Edgar Allan Poe
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Edgar Allan Poe

  1. 580 Seiten
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Edgar Allan Poe

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Über dieses Buch

Dieses umfassende Werk enthält viele phantastische Erzählungen, Gedichte und Verse des großen Dichters Edgar Allan Poe, in denen er exemplarisch seine Begabung, Scharfsinn mit Phantastik zu verbinden, und seinen außergewöhnlichen Hang zum Unheimlichen beweist. Nicht umsonst gilt er als Inkarnation der Schwarzen Romantik.

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Information


Der Doppelmord in der Rue Morgue


Sie ist zwar etwas verblüffend, die Frage:
welches Lied die Sirenen gesungen oder welchen Namen Achilles angenommen,
als er sich bei den Frauen verbarg,
doch liegt ihre Beantwortung nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit.
(Sir Thomas Browne)

Die geistigen Fähigkeiten, welche man gewöhnlich die analytischen nennt, sind selbst, ihrem ganzen Wesen nach, der Analyse sehr schwer zugänglich. Wir beurteilen sie nur nach ihren Wirkungen. Unter anderem wissen wir von ihnen, dass sie, wenn sie in ungewöhnlich hohem Grade vorhanden sind, ihrem Besitzer ein Born außerordentlicher Genüsse sein können. Wie ein starker Mann sich an seiner physischen Tüchtigkeit berauscht und Übungen, die seine Muskeln in Tätigkeit setzen, vor allem liebt, so hat der Analytiker seine höchste Freude an jener geistigen Tätigkeit, die entwirrt und löst. Selbst die trivialsten Beschäftigungen, sofern sie ihm nur Gelegenheit geben, sein Talent zu entfalten, bereiten ihm Vergnügen. Er ist ein Freund von Rätseln, Hieroglyphen und Geheimnissen und zeigt bei der Lösung derselben einen Grad von Scharfsinn, der dem gewöhnlichen Verstände übernatürlich erscheint. Und seine Resultate, zu denen er doch durch rein methodisches Vorgehen gelangt ist, haben in der Tat den Anschein von Intuition. Die Fähigkeit zur Auflösung wird unter Umständen durch mathematische Studien noch bedeutend geschärft; besonders durch das Studium jener höchsten Mathematik, die man ungerechterweise und nur wegen ihrer rückwärts schließenden Tätigkeit Analyse, gleichsam Analyse par excellence genannt hat. Aber bloßes Rechnen heißt noch nicht analysieren. Ein Schachspieler, zum Beispiel tut das eine, ohne das andere auch nur zu versuchen. Daraus folgt, dass das Schachspiel in seinen Wirkungen auf den Geist vollkommen falsch beurteilt wird. Doch will ich hier keine Abhandlung schreiben, sondern lediglich eine etwas sonderbare Erzählung durch ein paar aufs Geratewohl hingeworfene Bemerkungen einleiten. Ich möchte an dieser Stelle nur noch bemerken, dass die höheren Kräfte des überlegenden Geistes durch das bescheidene Damespiel viel lebhafter und nutzbringender angestrengt werden als durch die anspruchsvollen Nichtigkeiten des Schachspiels. Bei diesem Spiel, in dem die Figuren verschiedene und absonderliche Bewegungen von verschiedenem und veränderlichem Werte ausführen können, hält man sehr oft für tief, was nur kompliziert ist. Hier wird die Aufmerksamkeit auf das lebhafteste angespannt. Wenn sie einen Augenblick erlahmt, unterläuft einem ein Versehen, das zu Verlust oder gar zur Niederlage führt. Da die möglichen Züge nicht allein sehr zahlreich, sondern auch von ungleichem Werte sind, liegt die Möglichkeit eines solchen Versehens sehr nahe und in neun von zehn Fällen wird der aufmerksamere Spieler über den geschickteren den Sieg davontragen. Beim Damespiel hingegen, bei dem es nur eine Art von Zügen mit wenig Veränderungen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Versehens geringer; und da die bloße Aufmerksamkeit verhältnismäßig wenig ausrichtet, kann man die Vorteile, die sich eine Partei vor der anderen verschafft, nur ihrem größeren Scharfsinn zuschreiben. Um weniger abstrakt zu sein: Stellen wir uns ein Damespiel vor, dessen Steine bis auf vier Könige zusammengeschmolzen sind, sodass kein Versehen mehr stattfinden kann. Es liegt auf der Hand, dass hier der Sieg, vorausgesetzt, dass die Spieler gleich tüchtig sind, nur durch irgendeinen ganz geschickten Zug, der das Ergebnis einer starken Anstrengung des Verstandes ist, herbeigeführt werden kann. Seiner gewöhnlichen Hilfsquellen beraubt, versetzt sich der Analytiker in den Geist seines Gegners, identifiziert sich mit demselben und erkennt nicht selten auf den ersten Blick die einzige Möglichkeit, sie ist oft ganz absurd einfach, durch die er seinen Partner irreführen und zu falscher Berechnung verleiten kann.

