Der Sturmgondoliere
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Der Sturmgondoliere

  1. 250 Seiten
  2. German
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Der Sturmgondoliere

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Über dieses Buch

Paolo Meduccini war kein gewöhnlicher Junge. Er sauste mit seinem scheppernden Fahrrad schneller als alle anderen Kinder aus Montaione die toskanischen Hügel hinab, war der Mittelpunkt seiner Clique, träumte fliegen zu können wie ein Flugzeug, roch nach Karamellbonbons und Heu – und immer wieder umhüllte ihn eine seltsame, betrübliche Leere. An einem heißen Sommertag verliebte sich Julia in diesen Jungen, genau an dem Tag, an dem auch der fremde Lucian in Paolos Leben trat. Eine Begegnung mit verheerenden Folgen. Der Sommer 1979 in der Toskana sollte der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen werden. Ein Sommer, angefüllt mit Träumen, Ölbildern, Geheimnissen, Lügen und der Legende vom Sturmgondoliere, der mit Blitz und Donner gesegelt kommt und die Menschen das Fürchten lehrt.Zehn Jahre später, unter einem ähnlichen Gewitterhimmel, wird Paolo Meduccini in eine Katastrophe und ein Wunder gleichermaßen verwickelt: Als Einziger überlebt er den Absturz eines Flugzeugs beim Landeanflug auf Wien. Aber ist er es wirklich? Oder versucht ein Hochstapler seine Fäden zu ziehen? Die Psychologin Graszyna Zanger und der Ermittler Frank Reinhard folgen einer verwirrenden Spur und ihre Recherchen führen sie in das idyllische Montaione. Was sie dort jedoch entdecken, ist eine Tragödie, die sie an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft bringt.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783957710864

Lucians Gemälde

Am Ende des Tages, als die Sonne im Dunst badete und fahlrot unterging, saß Oliver bei einem Glas Rotwein und sah gedankenverloren über die nebelverhüllten Hügel. Frank saß neben ihm, und sie taten, als gäbe es nichts zu reden, drehten die Gläser zwischen den Händen und dachten nach. Später, als es kühler wurde und von der Sonne nur noch ein blasser Schein am Horizont zu sehen war, sagte Frank: »Ich schätze, du musst deine Idee vom Wesen der Geister neu überdenken. Von wegen: Geister seien die Seelen Ungeborener, die kurzfristig zu Fleisch werden, um dem Kanon des Lebens ihren Vers hinzuzufügen. Ich hab’s immer noch nicht verstanden. Was ist passiert?«
Oliver trank, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Gut, soviel wissen wir: Alberto Meduccini hatte wohl eine Liaison mit einer kubanischen Frau, irgendwann 1967 in Florenz. Die Frau legt das Neugeborene vor seiner Tür ab, und er nimmt das Kind an, nicht in Liebe, sondern vermutlich mit dem Gefühl bitterer Pflichterfüllung. Seine Gattin fügt sich dieser neuen – sagen wir: Konstellation – und hilft, das Kind zu versorgen und großzuziehen. Sie halten es – und das ist erstaunlich genug – zwölf Jahre vor der Kleinstadt versteckt, ziehen es groß wie einen Gefangenen, und erst am Tag des Todes wird das Kind, der nunmehr zwölfjährige Paolo Meduccini, wahrgenommen. Mein Gott, was für ein Drama! Was für eine ungeheure Last auf den Schultern dieses Ortes liegt. Aber obschon Paolo geboren worden war und ein Leben hatte und starb, glaube ich nicht, dass das etwas an der Theorie der Geister ändert, wie wir sie bei den Garden vertreten. Es mag klingen wie Kitsch, aber ich glaube, dass Paolo Meduccini erst im Feuer, im Moment seines grauenhaften Todes geboren wurde. Kurz nur, ein paar Atemzüge, aber lange genug, um da zu sein. Der Liebesbrief beweist es. Paolo Meduccini war nicht nur sehr kurz in unserem Leben präsent, sondern auch hier! Höchstwahrscheinlich unter damals Gleichaltrigen. Und wenn ich mich nicht irre, dann haben sie ihn alle vergessen. Er war da wie eine im Hirn, in der Seele explodierende Erinnerung an ein ganzes Leben, das es wirklich gab, aber viel zu kurz gewesen ist, um die Erinnerungen und das, was Erinnerungen auslösen, zu einem Wissen zu binden.«
