŒssen, oder meine Ă€ltere Tochter wissen wollte, wie es denn zusammenginge, dass Wissenschaftler, die mörderische Waffen erfinden, von unserem PrĂ€sidenten, der doch bei jeder Gelegenheit Frieden und Menschlichkeit als höchstes Gut preise, mit Orden behangen und als besonders vorbildhaft hingestellt wĂŒrden, immer dann, wenn die beiden solche Fragen stellten, gab ich mir stets aufs neue jenen Ruck, den es braucht, um das Unmöglichscheinende zu versuchen, fuhr ich also montags die vier Stockwerke in die Direktionsetage hinauf (wobei ich mir jedesmal wie ein blinder Wasserspringer vorkam, der nicht weiss, ob das Becken, in das er springen wird, gefĂŒllt ist), ging den fensterlosen Gang entlang, klopfte an die TĂŒr Nummer sieben, hinter der FrĂ€ulein Wolf laut Dienstvorschrift Punkt Numero vier BesuchswĂŒnsche, Anregungen und Beschwerden entgegennimmt, und trat nach dem zweiten Klopfen ein.
HĂ€tte jemand das bebrillte FrĂ€ulein Wolf mit hochgesteckten Haaren hinterm Tisch – und mich davor – beobachtet, er hĂ€tte sogleich bemerkt, dass meine Anwesenheit in diesem engen Zimmer höchst unerwĂŒnscht war. Jeder neuaufgenommene Mitarbeiter begreift sehr bald, dass er es am besten unterlĂ€sst, irgendwelche Beschwerden oder Anregungen vorzubringen, und sollte er aus einem eigensinnigen Charakterzug heraus von seinen Absichten nicht abzubringen sein, so hat er sein Anliegen keinesfalls auf die laut Dienstverordnung vorgeschriebene Weise einzubringen, sondern (und das erfĂ€hrt er erst, nachdem er viele Irrwege gegangen ist) hat er einzig und allein seinen Betriebsvertrauensmann davon in Kenntnis zu setzen, welcher wiederum den SekretĂ€r des Betriebsratstellvertreters informiert, der wiederum – sofern das Anliegen von allgemeiner Bedeutung ist – den SekretĂ€r des Betriebsratobmannes davon unterrichtet, und so weiter und so fort.
Die Regeln dieser Vorgangsweise sind allesamt ungeschrieben, fragt man danach, wird man belĂ€chelt. Nur durch eifrige Beobachtung oder den einen oder anderen hilfsbereiten Kollegen kann man im Lauf der Jahre dahinterkommen, wie man sich in diesem oder jenem Fall zu verhalten hat. Ich, zum Beispiel, hatte mehr als zwei Jahre hindurch immer wieder der Dienstvorschrift entsprechend im Zimmer sieben, GebĂ€udeblock A, vierter Stock meinen Wunsch nach einem Treffen mit dem geehrten Herrn Direktoriumsvorsitzenden deponiert, FrĂ€ulein Wolf hatte das fĂŒr solche Besuche vorgesehene Formular jedesmal kommentarlos entgegengenommen, bis mich endlich ein freundlicher Kollege darauf hinwies, dass ich auf diese Weise nichts erreichen werde, ich – einem ungeschriebenen, aber dem einzigen hier in diesem Betrieb geltenden Gesetz zufolge – mich mit meinen WĂŒnschen und Sorgen an den SekretĂ€r des Vertrauensmannes zu wenden hĂ€tte, der, als ich endlich vor ihm stand, laut aufgeseufzt hatte, mir schlaff ins Gesicht blickte und mir mit jeder seiner Bewegungen zu verstehen gab, dass mein Unterfangen, gleichgĂŒltig auf welche Weise ich es betriebe, ohne Erfolg bleiben wĂŒrde.
