Melancholische Billeteure
eBook - ePub

Melancholische Billeteure

  1. 240 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Melancholische Billeteure

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Eine Frau zwischen zwei Männern, und doch keine Dreiecksgeschichte im herkömmlichen Sinn. Dora und Edwin, Billeteure im linken Parkett des Burgtheaters, in dem ihrer Meinung nach die wahren Kenner sitzen, sehen ihre Aufgabe nicht darin, die Besucher zu ihren Plätzen zu geleiten, sondern ihnen die Stücke zu erläutern. Während Edwin sich ausschließlich auf die Kunst konzentriert und nur durch seine Mutter mit ihrem neurotischen Papagei gestört wird, führt Dora mit dem Versicherungsagenten Viktor ein Leben neben dem Theater. Die beiden Männer ahnen nichts voneinander; was die Protagonisten verbindet, ist ihre problematische Jugend, geprägt durch Vaterfiguren, autoritär und lächerlich zugleich. Befreit die Kunst sie von ihren Erinnerungen, oder bleibt sie eine Illusion wie die Auftritte der gescheiterten Opernsängerin, der bei ihrem Debüt die Stimme versagte, und die Bemühungen des Bildhauers, dessen Skulptur "Weltdummheit" von der Realität überholt wird? Ist die Kunst vielleicht nur eine Täuschung, wie für den Juwelier, dem von seinem Vater verboten wurde, sich am Reinhardt-Seminar zu bewerben?

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Melancholische Billeteure von Günther Freitag im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2017
ISBN
9783990470893

DORA

… lange habe ich den Anruf bei der Opernsängerin hinausgeschoben, manchmal sogar ihre Nummer gewählt, aber jedes Mal die Verbindung unterbrochen, bevor sie sich gemeldet hätte. Bei einer Schauspielerin wäre es mir leichtergefallen, von der Oper und Sängern weiß ich nichts. Die Stelle ist wohl längst vergeben, vor mehr als zwei Wochen habe ich die Anzeige gelesen, inzwischen werden sich Dutzende Bewerber vorgestellt haben. Unter denen sind gewiss auch Opernkenner gewesen. Meine einzige Verbindung zur Oper ist der Vater, der von einem Burschenschafter aus Blaubeuren jedes Jahr eine Karte bekam und auf den Grünen Hügel fuhr, unter dem ich mir lange nichts vorstellen konnte. Dass es sich dabei um einen berühmten Ort handelte und es eine Auszeichnung bedeutete, dorthin eingeladen zu werden, ahnte ich, weil der Vater tagelang von nichts anderem sprach. Und das in einem Tonfall, den er nur anschlug, wenn es ihm wieder einmal gelungen war, einen Geschäftspartner zu übervorteilen, ohne dass der es bei der Vertragsunterzeichnung bemerkte hatte. In fernem Land, unnahbar euren Schritten, grölte er betrunken, bezeichnete sich als glühenden Wagnerianer, dem die Italiener und Franzosen mit ihrer Gefühlsduselei auf die Nerven gingen. Nach einem Verdi, Massenet oder gar Puccini würden in allen Opernhäusern der Welt zusätzliche Reinigungskräfte eingestellt werden, die dann in Sonderschichten den verkrusteten Schmalz aus Bodenfugen und Mauerritzen entfernten. Nach drei Stunden verlogener Sentimentalität genüge es nicht, Böden und Sitzpolster mit Staubsaugern zu bearbeiten. Oft müssten Schlagbohrer und Handmeißel eingesetzt werden, um den inzwischen versteinerten Kitsch zu lösen. Danach rief er die Mutter Wellgunde und mich Woglinde und zwang uns, ihm zu Lohengrin oder Parsifal so lange nachzuschenken, bis er in seinem