Frank sagte: »Wir sollten vielleicht noch einmal mit der jungen Frau reden, die den Brief geschrieben hat.«
»Julia Varga.«
»Genau, mit der. Sie war 1979 etwa zwölf Jahre alt, und sie wird hier Freunde gehabt haben, zumindest Schulkameraden oder so, andere Kinder, die jetzt, wie sie, Twens sind.«
»Aber was wollen wir herausfinden?«, fragte Frank zweifelnd. »Nichts davon hat irgendetwas mit dem Absturz des Flugzeugs zu tun. Wir wissen mehr oder weniger, wer Paolo Meduccini war – oder was er ist: ein durch die Zeit irrender Geist, der eben auch altert und der seinen letzten Vers bisher nicht beitragen konnte, um bei Whitman zu bleiben. Was, Oliver, suchen wir denn noch?«
Der Pater trank den Wein und bestellte ein neues Glas beim auffallend gutaussehenden Kellner des Cafés, in dessen Garten sie saßen. Als der Mann schon mit der Bestellung im Lokal verschwinden wollte, rief ihm Oliver eine Frage hinterher: »Junger Mann, sagen Sie, kennen Sie Julia Varga?«
Der Kellner blieb stehen und rief: »Ich kenne sie nicht besonders gut, ich bin erst vor ein paar Jahren aus Florenz hierher gezogen, aber mein Freund, dem das Lokal gehört, der kennt sie aus seiner Jugend.«
»Wer ist denn Ihr Chef, Ihr Freund?«
»Sein Name ist Fabio Baldi. Möchten Sie mit ihm sprechen?«
Oliver nickte: »Sehr gerne, wenn Herr Baldi einen Moment Zeit für uns hätte?«
Der junge Mann grinste schelmisch und sagte mit einem unterdrückten Kichern: »Wenn mein Schatz grad nicht den Weinkeller umräumt, wird er Zeit für Sie haben, Hochwürden.«
»Da war jetzt ein Hauch zu viel Spott in der Stimme«, sagte Frank, grinste ebenfalls, und zwar ziemlich übermütig. »Er wollte uns demonstrieren, dass sie als schwules Paar hier anerkannt und angenommen wurden. Er sagte das mit Stolz, also wird es für sie nicht leicht gewesen sein.«
Ein paar Minuten später kam ein mittelgroßer, blonder Mann mit schönem Gesicht, strahlend blauen Augen und einem wirklich großen Bauch aus dem Lokal, schnappte sich vom Nebentisch einen Klappsessel aus Holz, wirbelte ihn herum und nahm rittlings darauf Platz. Obwohl Fabio Baldi dick war, wirkte an ihm nichts fett oder weich. Er strahlte unnachgiebige, elegante Kraft aus, bewegte sich leichtfüßig wie eine Katze und hatte ein kluges, freundliches Gesicht.
Er sagte: »Ich würde mich freuen, wenn Sie nur wegen meines wirklich ausgezeichneten Hausweins hier wären, meine Herren – und bei Gelegenheit: Wo ist denn die Dame, mit der Sie hier sind? –, doch ich schätze, es führt Sie etwas ganz anderes hierher. Die Gerüchte laufen in Montaione schneller als die Jungs vom Fußballclub, und das will was heißen. Gut, soviel weiß ich: Ein Pater der Reformkirche, ein Spezialist für Flugzeugabstürze und eine Psychologin, alle drei aus Wien, kommen nach Montaione, quartieren sich beim Pater ein und stellen Fragen über Paolo Meduccini, über einen Jungen, der vor zehn Jahren starb. Hab ich es so weit richtig auf die Reihe gekriegt?«
»Gut zusammengefasst, Fabio«, konstatierte Oliver lächelnd. Dann fragte er: »Waren Sie in Ihrer Kindheit, in dem Jahr, in dem die Tragödie geschah, mit Julia Varga befreundet?«
Der Freund Fabios brachte eine neue Runde Wein, und sie tranken. Frank sagte: »Der ist gefährlich gut, der Wein.«
Fabio lachte: »Wem sagen Sie das? Eigener Anbau.« Er nippte und fuhr fort: »Befreundet? Befreundet ist ein großes Wort, mein Lieber. Wir waren Kinder, es war Sommer, und in einer kleinen Stadt wie Montaione gibt es nicht viel, was man im Sommer unternehmen kann. Man ist entweder allein oder man fügt sich in die Gegebenheiten. Wir waren zu dritt unterwegs: Julia, Samuele und ich. Samuele war so etwas wie der Anführer ...«
»Ein Arschloch ist er, ein Dreckskerl, der dich erpresst hat. Verklär nicht die Vergangenheit, denn die hat’s nicht verdient!«, fuhr Fabios Freund dazwischen, der lauschend zwei Tische weiter Herbstblätter von den Tischen wischte.