Lange Zeit war der Whist wegen seines Einflusses auf die Fähigkeit der Berechnung berühmt; und man kennt Männer von höchster Intelligenz, die ein anscheinend unerklärliches Vergnügen an diesem Spiele fanden, während sie das Schachspiel als kleinlich verschmähten. Ohne Zweifel gibt es nichts Ähnliches in der Art, was die analytischen Fähigkeiten so gründlich übte. Der beste Schachspieler der Christenheit braucht nichts weiter zu sein als eben der beste Schachspieler, aber die Tüchtigkeit im Whistspiel lässt auch in allen anderen und wichtigeren Unternehmungen, in denen der Geist mit dem Geiste kämpft, auf Tüchtigkeit und Erfolge schließen. Ich meine mit dem Worte ‘Tüchtigkeit’ jene vollkommene Beherrschung des Spiels, die alle Quellen, aus denen rechtmäßiger Vorteil gezogen werden kann, kennt. Sie sind nicht allein zahlreich, sondern auch vielartig und entspringen häufig in Gedankenklüften, die einer durchschnittlichen Begabung vollständig unzugänglich sind. Aufmerksam beobachten heißt: sich bestimmter Dinge gut erinnern können; deshalb wird sich ein Schachspieler, der an Konzentration gewöhnt ist, sehr gut zum Whist eignen, zumal die Regeln des Hoyle, die selbst nur auf dem bloßen Mechanismus des Spiels basieren, allgemein verständlich und ausreichend sind. Ein gutes Gedächtnis haben und regelrecht nach dem Buche spielen, hält man in den meisten Fällen für die Summe aller Erfordernisse zu gutem Spiel. Doch die Kunst des Analytikers zeigt sich in den Dingen, die außerhalb der Regel liegen. Stillschweigend macht er eine Menge Beobachtungen, aus denen er seine Schlüsse zieht. Die Mitspielenden tun vielleicht desgleichen und der Unterschied in der Tragweite der erhaltenen Kenntnis liegt nicht so sehr in der Gültigkeit des Schlusses als in dem Wert der Beobachtung. Das wichtigste ist, zu wissen, was man zu beobachten hat. Der Spieler, den ich hier im Sinne habe, beschränkt sich nicht auf das Spiel allein und verwirft keine Schlüsse, die außerhalb desselben liegen, aus dem bloßen Grunde, weil das Spiel der hauptsächlichste Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ist. Er studiert den Gesichtsausdruck seines Partners und vergleicht ihn sorgfältig mit dem der Gegner. Er beachtet die Art und Weise, in der die Karten in der Hand geordnet werden und zählt oft Trumpf auf Trumpf, Honneurs auf Honneurs an den Blicken nach, mit denen ihr Besitzer sie betrachtet. Während das Spiel seinen Lauf nimmt, beobachtet er jede Veränderung des Gesichtes und sammelt aus dem verschiedenen Ausdruck von Sicherheit, Überraschung, Triumph oder Ärger eine Fülle von Gedanken über das jeweilige Spiel. Aus der Art und Weise, wie jemand einen Stich aufnimmt, schließt er, ob die betreffende Person noch einen anderen in derselben Farbe machen kann. Er erkennt an der Miene, mit der jemand die Karte auf den Tisch wirft, ob er mogelt. Ein gelegentliches oder unbedachtes Wort, das zufällige Fallen oder Umwenden einer Karte, die Ängstlichkeit oder Sorglosigkeit, die diesen Vorgang begleitet, das Zählen der Stiche, ihre Anordnung, ferner Verwirrung, Zögern, Hast, Bestürzung, alles dient seiner scheinbar intuitiven Erfassung vom Stande der Dinge als Symptom und Erkennungszeichen. Wenn die zwei oder drei ersten Runden gespielt worden sind, kennt er die Karten von jedem der Mitspielenden und gibt von da ab seine eigenen mit so unfehlbar sicherer Berechnung aus, als spiele die übrige Gesellschaft offen. Die