Identität und Selbst-Zerstörung
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Identität und Selbst-Zerstörung

Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx (1978) plus Das Drama der Subjektkonstitution (2012)

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Identität und Selbst-Zerstörung

Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx (1978) plus Das Drama der Subjektkonstitution (2012)

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

"Das Theater ist nicht tot, es stinkt nur ein bisschen." Carl HegemannUnter dem Titel Identität und Selbst-Zerstörung beschäftigt sich Carl Hegemann mit dem krisenhaften modernen Subjekt in seiner Beziehung zur Gesellschaft und der Rolle des Theaters in diesem Kontext. Auf der Grundlage dieses philosophischen Textes von 1978, entwickelte er seine Arbeitsweise als Dramaturg an der Volksbuhne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin und beeinflusste so in Zusammenarbeit mit Frank Castorf, Christoph Schlingensief und René Pollesch maßgeblich die deutsche Theaterlandschaft der letzten Jahrzehnte.Die Neuausgabe ist ergänzt um ein Vorwort von Christoph Menke, einen Text von René Pollesch (2017) und den Text "Das Drama der Subjektkonstitution" (2012) von Carl Hegemann.

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Information

V. Kapitel

Der tendenziell Selbst-zerstörende Charakter kapitalistischer Formen von Identität – Perspektiven ihrer Kritik und Überwindung