Ohrenstuhl einschlief. Die Erinnerung an diese widerlichen Szenen und die verstrichene Zeit seit dem Erscheinen der Annonce sprechen gegen einen Anruf bei der Opernsängerin. Aber ich darf keine Chance auslassen, muss meine Geldprobleme nach dem zweiten Mahnschreiben wegen der offenen Miete lösen. Vor dem Anruf suche ich im Radio nach einem Sender, der klassische Musik spielt. Ich wähle eine Lautstärke, die garantiert, dass die Musik während des Gesprächs zu hören ist, ohne dieses zu stören. Sie lieben Schubert, das ist schön, sagt eine Männerstimme, was mich überrascht, denn ich hatte die Opernsängerin am Telefon erwartet. Er sei ihr Sohn, erfahre ich von dem Mann, der vorschlägt, dass wir uns am nächsten Vormittag in einem Café am Graben treffen, um über die Betreuung seiner Mutter zu sprechen …
… ich sitze nun schon länger als eine Viertelstunde an einem Ecktisch, von dem aus ich den Eingang im Blick habe. Bei jedem Mann überlege ich, ob er der Sohn der Opernsängerin ist. Aber wie sehen Söhne von Opernsängerinnen aus? Ich teile die Männer in solche ein, mit denen ich ins Bett gehen würde, und solche, von denen ich mich nicht anfassen ließe, weil sie mich schon angezogen abstoßen. Auch in diesem Café ist die zweite Gruppe in der Überzahl, stelle ich enttäuscht fest und denke an Meyerhoff. Sehe ihn mit nacktem Oberkörper auf der Vorbühne stehen. Seine Brust vom Schweiß glänzend. Den ich nicht rieche, weil ich an die Saaltür gelehnt stehe und mir vorstelle, das Publikum wäre längst gegangen. Ich wäre allein mit Kreon, würde meine Uniform abstreifen, Bluse, Jacke und Unterwäsche lägen auf dem roten Boden. Durch den Cercle liefe ich zur Bühne, Meyerhoff streckte mir eine Hand entgegen, schwer atmend wälzten wir uns auf den Brettern, noch bevor er in mich eindränge, wäre es mir zum ersten Mal gekommen. Um meine Erregung zu vergessen, konzentriere ich mich auf den hässlichsten Mann an der Theke, einen fetten Glatzkopf, der die junge Bedienung mit Anzüglichkeiten belästigt. Immer wieder lacht er laut und schlägt sich auf die Schenkel, wobei man unter dem Hosenstoff weiches Fleisch zittern sieht. Meyerhoffs Bild löst sich bald schon auf, und ich denke wieder an die Opernsängerin und ihren Sohn. Was mir aber wegen meiner Erregung schwerfällt. Ob ein Fremder die sieht? Ich rücke die Reclam-Ausgabe von Dantons Tod in die Tischmitte, an dem gelben Buch würde er mich erkennen, haben wir vereinbart. Und während ich noch überlege, ob man meine Geilheit sehen, vielleicht sogar riechen kann, reißt mich eine Stimme, die an Voss erinnert, aus meinen Gedanken. Steinfeld, höre ich, Doktor Steinfeld, und Sie müssen Dora Brückner sein. Dann bestellt er Weißwein, Sie mögen doch Weißwein? Den würde ich brauchen, wenn er mir von seiner Mutter und ihren Besonderheiten berichte. Seine Einleitung verunsichert mich, die Opernsängerin muss ein schwieriger Fall sein, egomanisch, herrschsüchtig, verbittert vielleicht. Auch nachdem wir angestoßen haben, auf eine gute Zusammenarbeit, wie er es nennt, redet er nicht über die Mutter, sondern erzählt von seiner florierenden Zahnarztpraxis in der Josefstädter Straße. Die habe er von seinem verstorbenen Vater übernommen, der auch an der Universität gelehrt habe. Sein Name finde sich in allen Lehrbüchern der Kieferchirurgie, außerdem sei er der Erste gewesen, der