Fähigkeit zur Analyse darf nicht mit bloßer Klugheit verwechselt werden; denn während der Analytiker unbedingt klug ist, hat der kluge Mann oft auffallend wenig Begabung für Analyse. Die aufbauende und berechnende Kraft, durch welche sich die Klugheit gewöhnlich äußert, und der die Phrenologen, ich glaube irrtümlicherweise, ein besonderes Organ zugeschrieben haben, da sie dieselbe für eine eingeborene Fähigkeit hielten, ist so oft bei Menschen, deren Verstand im Übrigen an Blödsinn grenzte, beobachtet worden, dass diese Tatsache unter Moralschriftstellern Aufsehen erregte. Zwischen Klugheit und analytischer Fähigkeit besteht ein viel größerer Unterschied als zwischen Fantasie und Einbildungskraft, obwohl er von vollständig analogem Charakter ist. Man wird in der Tat immer finden, dass die klugen Menschen fantasiereich und die mit wirklicher Einbildungskraft begabten stets Analytiker sind.

Die folgende Erzählung wird dem Leser vielleicht in mancher Beziehung eine Erläuterung zu den eben aufgestellten Behauptungen sein. Während meines Aufenthaltes in Paris im Frühling und Sommer des Jahres 18.. machte ich die Bekanntschaft eines Herrn August Dupin. Der junge Mann stammte aus einer guten, ja aristokratischen Familie, doch war er durch verschiedene widrige Ereignisse in solche Armut geraten, dass seine ganze Willenskraft in ihr unterging und er gar keine Anstrengungen mehr machte, sich wieder in glücklichere Verhältnisse heraufzuarbeiten. Seine Gläubiger ließen aus Anständigkeit einen kleinen Teil seines väterlichen Erbteils in seinen Händen, von dessen Zinsen er gerade sparsam leben konnte. Bücher waren der einzige Luxus, den er sieh erlaubte; und in Paris kann man sich diesen leicht gestatten. Wir trafen uns zum ersten Mal in einer kleinen Buchhandlung in der Rue Montmartre, wo uns ein Zufall, wir suchten beide dasselbe sehr seltene und merkwürdige Buch, in nähere Beziehung brachte. Wir sahen uns des Öfteren wieder. Ich interessierte mich lebhaft für die kleine Familiengeschichte, die er mir mit der ganzen Aufrichtigkeit, mit welcher der Franzose von seinem eigenen Ich spricht, erzählte. Auch war ich über seine große Belesenheit erstaunt und vor allem fühlte ich, wie meine Seele von der urwüchsigen Kraft und seltenen Üppigkeit seiner Fantasie mit entflammt wurde. Ich verfolgte damals ganz bestimmte Ziele in Paris und sagte mir, dass die Gesellschaft eines solchen Mannes zur Erreichung derselben von unermesslichem Nutzen sein musste. Ich teilte ihm dies auch offenherzig mit. Schließlich kamen wir überein, während meines Aufenthaltes in Paris zusammen zu wohnen; und da meine Verhältnisse weniger beschränkt waren als die seinen, war es mir möglich, ein wetterzerstörtes, grotesk anzuschauendes Haus, das wegen eines Aberglaubens, dem wir jedoch nicht weiter nachforschten, verödet stand und in einem abgelegenen, einsamen Teile des Faubourg St. Germain seinem Verfall entgegenging, zu mieten und in einem Stil zu möblieren, welcher der phantastischen Düsterkeit unserer beider Gemütsart wohl entsprach. Wäre die Lebensweise, die wir in dieser Wohnung führten, der Welt bekannt geworden, man hätte uns für Wahnsinnige gehalten, wenn auch für harmlose. Besucher ließen wir jedoch niemals ein. Unseren Zufluchtsort hatte ich vor all meinen früheren Bekannten sorgfältig geheim gehalten. Dupin hatte schon seit Jahren jeglichen Verkehr in Paris aufgegeben. So lebten wir nur für uns allein. Mein