»Mische Tun und Nichts-tun und du wirst nicht verrückt.« Russisches Sprichwort

A. Zum Verfahren der Kritik

Ich habe bisher auf der Basis eines an Fichte orientierten transzendentalanthropologischen Konzepts einen Satz allgemeiner, abstrakter subjektiver und objektiver Konstitutionsbedingungen entwickelt, von denen ich annehmen will, dass es keinen nichtdefizitären menschlichen Lebensprozess geben kann, in dem sie nicht, in welcher historischen Form auch immer, realisiert werden müssten. Ich habe trotz dieser Überzeugung Einwände vorgetragen, die dieses Konzept möglicherweise als theoretisch kontingent erscheinen lassen, und versucht zu zeigen, dass man auch dann aus lebenspraktischen, nicht technizistisch misszuverstehenden Gründen an ihrer Geltung128 festhalten kann.
Wie die Orientierung an diesen Begriffen aussehen soll, was man mit ihnen machen kann, wie man von dem Rekurs auf die Transzendentalphilosophie wieder zurückfindet zu einer historisch spezifischen Analyse und Kritik moderner Lebensformen, soll dieses abschließende Kapitel wenigstens schlaglichtartig deutlich machen. Ich kann dabei auf die gleiche Weise vorgehen, wie es, nach meiner Meinung, Marx getan hat: untersuchen, was mit diesen allgemeinen Bedingungen unter bestimmten Verhältnissen geschieht. Das tut Marx bereits im ersten Kapitel des Kapitals, wenn er die Form der Verteilung der Arbeitsprodukte unter verschiedenen Produktionsverhältnissen vergleicht (vgl. MEW 23: 90 ff.). Wie er dies inhaltlich praktiziert, zeigt sich deutlich in der fortschreitenden Darstellung des kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozesses im Kapital. So heißt es am Anfang des Abschnitts »Über die Produktion des absoluten und des relativen Mehrwerts«: »Der Arbeitsprozeß wurde (siehe fünftes Kapitel) zunächst abstrakt betrachtet, unabhängig von seinen geschichtlichen Formen, als Prozeß zwischen Mensch und Natur« (ebd.: 531). Danach zitiert Marx eine Fußnote aus diesem fünften Kapitel, in der es heißt: »Diese Bestimmung produktiver Arbeit, wie sie sich vom Standpunkt des einfachen Arbeitsprozesses ergibt, reicht keineswegs hin für den kapitalistischen Produktionsprozeß« (ebd). Seine Untersuchung des kapitalistischen Produktionsprozesses besteht nun darin, zu zeigen, was mit diesen Bestimmungen des einfachen Arbeitsbegriffs im Zuge fortschreitender Arbeitsteilung und der damit einhergehenden Trennung von Kopf- und Handarbeit geschieht: Die Vereinigung der Funktionen des Arbeitsprozesses in einer Person, wie sie im fünften Kapitel bestimmt war, zerreißt.
»Die obige ursprüngliche Bestimmung der produktiven Arbeit, aus der Natur der materiellen Produktion selbst abgeleitet, bleibt immer wahr für den Gesamtarbeiter, als Gesamtheit betrachtet. Aber sie gilt nicht mehr für jedes seiner Glieder einzeln genommen« (ebd.: 532).
Es wird konzediert, dass sich die im einfachen Arbeitsbegriff behandelten Naturnotwendigkeiten zwar auch unter entwickelten kapitalistischen Verhältnissen durchsetzen, aber eben unter Bedingungen, die sie nur noch auf die Gesamtgesellschaft bezogen durchschaubar machen; für den Einzelnen »gelten« diese ursprünglichen ewigen Naturbedingungen produktiver Arbeit nicht mehr. Das bedeutet: Er lebt in Zerrissenheit mit seinen eigenen Existenzbedingungen. Auf der Basis der »Als«-Struktur würde sich schon hier der lebensdestruktive und schizophrenogene Charakter kapitalistisch bestimmter Privatproduktion zeigen. Marx hat allerdings noch nicht die Kritik an dieser Zerrissenheit im Auge. Denn für ihn, als weitgehend objektivem Theoretiker der Gesellschaft, sind an dieser Stelle noch, eben objektiv, die Bedingungen der Produktion erfüllt – wobei es ihm gleichgültig sein kann, ob sie nun von den einzelnen Produktionsagenten erfahren oder nur noch von einem Ökonomen erschlossen werden, der die Gesellschaftsverhältnisse untersucht.129 Dass aber wenigstens die objektiven Existenzbedingungen, die eine Gesellschaft realisieren muss, für Marx das Kriterium für seine historische Kritik liefern, wird trotzdem deutlich, zum Beispiel im Résumé des 13. Kapitels: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und die Arbeiter« (ebd.: 529 f.). Warum man diese »Springquellen« nicht untergraben soll, wird damit natürlich nicht begründet. Ich weiß auch nicht, ob es dazu eigens einer normativen Fundierung bedarf, oder ob dies »scholastische« Probleme sind. Für den Fall aber, dass man diese – bei Marx objektiv gefassten – ewigen Bedingungen menschlichen Lebens erhalten will, ergibt sich (ganz trivialerweise) eine Kritik an der kapitalistischen Entwicklung des Produktionsprozesses, weil dies gleichzeitig seine allgemeinen Bedingungen unterminiert. Durch diese Erfahrung ist der Kapitalismus gezwungen, seine eigenen spezifischen Reproduktionsbedingungen zu relativieren und wenigstens zum Teil zur Disposition zu stellen. Dies geschieht durch das teilweise Außerkraftsetzen marktwirtschaftlicher Mechanismen, etwa durch die gesetzlich verordnete Beschränkung der Arbeitszeit, Einschränkungen der freien Konkurrenz, des Wachstums und des freien Arbeitsmarkts zum Zweck der Erhaltung eben derselben. Das ist die sogenannte »innere Widersprüchlichkeit« des Kapitalismus, dass er seine eigenen Voraussetzungen in Frage stellen muss, um sie zu erhalten.
Als anthropologische Grundbestimmungen führe ich nun nicht nur primär objektive Lebensbedingungen ein, sondern vermittle die objektiven Konstitutionsbedingungen menschlichen Lebens, die bei Marx als »ewige Naturbedingungen« auftauchen, systematisch mit dem subjektiv/reflexiven Begriffen abstrakter transzendental-anthropologischer Konstitutionstheorie. Dadurch erweitern sich die Kritikmöglichkeiten, die ein solches Modell bietet, um eine entscheidende Dimension: Die Ebene des Bewusstseins der kapitalistisch vergesellschafteten Individuen von sich selbst und ihren Situationen (d. h., was wir als Alltagsmenschen denken und fühlen und nicht das, was wir als Theoretiker logisch erschließen) lässt sich angehen; das, was man »psychische Verelendung« nennt, kommt in ein historisch bestimmbares Blickfeld. Diese Dimension war bei Marx aus historischen Gründen unterbelichtet.