Fabio seufzte und sagte: »Renato geht an die Decke, wenn er den Namen Samuele hört. Zu recht, Samuele war ein bildhübscher Junge, der alle um den Finger wickelte und gerade in jenem Sommer immer mehr kriminelle Energie entwickelte. Wir waren oft an einem kleinen Teich, in dem das Wasser auch an heißen Tagen kühl war; ältere Jungs hatten dort vor Jahren einen Steg hingezimmert, von dem aus man ins Wasser springen konnte. Den Steg gibt’s heute noch. Aber wie auch immer, in diesem Sommer brannte das Haus der Meduccinis ab bis auf die Grundmauern. Julia, Samuele und ich waren dabei. Und ich weiß noch – Scheißkerl hin oder her –, Samuele hatte geheult, wie ich noch nie einen Menschen weinen sah. Es muss ihn ganz tief im Innersten getroffen haben, die Schreie zu hören. Wir waren alle schockiert und furchtbar entsetzt, aber Samuele brach zusammen, so als wäre da drin der beste Freund aller Zeiten gestorben. Oder der, den er sich zum besten Freund seines Lebens gewünscht hätte. Zwei Tage vor dem Brand kam eine Frau aus Rom nach Montaione auf Urlaub hierher. Ich weiß es so genau, weil ... wir ihr einmal nachgeschlichen waren. Wie gesagt, es war Sommer und heiß und uns todlangweilig. Julia und mir war’s fad, aber Samuele trieb uns an, und als wir beim Haus ankamen, wo sie ihr Zimmer hatte, schlich er um das Haus herum zum Seiteneingang des Patios und kam nach ein paar Augenblicken mit rotem Kopf zurück und murmelte irgendetwas Blödes.«
»Was?«, frage Frank.
»Irgendetwas wie: ›Da war ein Junge, und der ist auf einmal verschwunden, war auf einmal weg.‹ Und ich glaube, mich erinnern zu können, dass er irgendetwas sagte wie, dass der Junge seine Mutter befummelte oder sie ihn. Ich habe irgendetwas von wegen Inzucht im Hinterkopf, keine Ahnung, warum. Wenn irgendetwas war, dann wohl nur Samueles Ego, das sich mehr und mehr aufblies und das eben alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen musste, ob mit wahren oder erfundenen Geschichten. Das war ihm wohl völlig egal.«
»Das klingt sehr bitter«, sagte Frank und sah Fabio ins Gesicht.
Der Wirt senkte den Blick und antwortete beinahe tonlos: »Er hat mich dazu gebracht, mich in ihn zu verlieben. Er war meine erste Liebe, ich war dreizehn, Herrgott noch mal! Und als ich ihn liebte, hat er mich nur noch gedemütigt und gequält und verarscht. Die Tritte eines Menschen ins Herz, in den man sich verliebt hat, wird man lange nicht los, ich kann euch sagen!«
»Was war mit der Frau? Wieso erschien ihnen ihre Anwesenheit bemerkenswert?«
Fabio dachte kurz nach und antwortete, während Renato neben ihm Platz nahm und seine Hand hielt: »Erstens gab es zu jener Zeit nur sehr wenige Touristen in Montaione. Und zweitens: Sie malte. Ich habe drei ihrer Gemälde zu Hause. Die Frau blieb knapp eine Woche, dann verschwand sie und ließ alles zurück, ihre Kleiderkoffer, eine Staffelei und fünf Gemälde. Ich habe mir die drei mit den besten Gondelszenen ausgesucht, weil sie trotz der dunklen Stimmung etwas unglaublich Tröstendes vermitteln.«
»Gondelbilder?«, fragte Frank und spürte, wie ihm heiß und kalt wurde, weil Teilchen ineinander klickten. Seine Hände zitterten, im Nacken stellten sich die Härchen auf. Er schielte zu Oliver, der im matten Licht der Gartenbeleuchtung ebenfalls merklich blass geworden war. Gondelbilder, das Protokoll, die Randnotizen über den Sturmgondoliere ...