Freund hatte die wunderliche Grille, wie sollte ich es anders nennen, in die Nacht um ihrer selbst willen verliebt zu sein; bald teilte ich diese Sonderbarkeit wie alle seine übrigen und überließ mich rückhaltlos solchen seltsamen Eigenarten. Die schwarze Gottheit wollte zwar nicht immer bei uns wohnen, doch schafften wir uns Ersatz für ihre Gegenwart. Beim ersten Morgendämmern schlossen wir all die schweren Fensterläden des alten Hauses und zündeten ein paar stark parfümierte Kerzen an, die nur einen gespenstisch schwachen Schimmer um sich verbreiteten. Bei ihrem Lichte versenkten wir unsere Seelen in Träume, lasen, schrieben, unterhielten uns, bis die Uhr den Anbruch der wahren Dunkelheit ankündigte. Dann eilten wir Arm in Arm hinaus in die Straßen, fuhren in den Gesprächen des Tages fort oder streiften bis spät in die Nacht umher und genossen in den seltsamen Licht- und Schattenseiten, wie sie jede volkreiche Stadt aufweist, jene Unendlichkeit von geistigen Anregungen, die sie dem ruhigen Beobachter allzeit gewähren. Bei solchen Gelegenheiten musste ich immer wieder und wieder Dupins hervorragende Fähigkeiten zu analysieren, auf die mich sein reiches Geistesleben schon vorbereitet hatte, bemerken und bewundern. Die Ausübung derselben schien ihm, selbst wenn niemand Kenntnis davon nahm, lebhaftes Vergnügen zu bereiten und er gestand dies auch offen ein. Mit leisem, kicherndem Lachen rühmte er sich einstmals mir gegenüber, dass die meisten Menschen für ihn Fenster in der Brust hätten und oft unterstützte er derartige Behauptungen durch sofortige und erschreckend deutliche Beweise, die mir zeigten, dass er mich selbst und meine Gedanken auf das Genaueste errate. In solchen Augenblicken war sein Wesen kalt und wie zerstreut, seine Augen blickten ausdruckslos vor sich hin, seine Stimme, die sonst einen Tenorklang hatte, schraubte sich zu einem Diskant hinauf, den man für Ausgelassenheit gehalten haben könnte, wenn einem nicht die Bedachtsamkeit und Deutlichkeit der Aussprache aufgefallen wäre. Wenn ich ihn in solchen Stimmungen sah, musste ich immer an die alte Philosophie von dem Zweiseelensystem denken und amüsierte mich mit der Vorstellung eines doppelten Dupin, eines schöpferischen und eines auflösenden. Es wäre jedoch falsch, wenn man hieraus schließen wollte, dass ich beabsichtigte, ein Geheimnis zu entschleiern oder einen Roman zu schrei- ben. Was ich von dem Franzosen erzählte, war nur einfache Tatsache und als solche das Ergebnis einer übererregten, vielleicht krankhaften Intelligenz. Die beste Vorstellung von der Art seiner Beobachtungen in jener Zeit wird folgendes Beispiel geben. Eines Abends schlenderten wir eine lange, schmutzige Straße in der Nähe des Palais Royal hinunter. Da wir beide tief in Gedanken waren, hatten wir wohl eine Viertelstunde lang kein Wort miteinander gesprochen, bis Dupin ganz plötzlich ausrief: “Er ist wirklich ein sehr kleiner Kerl und würde besser ins Varietetheater passen.” “Zweifellos”, erwiderte ich unwillkürlich und bemerkte zuerst gar nicht (so tief war ich in Nachdenken versunken gewesen), auf welch sonderbare Art diese Worte meine Träumereien fortsetzten. Gleich darauf besann ich mich und geriet natürlich in Erstaunen. “Dupin”, sagte ich ernst, “das geht über meine Begriffe. Ich sage Ihnen offen, dass ich sehr überrascht bin und meinen Sinnen kaum trauen kann. Wie konnten Sie wissen, dass meine Gedanken gerade bei ... “ Ich