in Wien Implantate gesetzt habe. Ihre Mutter ist also Witwe, versuche ich ihn aus den Mundhöhlen weg- und zur Opernsängerin hinzuführen. Bevor er jedoch zu der findet, redet er noch über meinen Dreier links oben, an dem sich eine Verfärbung zeige, die werde er mir kostenlos wegpolieren. Als Einstandsgeschenk, wie er lächelnd anfügt. Beim zweiten Glas, das er minutenlang fixiert, bevor er daran nippt, landet er endlich bei der Sängerin, die er Maman nennt. Das französische Wort passt zu seinem gezierten Auftreten, in dem von der Stimmlage bis zur Seidenkrawatte und den einstudierten Gesten alles darauf angelegt ist zu beeindrucken. In dieser Absicht erinnert mich der Zahnarzt an einen Schauspieler, und ich suche nicht länger nach Details, die ihn als eitlen Angeber entlarven würden. Maman lebe im Stock über seiner Ordination in einer Fünfzimmerwohnung, in der er aufgewachsen sei. Die sei viel zu groß für sie, es komme immer wieder vor, dass sich Maman verirre und nicht mehr wisse, wo sie sich befinde. Dann fürchte sie, in einer fremden Wohnung zu sein, einmal habe sie sogar in der Ordination angerufen und behauptet, entführt worden zu sein. Er habe damals gerade die Wurzelkanäle der Unterrichtsministerin aufgebohrt, um die insanen Nerven eines unteren Backenzahns links zu extrahieren, sei mit dem Bohrer in der Hand vor dem geöffneten Mund der Ministerin gestanden, habe ihre angstgeweiteten Augen gesehen, auch den Schweiß auf ihrer Stirn, und die Behandlung unterbrechen müssen, um einen Stock höher zu laufen und Maman im ehemaligen Zimmer des Dienstmädchens zu beruhigen. Inzwischen habe seine Assistentin der Ministerin Kopfhörer aufgesetzt und ein Mozart-Klavierkonzert vorgespielt, um die Behandlungspause zu überbrücken. Aber der Trick habe nicht gewirkt, weil sich die Frau nicht für klassische Musik interessiere, sondern deutsche Schlager liebe. Nach dieser Geschichte ist klar, weshalb die Stelle noch nicht vergeben ist, und auch ich wäre nach ihr gegangen, gäbe es nicht die Mahnschreiben der Hausverwaltung. Steinfeld muss meine Gedanken erraten haben, denn er bestellt wieder Wein und sagt, mit solchen Problemen wäre ich nicht belastet. Maman werde auch von einem privaten Pflegedienst betreut, meine Aufgabe bestünde darin, ihr Gesellschaft zu leisten. Das könne nur ein Mensch, der fantasievoll sei und die Musik, vor allem die Oper, liebe, sagt er und starrt mir dabei ungeniert in den Ausschnitt …
… seine Mutter, erfahre ich, hatte gerade ihr Gesangsstudium am Mozarteum abgeschlossen und wurde an die Grazer Oper engagiert. Als Zweitbesetzung probte sie die Tosca und träumte davon, die kroatische Erstbesetzung zu verdrängen. Wenn nicht als Tosca, dann als Luisa Miller in der nächsten Produktion. Doch es kam zur Katastrophe, die erste Sopranistin wurde auf dem Weg in die Oper von einem betrunkenen Autofahrer niedergestoßen und lag mit Serienbrüchen monatelang in einem Sanatorium. Seine Mutter erfuhr einen Tag vor der Premiere, dass sie die Tosca singen werde. Beim Einsingen war sie nicht angespannter als die übrigen Sänger, doch als sie zu Cavaradossi in die Kirche kam, versagte ihre Stimme, keinen einzigen Ton brachte sie heraus, die Aufführung musste abgebrochen werden. Als Sängerin war sie erledigt und verkroch sich wochenlang auf der Jagdhütte ihres Vaters im Lungau. Danach