»Ja, genau! Auf allen Gemälden sieht man den Bug eines gewaltigen Schiffs oder einer titanischen Gondel aus den Gewitterwolken herausfahren. Das sind vielleicht elegante und mystische Bilder, ich kann euch sagen!«
Frank murmelte: »Der Sturmgondoliere. Paolo hat ihn erwähnt, ich weiß es aus den Unterlagen, ich hab’s schwarz auf weiß!«
Fabio klatschte erfreut in die Hände: »Was für ein toller Titel für die Gemälde: ›Der Sturmgondoliere!‹ Na, ich kann euch sagen!«
Kurz vor Mitternacht, als Frank und Oliver schon laut darüber nachdachten, wo Graszyna geblieben war, kam sie um die Ecke und setzte sich zu der schon ziemlich angetrunkenen Runde. Oliver stellte sie Fabio und Renato vor, und Fabio sagte ruhig: »Sie haben ihn also auch gesehen.«
»Hab ich. Mindestens zwei Mal. Nur kann ich mich nicht an ihn erinnern. Wenn ich nicht die Aufzeichnungen hätte, die ich während der Gespräche angefertigt habe ... Und das ist schade, weil es mir doch eine Aufgabe des Menschseins zu sein scheint, einander in Erinnerung zu bleiben und so ein ... esoterisches Netz der Erinnerungen zu schaffen. Ich meine jetzt nicht so etwas Abgedrehtes wie die Erinnerungen der Bäume, sondern ein undurchdringliches Netz der Wirklichkeit, verstehen Sie?«
Fabio machte mit der Hand die Wippe und deutete mit dem Kinn auf sein halbvolles Glas Wein: »Wenn Sie’s mir morgen nochmal erklären möchten.« Er lachte und rülpste in die vorgehaltene Faust. »Aber so ungefähr verstehe ich, worauf Sie hinaus wollen. Das Netz aller Erinnerungen, und dass es immer größer wird, als Sinn des Lebens. So in etwa?«
Sie grinste breit.
»Wo warst du den ganzen Abend, Graszyna?«, fragte Oliver.
»Ich war im Ort und rundherum spazieren und am Friedhof. Ich habe das Grab gefunden. Es ist das am schönsten geschmückte Grab. Viele Blumen. Wirklich viele, frische Blumen, Steinengel und Kerzen, Kerzen, Kerzen. Sein Grab ist ein sehr berührender Anblick.«
Oliver sagte mit gesenktem Blick: »Die Frau, die hier war. Eine Kubanerin, also. Alberto Meduccini hatte eine Liaison mit einer Kubanerin, die ihr Kind vor seiner Schwelle ablegte. Mir kommt da gerade ein Gedanke, ich meine, er liegt auf der Hand ...«
»Sie ist, ich meine, sie war Paolos Mutter. Die Frau, die einen Tag vor dem Brand da war«, sagte Frank und schüttelte langsam den Kopf.
Graszyna meinte: »Es zog sie immer wieder hierher. Oder vielleicht war sie auch nach zwölf Jahren zum ersten Mal hier und wollte die Chance ergreifen und sehen, wie sich ihr weggegebener Sohn entwickelt hatte. Und stattdessen sieht sie die Trümmer des verbrannten Anwesens und erfährt, dass ein Kind in den Flammen gestorben war. Ihr Kind. Herrgott, ist das eine Tragödie. Ich wusste schon immer, dass das Schicksal schäbig und niederträchtig sein kann, aber so ... Das ist richtig empörend!«
Oliver fragte Fabio: »Lässt sich nach so vielen Jahren noch herausfinden, wer die Frau war? Wie sie hieß? Vielleicht aus alten Gästebüchern oder Ähnlichem?«
Fabio nickte langsam und begann zu lächeln: »Maria, der die Pension gehört, sitzt im kommunistischen Ausschuss des Gemeinderats; zumindest nennen sie sich so, in Wirklichkeit ist es ein Verein alter Tratschgänse. Aber die Mitglieder des kommunistischen Ausschusses schreiben alles auf und heben alles auf, auch die Taktfrequenz ihrer Flatulenz!«
Frank gackerte vor Lachen und sah schon sehr betrunken aus.
»Ich organisiere die Information morgen.« Fabio begann, die leeren Gläser aufs Tablett zu räumen, hielt jedoch einen Augenblick inne und fragte mit Verschwörermiene: »Echt jetzt, Leute, ohne Scheiß. Reden wir hier von einem Geist?«
Oliver sagte: »Ich glaube, wir reden von einem Geist. Denn wenn man existiert, solange jemand sich an einen erinnert, was sind dann die, die vergessen wurden, oder eben ... gerade vergessen wurden?«
Fabio sagte: »Hört, hört!«, und trug das volle Tablett ins Lokal.