hielt inne, um mich ganz und gar zu überzeugen, ob er wisse, an wen ich gedacht hatte. bei Chantilly waren,” vollendete er. “Weshalb hielten Sie inne? Sie dachten doch vorhin darüber nach, dass ihn seine kleine Statur zum Tragöden untauglich mache!?” Über diesen Punkt hatte ich allerdings soeben nachgesonnen. Chantilly war ein ehemaliger Schuhflicker aus der Rue St. Denis, der in einem Anfall von Theaterwut versucht hatte, die Rolle des Xerxes in Crebillions gleichnamiger Tragödie zu spielen und für seine Mühe nur bitteren Hohn geerntet hatte. “Erklären Sie mir um Himmels willen”, rief ich aus, “die Methode, wenn Sie methodisch vorgegangen sind, mit der Sie meine Seele derart erforschen konnten.” Ich war in Wirklichkeit noch verblüffter, als ich zeigen wollte. “Der Fruchthändler”, versetzte mein Freund, “veranlasste Sie zu dem Schluss, der Sohlenflicker sei nicht groß genug für einen Xerxes und die ganze Reihe ähnlicher Rollen.” “Der Fruchthändler? Wieso? Ich kenne gar keinen.” “Ich meine den Mann, der Sie beim Einbiegen in die Straße anrannte. Es ist vielleicht eine Viertelstunde her.” Jetzt erinnerte ich mich, dass ich in der Tat von einem Fruchthändler, der einen großen Korb Äpfel auf dem Kopfe getragen hatte, fast umgerannt worden wäre, als wir aus der Rue C.. in den Durchgang eingebogen, in dem wir jetzt standen. Aber was dies mit Chantilly zu tun hatte, war mir nicht klar. Dupin war jedoch so wenig Scharlatan wie nur irgendjemand. “Ich will Ihnen die Sache erklären”, sagte er, “und damit Sie alles recht verstehen, wollen wir den Lauf Ihrer Gedanken zurückverfolgen, von dem Augenblick an, da ich Ihre Betrachtungen unterbrach, bis zu dem Zusammenstoß mit dem Fruchthändler. Die Hauptglieder der Kette sind folgende:, Chantilly, Orion, Dr. Nichols, Epikur, Stereotomie, das Straßenpflaster, der Fruchthändler.”

Es gibt wenig Leute, die sich nicht zuweilen damit amüsiert hätten, die Schritte zurückzuverfolgen, durch die ihr Verstand zu irgendwelchen Schlüssen gekommen ist. Die Beschäftigung kann sehr interessant sein; und mancher, der sich zum ersten Mal in ihr versucht, ist höchst erstaunt über die scheinbar unendliche Entfernung zwischen dem Ausgangspunkt und dem Endpunkt seiner Gedanken und die Unzusammengehörigkeit beider. Groß war auch mein Erstaunen, als ich nun die Ausführungen des Franzosen vernahm und zugeben musste, dass er die Wahrheit sprach. Er fuhr fort: “Wir hatten, wenn ich mich recht erinnere, kurz ehe wir die Rue C.. verließen, von Pferden geredet. Das war unser letzter Gesprächsstoff. Als wir in diese Straße einbogen, eilte ein Fruchthändler mit einem großen Korb Äpfel auf dem Kopfe rasch an uns vorüber und drängte Sie dabei auf einen Haufen Pflastersteine, die an einer Stelle, wo der Fußsteig ausgebessert wird, aufgeschüttet lagen. Sie traten auf einen der losen Steine, glitten aus, verstauchten sich ganz leicht den Fuß, schienen verärgert oder verstimmt, murmelten ein paar Worte, blickten sich nach dem Steinhaufen um und gingen dann schweigend weiter. Ich schenkte Ihnen keine weitere Aufmerksamkeit, nur ist mir seit einiger Zeit das Beobachten zur Notwendigkeit geworden: Ich nahm also wahr, dass Sie Ihre Blicke zu Boden gesenkt hielten, mit unmutigem Ausdruck die Löcher und Spalten im Pflaster betrachteten, woraus ich schließen musste, dass Sie noch an die Steine dachten, bis wir die kleine Lamartinestraße erreichten, die versuchsweise mit gerippten, fest