Warum tue ich mir das an, fragte ich mich, als ich mich mĂŒde vom Zimmer des SekretĂ€rs im GebĂ€udeblock B zu meinem BĂŒrozimmer im zweiten Stock schleppte; und in den Wochen nach diesem ersten Treffen mit dem SekretĂ€r meines Vertrauensmannes verfiel ich derselben stumpfsinnigen Apathie, in der sich die Mitarbeiter unserer Firma mehrheitlich zu befinden scheinen. Ich nahm mir fest vor, meine Arbeit zu tun und dabei das Denken auszuschalten – was aber schwer möglich ist, wenn man offenen Auges stĂ€ndig Protokolle und Berichte ĂŒber den Tisch gereicht bekommt, die Einblick in widersprĂŒchliche Entscheidungen der einzelnen Abteilungen bieten, man auf Anordnungen stösst, die einander aufheben oder torpedieren, man sich tĂ€glich mit MissstĂ€nden konfrontiert sieht, die ĂŒber kurz oder lang zum unaufhaltsamen Untergang des Betriebes fĂŒhren werden. – Wie die Vernichtung seiner eigenen beruflichen Existenz und die seiner Kollegen ohne Wimpernzucken hinnehmen?! Kaum jemand aus der Belegschaft wĂŒrde irgendwo anders Arbeit finden, tausende Menschen wĂŒrden arbeitslos, zu NothilfeempfĂ€ngern degradiert, die Menschen mĂŒssten aus ihren Wohnungen ausziehen, die Kinder die Schulen wechseln, der Griff zur Flasche wĂŒrde sich hĂ€ufen, die Gewalt in den engen Kammern eskalieren. Und dabei wĂ€re diese verhĂ€ngnisvolle Entwicklung leicht zu verhindern. Es mĂŒssten bloss einige geringfĂŒgige VerĂ€nderungen vorgenommen, vor allem die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen endlich in Gang gebracht werden. Und da niemand in unserer Firma einen tieferen Einblick in die Geschehnisse hatte als der Protokollant, also ich, empfand ich es geradezu als meine Pflicht, die Direktion von dieser unheilvollen Entwicklung zu unterrichten, sie zu veranlassen, Massnahmen zu setzen, um den drohenden Konkurs von der Firma abzuwenden.
Herzlichen Dank fĂŒr Ihr Schreiben! – Das Sekretariat der Direktion bestĂ€tigte jedesmal mit freundlichen Worten, meine Briefe in Empfang genommen zu haben, und man ermunterte mich, weiterhin so aktiv fĂŒr die Interessen des Unternehmens einzutreten. Anfangs nahm ich an, die Direktion hĂ€tte tatsĂ€chlich von meinen Beobachtungen Kenntnis genommen und bereits die notwendigen VerĂ€nderungen eingeleitet, aber als nichts dergleichen geschah und alles beim Alten blieb, war mir bald klar, dass solche Antwortschreiben, wie ich sie vom Sekretariat erhielt, automatisch vom Computer ausgedruckt wurden, mit variierenden Floskeln fĂŒr den jeweiligen EmpfĂ€nger.
Wie viele Male betrachtete ich mein verzweifeltes Gesicht im kleinen Standspiegel auf meinem Arbeitstisch neben dem Telefon, nachdem es mir wieder einmal nicht gelungen war, den geehrten Herrn Vorsitzenden oder einen der Direktoren ans andere Ende der Leitung zu kriegen! Die jeweiligen Vorzimmerdamen am Telefon verwiesen mich allesamt an FrĂ€ulein Wolf, ich solle in deren BĂŒro um einen Besuchstermin ansuchen, wie es die Dienstvorschrift – Punkt 4, Absatz d – fĂŒr solche FĂ€lle vorsehe. FrĂ€ulein Wolf nahm dann zwar jedesmal mĂŒrrisch mein diesbezĂŒgliches Ansucheformular entgegen, ohne mir jedoch jemals die Unsinnig- und Aussichtslosigkeit dieses Dienstweges auch nur im geringsten anzudeuten. Wohl bemerkte ich, dass sie mich wie einen AussĂ€tzigen, einen Vollidioten behandelte, wie ein an einer seltsamen Krankheit leidendes Tier, geradeso als wĂ€re sie eine Polizistin und ich ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, den sie allein aus Berufsstolz derart missachten zu mĂŒssen glaubte. Ich begrĂŒndete diese Behandlung durch das FrĂ€ulein jedoch lange Zeit mit meinem titellosen Rang, meiner eher unbedeutenden Gehaltsstufe – Mitarbeitern aus den beiden unteren Stockwerken begegnete man in diesen Etagen gewohnheitsmĂ€ssig gelinde gesagt reserviert –, bis ich endlich begriffen hatte, dass der SekretĂ€rin mit dem sonderbaren Gesicht nicht nur mein niedriger Dienstgrad missfiel, sondern vor allem, dass ich es wagte, den Dienstweg laut Vorschrift in Anspruch zu nehmen, obwohl doch jeder von denen, die in der Firma etwas zĂ€hlten, genau wusste, dass man so etwas nicht macht. Mein nichtwissender Eifer zeugte in den Augen der SekretĂ€rin wohl von einer nicht zu verzeihenden Takt- und Geistlosigkeit, was auf sozial mindere Herkunft des Betreffenden schliessen liess, anscheinend die schlimmste aller Mischungen in den Augen dieser Frau mit den beiden so unterschiedlichen GesichtshĂ€lften, die anzustarren ich – wie angewurzelt vor ihrem Schreitisch stehend – nur mĂŒhsam verhindern konnte: Jedesmal wenn ich meinen (an diverse Mappen auf der ArbeitsflĂ€che oder an der RĂŒckseite ihres Bildschirms gleichsam festgenagelten) Blick ein wenig hob, hatte ich den Eindruck, die eine HĂ€lfte ihres Gesichtes wĂŒrde im nĂ€chsten Moment zu Boden fallen, oder die andere zur Decke des Raumes emporsteigen.