B. Die Verrücktheit fetischisierter Warenproduktion

1. Marx’ Begriff der »Verrücktheit«

Diese Ebene subjektiver Erfahrung thematisiert Marx fast nur dann, wenn vom »Fetischcharakter der Ware«, des Geldes, des Kapitals usw. die Rede ist.130 Hier begründet er die »verkehrte« oder »verrückte« Form, in der für die Produzenten ihr eigener Lebensprozess erscheint, ohne dass sie es bemerken. Was da allerdings »verrückt« wird und wieso, bleibt weitgehend unterbestimmt. Deshalb bekommt die Fetischanalyse einen eigentümlich vagen Charakter. Es gibt, sich für konsequent haltende, Vertreter objektiver Theorie, die versuchen, sie sogar ganz aus dem System der Kritik der politischen Ökonomie zu eliminieren (vgl. etwa Althusser 1972). Marx kann den, im Unterschied zu seinem sonstigen Programm in der Fetischanalyse offenbar erhobenen, Anspruch, die historischen Erscheinungsformen in ihrer Bedeutung für die Individuen, die ihnen ausgesetzt sind, zu bestimmen, aufgrund seines weitgehend objektiven Ausgangspunkts, der schon in der Deutschen Ideologie angelegt ist (vgl. etwa MEW 3: 27), in der Kritik der politischen Ökonomie nicht konsequent einlösen. In der Form, in der Marx »den Spuk«, »Zauber und Mystizismus« einbringt, der »Warenverhältnisse überhaupt umnebelt« und der im sich entwickelnden Kapitalismus (wo auch die Arbeitskraft zur Ware wird und so die Trennung von Kapital und Arbeit stattfindet) auf die Spitze getrieben wird, hängt seiner Darstellung, wie mir scheint, tatsächlich eine gewisse Indifferenz an, die den Stellenwert und den kritischen Charakter der Fetischanalyse so schwer durchschaubar macht.131
»Verrückt« sind für Marx zunächst die Verhältnisse überhaupt nur für denjenigen, der sie untersucht; die »wirklichen Produktionsagenten« hängen der »Religion des Alltagslebens« mit großer Selbstverständlichkeit an, die in der »Personifizierung der Sachen und in der Versachlichung der Produktionsverhältnisse« (MEW 25: 838) besteht. In diesen verkehrten Verhältnissen, schreibt Marx, fühlen sie sich »völlig zu Hause […], denn es sind eben die Gestaltungen des Scheins, in welchen sie sich bewegen und womit sie täglich zu tun haben« (ebd.). Oder an anderer Stelle: »Die Vermittlungen der irrationellen Formen, worin bestimmte ökonomische Verhältnisse erscheinen und sich praktisch zusammenfassen, gehen die praktischen Träger dieser Verhältnisse in ihrem Handel und Wandel jedoch nichts an; und da sie gewohnt sind, sich darin zu bewegen, findet ihr Verstand nicht den geringsten Anstoß daran. Ein vollkommener Widerspruch hat durchaus nichts Geheimnisvolles für sie. In den dem inneren Zusammenhang entfremdeten und, für sich isoliert genommen, abgeschmackten Erscheinungsformen fühlen sie sich ebenfalls so zu Haus wie der Fisch im Wasser« (MEW 25: 787). Auf der subjektiven Erfahrungsebene kommt den Menschen die »Versachlichung« ihrer sozialen Beziehungen und die »gespenstige« Lebendigkeit der Dinge als etwas ganz »Natürliches« vor. Dies ist von Marx sicher richtig gesehen, denn es ist klar, dass sich kaum einer darüber wundert, dass man für eine entsprechende Menge Geld alles kaufen kann; niemand sieht etwas Geheimnisvolles im zinstragenden Kapital oder darin, dass man Geld »arbeiten« lässt, um es zu vermehren. Erst das Nachdenken führt zur Aufdeckung dieser Verkehrung und erst in einer, per Abstraktion gewonnenen, rudimentären Gestalt dieser Verhältnisse, der »allgemeinen Wertform«, »springt der Charakter der Verrücktheit dieses Ausdrucks ins Auge« (MEW 23: 90).