übereinandergreifenden Steinen gepflastert ist. Hier hellte sich Ihr Gesicht auf und als ich sah, dass Sie die Lippen bewegten, konnte ich nicht zweifeln, dass Sie das Wort ‘Stereotomie’ flüsterten,, übrigens ein ziemlich anspruchsvoller Name für diese einfache Art von Pflasterung. Ich wusste, dass Sie das Wort nicht aussprechen konnten, ohne an Atome und weiter an die Lehre Epikurs denken zu müssen und da ich zu Ihnen, als wir vor kurzem über diesen Gegenstand redeten, bemerkt hatte, wie wunderbar die vagen Vermutungen dieses edlen Griechen von den neueren Entdeckungen der Nebular-Kosmogonie bestätigt worden seien, erwartete ich mit Gewissheit, dass Sie zu dem großen Nebel im Orion aufblicken würden. Sie taten es und ich war sicher, Ihrem Gedankengange richtig gefolgt zu sein. In dem bitteren Spottartikel über Chantilly, der gestern im ‘Musée’ erschien, machte der Satiriker einige verächtliche Anspielungen auf die Namensveränderung, die der Schuhflicker beim Besteigen des Kothurn vorgenommen und führte einen lateinischen Vers an, über den wir oft gesprochen hatten, nämlich: ‘Perdidit antiquum litera prima sonum.’ Ich sagte Ihnen, dass sich dies auf den Orion bezöge, den man früher Urion schrieb und war sicher, dass Sie die Erklärung wegen gewisser Einzelheiten, die mit ihr verbunden waren, nicht, vergessen hatten. Ich konnte also mit Sicherheit schließen, dass Sie die beiden Begriffe Orion und Chantilly unwillkürlich miteinander verbinden würden. Dass dies auch wirklich der Fall war, erkannte ich aus der Art des Lächelns, das jetzt um Ihre Lippen zuckte. Sie dachten an die Abschlachtung des armen Schusters. Bis dahin waren Sie ein wenig gebückt einhergegangen, nun sah ich, dass Sie sich zu Ihrer vollen Höhe aufrichteten. Ich war überzeugt, dass Sie an die kleine Statur Chantillys dachten. An dieser Stelle unterbrach ich Ihren Gedankengang mit der Bemerkung, dass er wirklich ein kleines Kerlchen sei und besser täte, zum Variete zu gehen.”

Kurze Zeit später lasen wir zusammen die ‘Gazette des Tribunaux’ durch und wurden auf folgende Notiz aufmerksam: ‘Sensationeller Mord!!! Heute Morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartiers St. Roch durch anhaltendes grässliches Geschrei aus dem Schlafe geschreckt. Die Hilferufe drangen anscheinend aus dem vierten Stockwerk eines Hauses in der Rue Morgue hervor, welches, wie man wusste, nur von einer Madame L’Espanaye und ihrer Tochter, Mademoiselle L’Espanaye, bewohnt war. Nach einigen Verzögerungen, die dadurch entstanden waren, dass man versucht hatte, sich auf gewöhnlichem Wege Eingang zu verschaffen, wurde die Haustür mit einer Eisenstange erbrochen und acht oder zehn Nachbarn traten, von zwei Gendarmen begleitet, ein. Mittlerweile waren die Schreie verstummt, aber als die Leute die erste Treppe hinaufstürzten, unterschieden sie zwei oder mehr raue Stimmen, die sich ärgerlich stritten und aus dem oberen Teil des Hauses hervorzudringen schienen. Als man den zweiten Treppenabsatz erreichte, hörten auch die Töne auf und alles blieb totenstill. Die Leute verteilten sich und eilten von einem Zimmer ins andere. Ein großes Hinterzimmer im vierten Stock fanden sie von innen verschlossen und brachen die Tür auf. Da bot sich ein Anblick dar, der die Anwesenden mit Grauen und nicht geringem Erstaunen erfüllte. Das Zimmer war in der wildesten Unordnung: die Möbel zertrümmert und nach allen Seiten umhergeworfen. Aus einer