*
Den Betriebsratobmann bekommt ein einfacher Angestellter der Firma kaum jemals zu Gesicht. Genauso wie den Zentralbetriebsratobmann sieht er ihn höchstens bei den jeweils im Abstand von zwei Jahren erfolgenden Wahlveranstaltungen in der zu diesem Zweck ausgerĂ€umten und geschmĂŒckten Maschinenlagerhalle, und dann nur im gĂŒnstigsten Fall von der dreissigsten Reihe aus – die PlĂ€tze davor sind fĂŒr die Angestellten aus den oberen Stockwerken reserviert.
So musste ich von grossem GlĂŒck sprechen, als ich eines Tages eine Vorladung des stellvertretenden Betriebsrats in HĂ€nden hielt, eine grosse Auszeichnung, wie mir Kollegen versicherten – der Begriff Vorladung solle mich dabei nicht irritieren. – Seit Monaten hatte ich die SekretĂ€rin des Betriebsvertrauensmannes zu ĂŒberreden versucht, mich zu ihrem Chef vorzulassen. Sie hatte mich schliesslich an den SekretĂ€r des stellvertretenden Vertrauensmannes verwiesen, und nachdem dieser mich jedesmal, wenn ich ihn abzupassen versuchte, vertröstet oder abgewimmelt hatte, bestellte mich nun völlig ĂŒberraschend der Kollege stellvertretender Betriebsvertrauensmann höchstpersönlich(!) zu sich – ich sehe noch heute das aufgeregte Gesicht des jungen Mitarbeiters vor mir, der mir die Aufforderung des Vertrauensmannes ĂŒberbracht hatte. – »Nicht zum zweiten SekretĂ€r, nicht zum SekretĂ€r des Stellvertreters sondern zum stellvertretenden Vertrauensmann hochpersönlich!«, jubelte ich. Das schien der Durchbruch zu sein.
Das mĂŒrrische Gesicht des stellvertretenden Vertrauensmannes weckte mich dann umgehend aus meinen TrĂ€umen. Vor ihm auf dem Tisch, ein aufgeschlagener Aktenordner, einige SchriftstĂŒcke mit meiner Handschrift: die von mir an die Direktion abgeschickten Briefe, fein sĂ€uberlich registriert. Der Breitgescheitelte mit den hĂ€ngenden Wangenbacken und dĂŒnnem Hals, in einem deutlich zu grossen Anzug, liess mich lange vor seinem Tisch stehen, hinter dem er mehr hockte als sass. Ob es mir denn nicht bekannt sei, murmelte er mit vorerst gepresster, dann immer lauter werdender Stimme, dass ich solcherart Schreiben wenn, dann nur an ihn oder noch besser an seinen SekretĂ€r oder noch besser an den SekretĂ€r des SekretĂ€rs zu adressieren hĂ€tte – ohne mich darĂŒber im Unklaren zu lassen, dass es am besten wĂ€re (sowohl fĂŒr mich als auch fĂŒr das produktive Arbeitsklima im Betrieb), solcherart Schreiben gĂ€nzlich zu unterlassen. Denn Schreiben dieser Art wĂŒrden letzten Endes sowohl mir als auch den Kollegen schaden, meinte der allmĂ€hlich um eine vertrauenswĂŒrdige Miene bemĂŒhte stellvertretende Vertrauensmann mit fester Stimme, nachdem er mir endlich den Stuhl neben dem Tisch angeboten hatte.
