Michael Hüther
Was kosten die Wahlversprechen?
Es ist gute Tradition, dass die Parteien im Vorlauf zur nächsten Wahl mehr oder weniger umfangreiche, mehr oder weniger konkrete Wahlprogramme verabschieden. Man kann darin lediglich ein Ritual ohne politische Folgen sehen, mit der Konsequenz, dass es einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den programmatischen Angeboten nicht bedarf. Doch das wäre zu kurz gesprungen. Irgendetwas findet sich immer im politischen Handeln der späteren Regierungsparteien wieder. Das ist für jede Partei unverzichtbar, wenngleich meist ein fairer Deal mit einem Koalitionspartner für Kompromisslösungen Abstriche von den eigenen Vorstellungen verlangt.
Ignoranz gegenüber der großen Aufgabe: Sicherung des Industriestandorts Deutschland
Die Parteien legen Wahlprogramme vor, damit die Wähler Orientierung über die großen Linien der nächsten Legislaturperiode gewinnen können. Solche Orientierung erfordert freilich mehr als nur die Auflistung von Vorschlägen und Versprechen. Es erfordert zugleich die konzeptionelle Einordnung, den parteiübergreifenden Vergleich und den Versuch einer Wirkungsanalyse. Bill Clinton hatte 1992 seinen Präsidentschaftswahlkampf in den USA unter anderem an dem Sinnspruch „It’s the economy stupid!“ ausgerichtet, um die besondere Bedeutung eines glaubwürdigen Wohlstandsversprechens für den Wahlerfolg zu markieren. Das gilt im Grundsatz unverändert in allen Demokratien; nur in Ausnahmesituationen einer spezifischen politischen Krise oder Herausforderung mag dies in den Hintergrund treten.
Im Bundestagswahlkampf 2013 geht es, getrieben durch die ökonomischen Krisen der vergangenen fünf Jahre, vorrangig um die Frage, ob und wie das deutsche Wohlstandsmodell in die Zukunft geführt werden kann. Dabei kennzeichnet die öffentliche wie die politische Debatte ein eigenartiges Spannungsfeld. So wird einerseits die Stärke der deutschen Volkswirtschaft und ihre relativ stabile Entwicklung in einem recht instabilen Umfeld betont, andererseits aber wird trotz höchstem Beschäftigungsstand und deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit die soziale Frage nahezu im Stil des 19. Jahrhunderts thematisiert. Überdies werden die Sorgen über die europäische Staatsschuldenkrise artikuliert, insbesondere die Frage, welche Risiken sich für Deutschland mittelfristig in tatsächlichen Lasten materialisieren.
In dieser Großwetterlage ist der Spielraum für wirtschaftspolitische Programme bei den Parteien jenseits der Linken geringer als gewöhnlich, denn sowohl an der Reformpolitik der Agenda 2010 von Rot-Grün unter Kanzler Schröder als auch an der europäischen Krisenpolitik von Schwarz-Gelb unter Kanzlerin Merkel sind diese Parteien gleichermaßen konstruktiv beteiligt, jedenfalls so weitgehend, dass sich eine fundamentale Ablehnung im demokratischen Parteienspektrum verbietet. Differenzierungen sind allenfalls in Nuancen vermittelbar.
Vor dieser Kulisse ist es nicht erstaunlich, dass die wirtschaftlich bedeutsamen Teile der Wahlprogramme bei keiner Partei einen großen Entwurf anbieten. Alles, was wir finden, ist kleinteilig und nicht wirklich in einem größeren Zusammenhang eingeordnet. Dabei fällt auf, dass die Programme nur am Rande und kaum explizit wirtschaftspolitische Ziele so weit konkretisieren, dass sich daraus Orientierungen ableiten lassen. Während die Oppositionsparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen verteilungspolitische Ziele in den Vordergrund stellen und die wirtschaftliche Entwicklung selbst nicht zum Thema machen, leben die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP – typischerweise – von der Einschätzung, dass die Lage – nicht zuletzt durch eigenes Zutun – gut ist und deshalb keine besondere wirtschaftspolitische Strategie für die kommenden vier Jahre verlangt.