Bettstelle waren die Betten herausgerissen und in die Mitte des Zimmers geschleppt worden. Auf einem Stuhl lag ein mit Blut beflecktes Rasiermesser. Auf dem Kamin fand man zwei oder drei lange, dichte Flechten von grauem Menschenhaar, die auch mit Blut besudelt waren und mit den Wurzeln herausgerissen zu sein schienen. Auf dem Boden lagen vier Napoleons, ein Ohrring mit einem Topas, drei große silberne Löffel, drei kleinere von ‘metal d’Algier’ und zwei Beutel, die beinahe viertausend Francs in Gold enthielten. Die Schubfächer eines Schreibtisches standen offen und waren ohne Zweifel geplündert worden, obgleich sie noch eine Menge Gegenstände enthielten. Eine kleine eiserne Geldkiste wurde unter den Betten (nicht unter der Bettstelle) gefunden. Sie stand ebenfalls offen, der Schlüssel steckte noch im Schloss. Ihr Inhalt bestand aus alten Briefen und einigen anderen unwichtigen Papieren. Von Madame L’Espanaye war keine Spur zu entdecken, aber da man auf dem Kamin eine ungewöhnliche Menge Ruß bemerkte, forschte man im Kaminrohr nach und zog, es ist grauenhaft, nur daran zu denken, den Leichnam der Tochter aus ihm hervor, der mit dem Kopf nach unten ziemlich hoch in den Schlot hinaufgezwängt worden war. Der Körper war noch ganz warm. Bei der Untersuchung entdeckte man zahlreiche Hautabschürfungen, die ohne Zweifel durch die Heftigkeit, mit welcher man den Leichnam hinaufgeschoben und wieder herausgezogen hatte, verursacht worden waren. Das Gesicht wies viele schwere Kratzwunden auf und an der Kehle waren tiefe Fingerabdrücke und dunkle Quetschungen zu sehen, als sei die Tote erwürgt worden. Nachdem man alle Teile des Hauses auf das gründlichste untersucht hatte, ohne Näheres zu entdecken, begaben sich die Leute in einen gepflasterten Hof an der Rückseite des Hauses. Hier fand man den Körper der alten Dame mit so vollständig durchschnittenem Halse, dass der Kopf, bei dem Versuch, die Leiche aufzurichten, abfiel. Der Körper sowohl wie der Kopf waren auf das grässlichste verstümmelt, letzterer in einer Weise, dass er kaum noch etwas Menschlichem ähnlich sah. Man hat unseres Wissens bis jetzt noch nicht den geringsten Anhalt zu einer Aufklärung dieser entsetzlichen Mordtat gefunden.’

Am nächsten Tage brachte die Zeitung weitere Einzelheiten über den grauenhaften Fall. ‘Das Trauerspiel in der Rue Morgue!!! Man hat viele Personen über dies außergewöhnliche, fürchterliche Ereignis verhört, ohne das Geringste zu entdecken, das Licht in die Sache bringen könnte. Wir geben in unten Stehendem die Aussagen der Zeugen wieder: Pauline Dubourg, Wäscherin, sagt aus, dass sie die beiden Verstorbenen seit drei Jahren kenne, da sie während dieser Zeit für dieselben gewaschen habe. Die alte Dame und ihre Tochter schienen in gutem Einvernehmen miteinander zu leben und behandelten sich gegenseitig liebenswürdig und rücksichtsvoll. Sie bezahlten ausgezeichnet. Sie könne nicht sagen, wie oder wovon sie lebten. Sie glaube, dass Madame L’Espanaye von Beruf Wahrsagerin gewesen sei. Dieselbe habe im Ruf gestanden, sich ein Vermögen erspart zu haben. Sie, die Zeugin, habe nie einen Menschen dort getroffen, wenn sie Wäsche abgeholt oder gebracht hätte. Sie sei sicher, dass die Damen keinen Dienstboten gehalten hätten. Anscheinend sei kein Teil des Hauses außer dem vierten Stockwerk ausmöbliert gewesen. Pierre Moreau, Tabakhändler, sagt aus, dass er seit beinahe vier Jahren kleine Partien Rauch- und Schnupftabak