Ich solle doch an meine Frau und an meine Kinder denken, sang er beinahe, als er sich von seinem Lehnsessel erhob und zum leeren BĂŒcherregal neben einem nicht sehr grossen Fenster mit Blick auf Baumkronen schritt – seine Augen glĂ€nzten, die Stirn in Falten, die Lefzen hingen herab –, aber selbstredend seien wir ein demokratisches Betriebswesen, in dem jeder Mitarbeiter die Möglichkeit und besonders das von unserer Organisation erkĂ€mpfte Recht habe, Kritik oder VerbesserungsvorschlĂ€ge einzubringen. Allerdings sei zu bedenken – er drehte sich vom leeren BĂŒcherregal (auf dem eine undefinierbare Statue stand) schnell zu mir –, dass es in der Firma genĂŒgend Spezialisten gebe, die sich ĂŒber nichts anderes den Kopf zerbrechen als ĂŒber Strukturfragen und Zukunftsperspektiven, und die dafĂŒr auch gut entlohnt wĂŒrden, um vieles besser als einer wie ich, und das zu Recht, da sie ja auch erheblich mehr Verantwortung als unsereins zu tragen hĂ€tten. Und wenn jetzt ein ganz normaler Angestellter, so einer wie ich, daherkomme und diesen hohen Herrn RatschlĂ€ge von seiner 2.Stock-Perspektive aus erteilen wolle, könne man sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, dass solche VorschlĂ€ge im 4.Stock nicht auf besondere Gegenliebe stiessen (seine Stimme geradezu leidend bemĂŒht, eindringlich zu wirken). Einer wie ich, der so ganz und gar nicht die Regeln innerhalb des Betriebes zu kennen scheine oder sie offenbar nicht einzuhalten gewillt sei, wĂŒrde sehr schnell Gefahr laufen, entweder bei den routinemĂ€ssig nach einer gewissen Anzahl von Dienstjahren unternommenen Vorreihungen ĂŒbersehen zu werden, oder wĂŒrde zumindest durch solcherlei nicht der Ordnung entsprechendes Vorgehen der Belegschaft als höchst eigenbrötlerischer, wenn nicht sogar nicht ganz voll zu nehmender Kollege erscheinen, und als schlimmstes könne man in letzter Konsequenz durch solcherlei AktivitĂ€ten sogar den Arbeitsplatz verlieren. Aber keine Sorge: Just um mich vor solchen Gefahren zu schĂŒtzen, mich vor derlei Unbedachtheiten zu bewahren, sei einer wie er, der stellvertretende Vertrauensmann ja da, noch viel eher allerdings sein SekretĂ€r oder der stellvertretende SekretĂ€r 
 – er wendete das Gesicht rasch zur TĂŒr, als wĂŒrden wir Verbotenes reden und fĂŒrchte er belauscht zu werden.
Also – der Breitgescheitelte mit den glĂ€nzenden brĂ€unlichen Augen setzte sich auf die Tischkante, das Lineal in seiner Hand, die Wangen hingen traurig herab –, wenn ich schon nicht umhinkĂ€me, mir Gedanken ĂŒber den Betrieb und die Zukunft der Firma zu machen, so solle ich wenigstens den dafĂŒr vorgesehenen Instanzenweg einhalten und nicht Stufen zu ĂŒberspringen versuchen, denn das könnte, das wisse jedes Kind – er lachte, seine schlaffen Backen schwabbelten dabei hin und her –, zu schlimmen AbstĂŒrzen fĂŒhren. Ausserdem – sein Gesicht nĂ€herte sich unangenehm nah meinem Ohr –, das wisse man doch aus eigener Erfahrung, fĂŒrchte jeder, der sich umgangen fĂŒhlt, dass man seine TĂ€tigkeit nicht achte, ihn als ĂŒberflĂŒssig betrachte, fĂŒrchte so einer, der BeschwerdefĂŒhrer wĂŒrde vielleicht gar nach dessen besser dotiertem Posten trachten. Kein Wunder also, dass auf eine solche unorthodoxe Vorgangsweise von allen Beteiligten oder ZustĂ€ndigen mit Ablehnung und ZurĂŒckweisung reagiert werde, und man somit der Sache, die man verficht oder zu verfechten vorgibt, solcherart weder diene, noch bei den zustĂ€ndigen Stellen auf wohlwollende Aufnahme geschweige denn auf positive Erledigung seines Anliegens hoffen dĂŒrfe.