folgten Aufenthalte in Schweizer Sanatorien, wo sie depressiv auf Berge oder Seen starrte und kaum sprach. Dort traf sie den alten Steinfeld, der auf einem Medizinerkongress einen Vortrag über neue Methoden in der Kieferplastik hielt. Sie zog mit ihm nach Wien und gründete ein Altenheim für verarmte Musiker. Stellen Sie sich vor, sagt Steinfeld, Maman lebt seit fünfzig Jahren in Wien und ist kein einziges Mal in der Staatsoper gewesen. Edwin und ich kennen das Lampenfieber der Schauspieler, ihre Anspannung, die Weinkrämpfe und Wutausbrüche während der Generalproben, davon sind wir längst nicht mehr zu beeindrucken, weil wir wissen, dass ohne sie keine herausragende Aufführung möglich ist. Aber dass ein Künstler auftritt und kein Wort herausbringt, haben wir niemals erlebt. Wir schweigen; ich, weil ich überlege, wie seine Jugend verlaufen sein mag zwischen einem Kieferchirurgen und der Sopranistin ohne Stimme, und er will wohl herausfinden, was ich von seinem Bericht halte. Ich denke an Wedekind, an Schiller und Büchner, doch die Stücke führen nicht zu Steinfeld. Am Ende bleibt meine Überzeugung, dass ich ohne zu zögern mit ihm schlafen würde. Das ahnt er nicht, eher schon meine Vorbehalte gegen Maman, die er ausräumen möchte. Meine einzige Aufgabe wäre es, Mamans Lethargie zu durchbrechen, sie für ein paar Augenblicke aus ihrer Abwesenheit zu reißen, was am besten gelinge, wenn man mit ihr über Opern spreche oder Kritiken ihrer Auftritte zitiere. Erschrecken Sie nicht, lächelt Steinfeld und zieht aus seiner Aktentasche einen Ordner. In dem seien Hunderte Premierenkritiken gesammelt, die ein Journalist für ihn geschrieben habe. Und das im Layout der größten Tageszeitungen, nicht von echten Artikeln zu unterscheiden, selbst Mamans Fotos seien nur schwer als Fälschung zu entlarven. Ihn habe dieser Ordner zwei Brücken und einen Stiftzahn gekostet, ein Gegengeschäft, beim dem es ausschließlich Sieger gebe. Er könne Maman aus ihrem Dämmerzustand befreien, und der Journalist habe nach ein paar Stunden auf dem Behandlungsstuhl ein saniertes Gebiss, was bei seinem Einkommen niemals möglich gewesen wäre. Jahre hätte der dafür sparen müssen, um das zu bezahlen, was er in wenigen Sitzungen korrigiert habe. Steinfeld wartet auf meine Reaktion, und obwohl ich nicht an Maman, sondern an meine Geldprobleme denke, gelingt es mir nicht, auch nur eine Andeutung von Begeisterung zu zeigen. Ich denke an Edwin und seine Mutter, die im Vergleich mit Maman ein einfacher Fall sein muss. Sie ist arrogant, herrschsüchtig und lebt mit einem Papagei zusammen. Aber das macht sie noch nicht zu einer Verrückten wie Steinfelds Mutter, besäße sie einen Hund und würde mit dem sprechen, wäre das niemandem eine Bemerkung wert. Zahllose Witwen schleppen ihre Köter durch die Parks der Stadt und lassen sie in die Grünflächen scheißen. Das interessiert die Menschen erst, wenn sie die Kotwürste nicht entsorgen. Solange sie die in rosa Säckchen packen und in Abfallkörbe werfen, könnten sie mit den Tieren über jedes Thema sprechen, ohne für verrückt gehalten zu werden. Sie müssten sich weder um den Haushalt noch um Mamans Gesundheit kümmern, Sie wären ausschließlich für Mamans Stimmungsaufhellungsphasen verantwortlich, sagt Steinfeld und sieht mich erwartungsvoll an. Stimmungsaufhellungsphasen, wiederhole ich und