Der Blick auf die einzelnen Programme und Versprechen im Sinne einer fiskalischen und gesamtwirtschaftlichen Wirkungsanalyse sollte indes nicht übersehen, dass die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik tatsächlich einen neuen umfassenden politischen Ansatz verlangt. Denn nach der krisenpolitischen Dominanz und Absorption der vergangenen fünf Jahre muss nun die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden: Was ist heute zu tun, damit 2023 sowie 2013 im Rückblick gelten kann, dass Wettbewerbsfähigkeit gestärkt, Beschäftigung aufgebaut und Löhne gesteigert werden konnten? Das Geschäftsmodell der deutschen Volkswirtschaft – industriebasiert, dienstleistungsergänzt, innovationsstark und exportorientiert – wird heute von nahezu allen politischen Kräften in höchsten Tönen gelobt. Doch seine Zukunftssicherung steht nicht gleichermaßen im Fokus der Parteien. Fragen nach der Innovationsstärke und der Wettbewerbsfähigkeit finden sich völlig unzureichend in den Wahlprogrammen reflektiert.
Insofern gilt als erster genereller Befund: Die Wahlversprechen der Parteien ignorieren die zentrale wirtschaftspolitische Herausforderung – die Sorge für den Industriestandort Deutschland – und sie sind allein deshalb mit erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Freilich: Diese Kosten lassen sich als Folgen von angekündigtem Unterlassen und Nichthandeln nicht sinnvoll in Zahlen überführen. Dennoch ist dieser generelle Hinweis, dieses allgemeine Caveat (Einschränkung) den konkreten Ableitungen zu den Wahlversprechen voranzustellen.
Zwischen Prinzip Hoffnung und Prinzip Zumutung: die Vorschläge der Parteien
Die Kosten der Wahlprogramme können immer nur Größenordnungen im Vergleich vermitteln, nicht aber exakt auf Euro und Cent bemessen werden. Das ergibt sich aus den notwendigen methodischen und empirischen Beschränkungen. Ebenso ist zu betonen, dass nur ein Teil der Vorschläge überhaupt in quantifizierbare Wirkungen überführt werden kann. Die Analyse erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden die fiskalischen Auswirkungen der sozialpolitischen und der steuerpolitischen Vorschläge ermittelt. Anschließend folgt die Schätzung möglicher Wachstums- und Beschäftigungseffekte im Rahmen eines Wachstumsmodells. Bereits das Beziffern der fiskalischen Folgen ist kein einfaches Unterfangen (Tabelle 1). Denn die Parteien geben in sehr unterschiedlichem Umfang preis, was sie im Fall einer Regierungsbildung vorhaben. So weit wie möglich wird unter Nutzung vorliegender Politikkonzepte versucht, eine Vergleichbarkeit zwischen den Programmen herzustellen.
(1) Steuerpolitische Reformvorschläge
Zentrale steuerpolitische Forderungen der SPD sind die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent, eine Anhebung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge von 25 auf 32 Prozent sowie eine Einschränkung des Ehegattensplittings für zukünftige Ehepaare. Allein diese Maßnahmen führen zu einer Mehrbelastung des Steuerzahlers um 9,4 Milliarden Euro. Ferner soll eine Vermögenssteuer eingeführt werden. Auch wenn letztere nicht im Wahlprogramm spezifiziert wird, erlaubt die jüngste Bundesratsinitiative einiger SPD-geführter Bundesländer einen Blick hinter die Kulissen. Mit einem Steuersatz von 1 Prozent, einem Freibetrag von 1 Million Euro für natürliche Personen und einer Freigrenze von 200.000 Euro für juristische Personen sollen 11,5 Milliarden Euro eingenommen werden – allerdings ohne Rücksicht auf mögliche Ausweichreaktionen der Eigentümer und potenzieller Investoren sowie nicht unerhebliche Kosten der Vermögensbewertung. Nimmt man die Pläne zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer sowie alle übrigen steuerpolitischen Vorschläge hinzu, dann belaufen sich die fiskalischen Folgekosten der sozialdemokratischen Steuerpläne auf näherungsweise knapp 41 Milliarden Euro pro Jahr.