Renato stand ebenfalls auf: »Sperrstunde, Freunde. Sonst kriegen wir morgen unsere Hintern nicht aus dem Bett, wenn der Lieferant kommt. Wir können die Plauderei ja gerne morgen Mittag fortsetzen.«
Graszyna streckte sich und gähnte demonstrativ: »Genau. Ich höre den Sirenengesang des Bettes bis hierher. Und die toskanischen Bettfeen singen besonders verlockend.«
Alle lachten leise.
Am nächsten Tag gegen 11:00 Uhr hatte Fabio Oliver und Graszyna mit Maria Liccardi bekannt gemacht, einer resoluten Frau in den Siebzigern, die aussah, als könnte sie mit einer Hand Holz hacken und mit der anderen besoffene Untermieter aus dem Haus werfen. Viel wichtiger jedoch war: Sie hatte ein gutes Gedächtnis und erinnerte sich an die unglückliche Frau aus Rom: »Sie verließ nie das Haus, ich meine, mehr oder weniger nie. Sie kam einen Tag vor dem Brand des Meduccini-Hauses hier an, und sie sah aus wie eine Frau, die, ich weiß nicht genau, die durch den Schmerz ihres Lebens zu einer ganz eigenen Würde gefunden hatte.« Während sie sprach, kramte sie in einem großen Metallkasten in einem fensterlosen Raum, zog Laden auf und schob sie wieder zu, bis sie das Gästebuch gefunden hatte. Sie schlug es auf, blätterte eine Weile in den übergroßen Seiten, und plötzlich rief sie: »Ha!« Sie stach mit dem Zeigefinger auf einen Eintrag: »Yoani Pereira. Wohnhaft in Rom, San Lorenzo, Via Frattina No. 8/2. Der Name ihres Mannes ist Jose Pereira. Ich weiß es selbstverständlich nur zufälligerweise, weil es mich interessiert hat: Also ihr Mann, der ist Kulturattaché von Kuba in Italien. Ein fleißiger Mann. Zu fleißig für eine so schöne Frau, wenn ich das Mal sagen darf; er scheint keine Zeit für sie zu haben – armes Ding. Sie blieb eine Woche und reiste wortlos ab, ließ alles da. Die Kleider gaben wir nach einer Weile zur Wohlfahrt in eine Nachbargemeinde, und die Gemälde und die Staffelei nahm Fabio Baldi, glaube ich. Aber etwas habe ich noch. Ich bin sicher, ich muss es haben. Es war in den Sachen, bei den anderen Dingen ...« Maria Liccardi wandte sich ab und ging durch einen kleinen Korridor hinter ihrem Tresen noch weiter nach hinten ins Halbdunkel eines Archivs. Sie rief nach vorn: »Ich weiß nicht, warum ich es behalten habe. Es bedeutet mir nichts, und ich kenne den Jungen auf dem Foto nicht. Also eigentlich bedeutet es mir schon etwas, früher zumindest. Jetzt, jetzt ist das alles doch schon so lange her.«
Sie kam mit einem Polaroidfo...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Der Umriss einer Erinnerung
  6. Im weißen Raum
  7. Paolo reitet den Sturm
  8. Der kubanische Maler
  9. Lucians Gewitterbilder
  10. Kleine Diebe
  11. Paolos Traum vom Fliegen
  12. Das Kindheitsfoto
  13. Paolo im Krankenhaus
  14. Weizengold und Wolkenschwarz
  15. Das EASA-Interview
  16. Samuele sieht einen Geist und lügt
  17. Die Wut des Samuele
  18. Der Zeuge im Feuer
  19. Im Zimmer ohne Sterne
  20. Der Ermittler und der Weihbischof
  21. Rauch und Asche
  22. Die Reise nach Montaione
  23. Die Stadt und ihre Geister
  24. Brüder im Geiste
  25. Meduccinis roter Hahn
  26. Die Nacht des Sturmgondoliere
  27. Lucians Gemälde
  28. Julias Brief
  29. Sternenkinder
  30. Sturm in den Augen
  31. Mein Bruder
  32. Schlaf, Mama, schlaf!
  33. Die Geschichte von Yoani Pereira
  34. Gute Reise wünsch ich Dir
  35. Die Garden
  36. Der Klang wandernder Planeten
  37. BIOGRAPHISCHES
  38. Weitere E-Books von Größenwahn