denke, das Wort könnte auch von Jonke stammen. Oder für Depressionsunterdrückungsmomente, wenn Ihnen dieser Begriff eher zusagt. Machen wir es so, schlägt er vor, ohne meine Antwort abzuwarten: Ich überlasse Ihnen den Ordner, Sie lesen sich ein und besuchen Maman morgen um zehn Uhr. Die slowakische Pflegerin ist informiert, wird Sie Maman vorstellen und dafür sorgen, dass Sie ohne Störung zwei Stunden mit ihr verbringen können. Am Nachmittag treffen wir uns hier nach meiner Ordination um fünf und werden alle Details besprechen, falls Sie die Aufgabe übernehmen. Bevor Steinfeld geht, legt er seine und Mamans Visitenkarte auf den Ordner. Zum Glück steht am Abend Mutter Courage auf dem Spielplan, eine leichte Aufgabe für Edwin und mich. Aber ich werde Stunden brauchen, um den Ordner durchzulesen …
… eine Minute vor zehn läute ich an der Tür von Steinfelds Mutter, die ich während meines nächtlichen Lesemarathons auch Maman genannt habe und nicht Frau Kammersängerin, wie mir der Zahnarzt beim Abschied eingeschärft hat. Diese Anrede würde augenblicklich eine Vertrauensbasis zwischen uns herstellen, war er überzeugt. Im Gegensatz zu mir, zwar kenne ich genügend Figuren aus Stücken, die es mit Maman spielend aufnehmen könnten, aber anders als ein Großteil der Abonnenten glaube ich nicht, dass es zwischen der Bühne und dem Leben keinen Unterschied gibt. Selbst in jenen penetranten Dramen, mit denen naive Autoren und ihre noch naiveren Regisseure dem Publikum nach zwei Stunden Geduld eine Gebrauchsanweisung für das Leben mit auf den Weg geben wollen, bleiben Gräben, die nicht einmal von euphorischen Kritiken befreundeter Journalisten zugeschüttet werden. Daran ändern auch die hochgestochenen Sätze in den Programmheften nichts, die sind nicht mehr als ein hilfloser Rechtfertigungsversuch. Wenn man uns, was zum Glück nicht in jeder Spielzeit geschieht, solche Machwerke vor den Vorstellungen in die Hand drückt, genügt ein Blick zwischen Edwin und mir. Diesen Schund verkaufen wir nicht, sind wir uns wortlos einig, wir werden den gedruckten Schwachsinn von unserem Publikum fernhalten. Im linken Parkett wird der Geschmacksverirrung und Volksverblödung nicht Vorschub geleistet. Zwar verlieren wir an einem solchen Abend ein paar Euro, können aber als Entschädigung mit reinem Gewissen nach den ermattenden Vorstellungen aus dem Theater gehen. Beruhigend bei solchen Aufführungen ist, dass der stärkste Beifall nicht aus dem linken Parkett, sondern vom zweiten Rang kommt, wo halbgebildete Deutschlehrer mit ihren uninteressierten Schülern sitzen. Die freuen sich schon nach den ersten Szenen darauf, dass sie die Jugendlichen am nächsten Tag mit den typischen Pädagogenfragen konfrontieren werden: Was will uns der Autor mit seinem Stück sagen? Wohin will er uns führen, wenn er sagt … Nirgendwohin will er euch führen, müsste man sie anbrüllen, keinen Schritt würde er mit euch gehen wollen, weil ihn eure Betulichkeit ankotzt, euer beamtetes Besserwissen und eure verstaubte Germanistenweisheit, die längst zwischen Buchdeckel gepresst in den hintersten Regalen der Bibliotheken vermodert. Und sagen will er euch schon gar nichts, weil er sich trotz seiner Naivität und Gier nach Anerkennung vor eurem Lob mehr ekelt als vor dem ärgsten Verriss …