Bündnis 90/Die Grünen wollen nicht nur den Spitzensteuersatz, sondern ebenso den Grundfreibetrag erhöhen. Auch die Grünen wollen den Splittingvorteil begrenzen. Außerdem soll die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge durch die Besteuerung mit dem individuellen Einkommensteuersatz ersetzt werden. Insgesamt steigt die einkommensteuerliche Belastung der Bürger um etwa 13,5 Milliarden Euro – die geplante Erhöhung des Kindergelds um monatlich 22 Euro pro Kind bereits eingerechnet. Die Grünen planen ebenfalls mit einer Vermögenssteuer, die allerdings als einmalige Abgabe 1,5 Prozent betragen soll und über zehn Jahre zu entrichten ist. Weitere Erhöhungen wie zum Beispiel der Unternehmenssteuern oder die Einführung einer Finanztransaktionssteuer treiben die Mehrbelastungen insgesamt auf näherungsweise 45 Milliarden Euro.
Bei der Schätzung der Effekte, die aus dem Programm der Partei DIE LINKE resultieren würden, ist man in weiten Teilen auf die Angaben dieser Partei angewiesen. Zu extrem muten die Forderung etwa nach einer 5-prozentigen Vermögensbesteuerung oder eines Spitzensteuersatzes von 75 Prozent an. DIE LINKE erwartet mittelfristig Steuermehreinnahmen von 171 Milliarden Euro pro Jahr. Bei CDU/CSU sorgen die Vermeidung der kalten Progression sowie die Anhebung der Kinderfreibeträge und des Kindergelds für eine Mindereinnahme von 9,4 Milliarden Euro. Bei der FDP bewirken die Pläne zur Vermeidung der kalten Progression „nur“ eine Entlastung um 5,5 Milliarden Euro, weil im Gegensatz zu CDU/CSU lediglich der Kinderfreibetrag verändert wird.
(2) Rentenpolitische Versprechen
Großzügig sind nahezu alle Parteien bei der Rentenpolitik. Damit wird ein 20 Jahre gültiger impliziter Konsens aufgegeben, der darauf zielte, durch Reformen die Umlagerente demografiefester zu machen, was im Kern auch erreicht wurde. Nun ist offenkundig wieder Zeit für Geschenke, und dafür glauben mit Ausnahme der Liberalen alle Parteien eine Gerechtigkeitslücke zu erkennen. Im Mittelpunkt von Lebensleistungs-, Solidar- oder Garantierente steht unisono die Vorstellung, dass eine vollständige Erwerbsbiografie – nach welchen Kriterien auch immer definiert – zu einer gesetzlichen Altersversorgung oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen müsse. Dabei ist die gesetzliche Rente gar kein hinreichender Indikator für die Armutsgefährdung im Alter. Ohne Rücksicht auf den Haushaltskontext drohen deshalb vor allem teure Mitnahmeeffekte. Schlimmer noch: Wenn Geringverdiener aufgrund ihrer Erwerbs- und Vorsorgebiografie in der Grundsicherung günstiger gestellt werden als andere Bedürftige, droht eine Zwei-Klassen-Grundsicherung. Die Kosten dieser missverstandenen Hilfe werden grosso modo auf zehn Milliarden Euro im Jahr 2030 hinauslaufen – ob aus Steuern (SPD, Grüne) oder Beiträgen finanziert (CDU/CSU).
Der SPD reicht das aber noch nicht: Einfrieren des Rentenniveaus, Verzicht auf Abschläge bei vorzeitigem Rentenbezug für langjährig Versicherte, die Koppelung der „Rente mit 67“ an eine Beschäftigungsquote Älterer – all das lässt die fiskalischen Kosten bis zum Jahr 2030 auf gut 40 Milliarden Euro auflaufen. Drei Viertel müssten allein die Beitragszahler schultern...