Er, der stellvertretende Betriebsratvertrauensmann rate mir daher, in Zukunft – er stiess sich schwungvoll von der Tischkante ab – meine Anregungen den Regeln des Betriebes entsprechend zuerst seinem SekretĂ€r, soll sagen: dem stellvertretenden SekretĂ€r, vorzubringen, der wĂŒrde daraufhin den ersten SekretĂ€r informieren, welcher das Anliegen schliesslich an ihn selbst, den stellvertretenden Vertrauensmann weiterreiche; er seinerseits wĂŒrde dann, falls das Vorgebrachte von allgemeinem Interesse sei, das Sekretariat seines Vorgesetzten, des Vertrauensobmannes, instruieren, das dann nochmals die allgemeine GĂŒltigkeit des Vorgebrachten ĂŒberprĂŒfen und endgĂŒltig darĂŒber befinden werde, ob das Anliegen nur privaten Interessen entspreche oder darĂŒber hinaus fĂŒr die Kollegenschaft und den Betrieb als Ganzes von Bedeutung sei. Falls letzteres zutreffe – er hob das Lineal –, worĂŒber in letzter Instanz wie gesagt einzig der Vertrauensobmann entscheide (und ab jetzt mit dem Lineal im Takt): wĂŒrde das Ansuchen an das Sekretariat des Betriebsratstellvertreters weitergeleitet, worauf der Betriebsratstellvertreter den Akt unterzeichne und schliesslich dem Betriebsratobmann ĂŒbergebe, welcher die solcherart abgesegnete Eingabe bei der halbjĂ€hrigen Betriebsratobmannversammlung zur Diskussion stelle, bis dann von der versammelten Obmannschaft endgĂŒltig darĂŒber befunden werde, ob – in meinem Fall – (er lehnte sich wieder rĂŒcklings an die Tischkante, das Lineal auf seinem Schoss) eine Weiterleitung meiner Beobachtungen an die Firmenleitung empfohlen werde.
Ich solle kein so trauriges Gesicht machen – der offenbar erst kĂŒrzlich abgemagerte, aber noch immer wuchtige Kerl mit dem kahlen Kopf und den glĂ€nzenden braunen Augen ĂŒber den Schwabbelbacken rutschte von der Tischkante und schlug mit dem Lineal auf seine Innenhand –, in meinem Fall stĂŒnden die Chancen sogar eher gĂŒnstig. NatĂŒrlich wĂ€re es das allerbeste, meine Eingabe zurĂŒckzuziehen und einfach still meine Arbeit zu tun, aber wenn ich nun einmal tun mĂŒsse, was ich nicht lassen könne, so stelle das keine Katastrophe dar. Er werde sich fĂŒr mich verwenden, und er könne mir aus Erfahrung sagen, dass der Obmann sowieso alles blind unterschreibe, was er ihm vorlege. Die Sache sei also so gut wie gelaufen. Es sei sogar schon vorgekommen, dass solcherlei VorschlĂ€ge finanziell gratifiziert worden seien. Falls es mir jedoch um eine solche Belohnung ginge, wĂ€re ich gut beraten, eine finanzielle Besserstellung ĂŒber das ĂŒbliche Leistungsschema und nicht durch zweifelhafte Besserwisserei zu erlangen. In unserer Firma habe nun einmal jeder seine Aufgabe, und meine sei es, hauptsĂ€chlich die BeschlĂŒsse, die anderswo gefasst worden seien, kommentarlos zu protokollieren – ein Posten ĂŒbrigens, den man schon bei der EinfĂŒhrung des ersten EDV-Systems wegrationalisieren habe wollen, was nur durch die besondere Initiative des Betriebsratobmannes verhindert worden sei und wohl auch durch den Umstand – der Schlaffwangige mit den grossen Augen lĂ€chelte –, dass die fĂŒr meine Schreibarbeiten zusĂ€tzlich erforderlichen Computer und technischen G...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Kapitel 1