… die slowakische Betreuerin, die Steinfeld erwähnt hat, öffnet die Wohnungstür nur so weit, dass sie ihren Kopf ins Treppenhaus strecken kann. Was ich sehe, verstört mich, an eine Krähe denke ich, aber der Kopf gehört zu keinem Vogel, wenn es auch schwerfällt, bei dem Anblick nicht an einen mythischen Unheilsvogel zu denken, es handelt sich bei ihm zweifelsfrei um einen Menschenkopf, der mich an die bösen Feen in den Märchenbüchern meiner Kindheit erinnert. Damals durften diese Figuren noch Angst und Schrecken verbreiten, ohne dass Waldorfkindergärtnerinnen Elternsitzkreise mit zerstörten Seelen und, durch diese bedingt, zerstörten Existenzen konfrontierten. Während sie sagt, eigentlich nicht sagt, sondern krächzt: Sind wohl angekündigte Gesellschaftsdame von Frau Kammersängerin, weiß ich plötzlich, dass mich ihr Anblick an Adele Neuhauser erinnert. Bloß dass der Slowakin jene Verletzlichkeit fehlt, welche die Schauspielerin trotz aller Kanten und Ungereimtheiten zu einer Sympathieträgerin macht. Müssen entschuldigen die Vorsicht beim Türöffnen, treibt sich genug Gesindel herum, das reiche alte Damen ausraubt oder tötet. Oder beides. Dora Brückner, unterbreche ich die Nebelkrähe, um das lästige Gerede zu beenden, und habe mich inzwischen an das Gesicht und die Stimme gewöhnt. Können sich ausweisen?, herrscht sie mich in einem Tonfall an, der wahrscheinlich in ihrer Heimat zur Grundausstattung von Verhörspezialisten vor dem Prager Frühling gehörte. Will sie mich aus dem Haus ekeln, weil sie um ihre Position fürchtet? Wohl kaum, denn das würde Steinfeld erfahren und nicht gutheißen. Kein Ausweis dabei, sage ich und ärgere mich sofort über meinen unterwürfigen Tonfall und darüber, dass ich die eigenwillige Grammatik ihrer Sätze kopiere. Stockholmsyndrom? Da fällt mir zum Glück ein, dass der Türöffner ja in meiner Umhängetasche steckt: der Ordner mit den gefakten Kritiken. Den reiche ich der Krähe durch den Spalt, worauf sie die Tür zuknallt und erst nach Minuten wieder aufschiebt. Ist zwar kein Dokument, krächzt sie, aber auch keine Falschung. Fälschung, korrigiere ich sie, was sie überhört und mich anherrscht: Treten endlich ein! Als wäre ich schuld an der Verzögerung …
… werde sehen, ob Frau Kammersängerin schon beendet Maske, warten hier, bis gerufen, bestimmt die Pflegerin, ohne mich anzusehen. Dann verschwindet sie hinter einer Tür, die sie sofort schließt. Wir haben eine Viertelstunde vergeudet, stelle ich fest und überlege, ob das für mich von Vorteil ist. Die Zeit mit Maman ist kürzer, lästiger als die Slowakin kann Frau Kammersängerin auch nicht sein. Und ihre Stimme, selbst wenn die bei ihrem ersten Auftritt versagte, wird sich wohltuend von der Krähenstimme unterscheiden, immerhin besitzt die Frau ja ein Gesangsdiplom. Frau Brückner nun hier, ruft die Pflegerin in den Salon. In einem Tonfall, in dem Ausbildner auf Kasernenhöfen Befehle erteilen. Dann fasst sie nach meinem rechten Oberarm und zerrt mich durch die halb geöffnete Tür, gegen die ich mit meiner linken Schulter stoße. Fast hätte ich die Tasche mit der Mappe verloren, aber Maman, die vor einem riesigen Schminkspiegel sitzt und mir den Rücken zuwendet, bemerkt nichts von dem peinlichen Auftritt, der aus einer drittklassigen Komödie stammen könnte. Ob Frau Hölzenbein krank sei, fragt Maman, ohne sich von ihrem Spiegelbild abzuwenden. Ich bin sicher, diesen Namen nicht in