an Madame L’Espanaye verkauft habe. Er sei in der Nachbarschaft geboren und immer dort ansässig gewesen. Die Verstorbene und ihre Tochter bewohnten das Haus, in dem man die Leichen gefunden habe, schon seit mehr als sechs Jahren. Früher habe es ein Juwelier besessen, der die oberen Zimmer an verschiedene Personen vermietet hatte. Das Haus war das Eigentum der Madame L’Espanaye. Sie war unzufrieden über den Missbrauch, den die Mieter mit den Räumlichkeiten trieben, zog selbst hinein und weigerte sich, die nicht von ihr bewohnten Teile anderweitig zu vermieten. Die alte Dame war kindisch. Der Zeuge hat die Tochter im Laufe von sechs Jahren etwa fünf- bis sechsmal gesehen. Die beiden Damen führten ein außerordentlich zurückgezogenes Leben, man hielt sie für wohlhabend. Er habe von Nachbarn gehört, Madame L’Espanaye sei Wahrsagerin, habe es aber nicht geglaubt. Er habe niemals jemand anders in das Haus eintreten sehen als die alte Dame und ihre Tochter, ein- oder zweimal einen Portier und acht- oder zehnmal einen Arzt. Das Zeugnis mehrerer anderer Personen aus der Nachbarschaft lief auf dasselbe hinaus. Man kannte niemanden, der das Haus selbst betreten hatte und wusste nicht, ob Madame L’Espanaye und ihre Tochter noch lebende Verwandte hatten. Die Läden der vorderen Fenster wurden selten geöffnet. Die nach dem Hof hinaus gingen, waren immer geschlossen mit Ausnahme derer des großen Hinterzimmers im vierten Stock. Das Haus war gut gebaut und noch nicht alt. Isidore Muset, Gendarm, sagt aus, dass er gegen drei Uhr des Morgens nach dem Haus gerufen worden sei und einige zwanzig oder dreißig Personen vor der Haustür angetroffen habe, die sich bemühten, sich Eingang zu verschaffen. Er öffnete schließlich die Tür mit einem Bajonett, nicht mit einer Eisenstange. Es habe nur wenig Mühe gekostet, da es eine Doppel- oder Flügeltür gewesen sei, die weder nach oben noch nach unten zugeriegelt worden war. Das Geschrei ertönte fort, bis die Tür erbrochen war und verstummte d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Edgar Allan Poe
  2. Das Gut zu Arnheim
  3. Mellonta Tauta
  4. Die Sphinx
  5. Berenice
  6. Der Duc de l’Omelette
  7. Das Fass Amontillado
  8. Der entwendete Brief
  9. Du hast’s getan
  10. Eleonora
  11. Die Feeninsel
  12. Hopp-Frosch
  13. Der Geist des Bösen
  14. Der Goldkäfer
  15. Das verräterische Herz
  16. Der schwarze Kater
  17. Die längliche Kiste
  18. Landors Landhaus
  19. Liebe auf den ersten Blick
  20. Ligeia
  21. Der Mann in der Menge
  22. Der Lügenballon
  23. Der Doppelmord in der Rue Morgue
  24. Das Geheimnis von Marie Rogets Tod
  25. Hinab in den Maelström
  26. Morella
  27. Das ovale Portraet
  28. Schatten
  29. Das System des Dr. Teer und Prof. Feder
  30. Schweigen
  31. Die Maske des Roten Todes
  32. Das Stelldichein
  33. Die Scheintoten
  34. König Pest
  35. Der Fall Valdemar
  36. Wassergrube und Pendel
  37. Das Manuskript in der Flasche
  38. Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall
  39. Drei Sonntage in einer Woche
  40. Der Engel des Sonderbaren
  41. Die Tausendundzweite Nacht der Scheherazade
  42. Der Löwe
  43. Bon-Bon
  44. Der verlorene Atem
  45. Vier Tiere in einem
  46. Eine Geschichte aus Jerusalem
  47. Wie man einen Blackwoodartikel schreibt
  48. Der Teufel im Glockenstuhl
  49. Der Mann, der aufgerieben wurde
  50. Eine Fopperei
  51. Impressum
  52. Weitere eBooks bei Edition Lempertz