der Mappe gelesen zu haben, Steinfeld hat wohl vergessen, ihn zu erwähnen. Bis in die Morgenstunden habe ich mich durch die gefälschten Artikel gequält, und jetzt dieser Reinfall: Auf Mamans erste Frage weiß ich keine Antwort. Die aber auch nicht von mir erwartet wird, denn sie schwärmt von der Hölzenbein, der guten Seele, die vom Beginn ihrer Karriere an ihre Maskenbildnerin gewesen sei. Ahnungslose meinten ja, eine Maskenbildnerin sei eine bessere Kosmetikerin, doch die könnten sich mit ihren Spatzengehirnen nicht annähernd ausmalen, dass diese Arbeit eine höchst künstlerische sei. Sie habe die Hölzenbein niemals als ihre Maskenbildnerin bezeichnet, sondern die treue Seele stets ihre Gesichtslandschaftsarchitektin genannt und vor jeder Vertragsunterzeichnung darauf bestanden, dass ihre Maske von der Hölzenbein entworfen werde. In Mailand habe sich der Direktor der Scala zwar ein paar Tage lang geziert, bis er schließlich zugestimmt habe, um den Premierentermin nicht zu gefährden. Bei einem Abendessen mit Pavarotti habe ihm der französische Regisseur den Begriff Gesichtslandschaftsarchitektin ins Italienische übersetzt, wonach der weltberühmte Tenor beinahe an einer Gabel Spaghetti erstickt sei. Zwei Kellner hätten auf seinen breiten Rücken eingeschlagen, bis der verkeilte Nudelknäuel endlich den Weg durch die Speiseröhre abwärts gefunden habe. Alle Gäste seien wegen der Todesgefahr, in der sich Pavarotti verzweifelt ans Leben geklammert habe, und wegen der Töne, die sie niemals zuvor auf der Bühne von ihm gehört hätten, um ihren Tisch gestanden. Einige mit sorgenvollen Blicken, andere aber wohl auch in der Hoffnung, Zeugen einer Sensation zu werden und ihre Eindrücke vom Todeskampf des Sängers an die Medien verkaufen zu können. Dass einer, der das Vincerò in Nessun dorma so spielend in die größten Häuser schmettere, scheinbar ohne die geringste Kraftanstrengung, in einem Mailänder Nobellokal an Spaghetti vongole zugrunde gehe, sei doch unvorstellbar und dazu geeignet, Verschwörungstheorien nach dem Muster Mozart/Salieri den Weg in die Regenbogenpresse zu ebnen. In der wären dann Spekulationen über Gift in den Venusmuscheln oder feine Drähte in der Pasta zu lesen gewesen, vielleicht sogar über sinistre Machenschaften ausländischer Geheimdienste oder religiöser Splittergruppen. Pavarotti habe überlebt und sich am nächsten Morgen bereits vor der Probe mit der Hölzenbein in seiner Garderobe getroffen. Diese Frau habe ihm die Grenzen der Existenz gezeigt, diese Frau müsse über Fähigkeiten verfügen, auf die er nicht verzichten möchte, werde er gedacht haben, bevor er die Gesichtslandschaftsarchitektin gebeten habe, ihn in Des Grieux zu verwandeln. Nach der Probe habe Pavarotti wie sie darauf bestanden, von der Hölzenbein für Manon Lescaut gestaltet zu werden. Wo ist die Hölzenbein?, fragt Maman in ihren Schminkspiegel. Und später: Sie ist doch nicht ernsthaft erkrankt …
… auch bei der absurden Geschichte über die Gesichtslandschaftsarchitektin und den an seiner Pasta beinahe erstickten Pavarotti hat sich Maman nicht von ihrem Schminkspiegel abgewendet. Meinem Blick ist sie ausgewichen oder hat mich ignoriert, weil sie an meiner Stelle ihre Maskenbildnerin erwartet hatte, obwohl die nur in ihrer Fantasie existiert. Dem Zahnarzt traue ich allerdings zu, dass er in einem Drogeriemarkt eine ältere Kosmetikerin gefunden und für die Rolle bezahlt hat. Wahrscheinlich mit einem Stiftzahn oder einer Teilprothese. Ein anderes Zahlungsmittel scheint er nicht zu kennen, aber in meinem Fall wird er eine Ausnahme machen müssen, denn meine Mietschulden lassen sich nicht mit makellosen Zähnen begleichen. Maman hat zu viel Rouge aufgetragen, das sie mit einem Pad über ihr ganzes Gesicht verteilt. Wie der schlampig geschminkte Clown eines heruntergekommenen Wanderzirkus sieht sie aus und nicht wie eine Opernsängerin. Wissen Sie, die Mailänder Manon Lescaut war ein durchschlagender Erfolg, immer wieder rief das begeisterte Publikum Pavarotti und mich vor den Vorhang, wir verbeugten uns noch vor dem geschlossenen Vorhang, als die ersten Kollegen bereits das Theater verließen. Wir beide wussten, dass der Triumph zum größten Teil der Hölzenbein zu verdanken war, wollten sie auch auf die Bühne holen, aber die Gute, die sich vor Menschenansammlungen fürchtet und auf Flughäfen oder Bahnhöfen zu zittern beginnt, wenn sie von Unbekannten umringt ist, schloss sich in meiner Garderobe ein und war später einem Nervenzusammenbruch nahe. Allein die Vorstellung, mit Pavarotti und mir auf der Bühne der Scala zu stehen, zweitausend Augenpaaren ausgeliefert, stürzte sie in eine Lebenskrise, die sie erst nach einem Sanatoriumsaufenthalt in Arosa einigermaßen überwunden hatte. Ich erkenne die kleinsten Nuancierungen beim Sprechen, weiß auch nach wenigen Augenblicken, was die Schauspieler durch sie bewirken möchten, und bin in diesen Fällen fast immer einer Meinung mit Edwin. Das gibt uns die Sicherheit, unsere Überlegungen den Interessierten im linken Parkett mitzuteilen. Unzählige Male hat sich Schlössheimer dafür bedankt und uns versichert, dass er nach den Hinweisen die Leistung der Schauspieler, manchmal sogar eine ganze Aufführung mit anderen Augen sehe. Maman höre ich nun beinahe eine halbe Stunde zu, irgendetwas an ihrer Stimme wirkt fremd, gekünstelt vielleicht. Woran das liegt, entdecke ich nicht, obwohl ich mich mit geschlossenen Augen nur auf ihre Stimme konzentriere. Aber gerade das, was im Theater rasch Klarheit schafft, versagt bei Maman, die ganze Silben verschluckt, und das nicht bloß am Ende, sondern auch in der Wortmitte, sodass ein eigenartiges Genuschel herauskommt, von dem ich nicht alles verstehe. Doch anders als die Schauspieler auf der Bühne will Maman dadurch nichts ausdrücken, sehe ich im Schminkspiegel, als sie ihre Lippen weit öffnet, um Lippenstift auftragen zu können. Sie muss am Morgen vergessen haben, ihre Zahnprothese einzusetzen. Mit einem Ruck setzt sie ihren Drehhocker in Bewegung und sieht mich überrascht an: Wer sind Sie? Und vor allem, wie kommen Sie in meine Garderobe? Ich denke an meinen Mietrückstand und weiß, jetzt kommt es darauf an, dass ich meine Rolle gut spiele. Überzeuge ich Maman nicht, wird mich Steinfeld nicht engagieren. Frau Hölzenbein ist erkrankt, nichts Besorgniserre...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. EDWIN
  6. DORA
  7. VIKTOR
  8. EDWIN
  9. DORA
  10. VIKTOR
  11. EDWIN
  12. DORA
  13. VIKTOR
  14. EDWIN
  15. DORA
  16. VIKTOR
  17. EDWIN
  18. DORA
  19. VIKTOR
  20. EDWIN
  21. DORA
  22. VIKTOR
  23. EDWIN
  24. DORA
  25. VIKTOR
  26. EDWIN
  27. DORA
  28. VIKTOR
  29. EDWIN
  30. DORA
  31. VIKTOR