Marx hat also offenbar in solchen Passagen nicht den von mir angezielten identitätsbedrohenden, »verrückt« machenden Charakter universeller Warengesellschaften im Auge, sondern höchstens eine Kritik an der »falschen Auffassung« der Alltagsmenschen bzw. der deren Bewusstsein nur verdoppelnden »seichten« Vulgärökonomie. Ansonsten geht er davon aus, dass man sich in den »Gestaltungen des Scheins« »völlig zu Hause« fühlen kann. D. h., die Analyse des Fetischismus beabsichtigt bei Marx anscheinend keine direkte Kritik an der Trennung der Produzenten von ihren Produkten und will erst recht keine spezifisch kapitalistisch erzeugte Identitätsbedrohung auf ihre historische Bedingtheit hin untersuchen.
Diese von mir unterstellte subjektivitätsdestruktive Seite kommt im Gegensatz zum materiellen Destruktionscharakter der Verhältnisse bei Marx nirgends richtig zum Vorschein. Er spricht zwar von »Verrücktheit«, »Zauber« und »Mystifikation«, hat aber nicht systematisch eine kapitalistisch hervorgebrachte Ich-Identitäts-Störung im Auge. Dieser Zusammenhang war nicht sein Thema. Er liefert zwar Material, das ermöglicht, einen solchen Zusammenhang herzustellen, aber es finden sich bei ihm keine Stellen, wo er etwa eine strukturelle Verbindungslinie zwischen Kapitalismus und Schizophrenie herausstellt. Dass ein solcher Zusammenhang besteht, ist aber allgemein auch für Marx klar, wenn er etwa im Zuge seiner Korrespondententätigkeit für eine amerikanische Zeitung aus London berichtet, dass sich die Zahl der Geisteskranken in den Jahren der Industrialisierung verneunfacht habe. Er versucht aber keine Verbindung zwischen den Produktionsverhältnissen und der Struktur der Ich-Störung herzustellen, sondern berichtet breit über die mangelnden materiellen Behandlungsmöglichkeiten und die erniedrigende Behandlung, insbesondere der »armen (proletarischen) Geisteskranken« (vgl. MEW 12: 533 ff. und 593 ff.).
Ausdrücke wie »Wahnsinn der kapitalistischen Produktion« werden, so weit ich sehe, auch in der älteren marxistischen Literatur kaum in einem buchstäblichen Sinne gebraucht. Dies dürfte daran liegen, dass die schizophrene Tendenz des Kapitalismus erst deutlich sichtbar wird mit fortschreitender Erweiterung und Intensivierung der kapitalistischen Produktion, mit der fortschreitenden »reellen Subsumtion« der Arbeit (und der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse) unter die Anforderungen di...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Widmung
  5. Impressum
  6. Inhalt
  7. Vorwort
  8. IDENTITÄT UND SELBST-ZERSTÖRUNG
  9. Vorbemerkung
  10. I. Kapitel Einleitung
  11. II. Kapitel Die Funktion transzendental-anthropologischer Elemente in einer historisch-kritischen Theorie moderner Lebensbedingungen
  12. III. Kapitel Grundlegende Begriffe transzendentaler Anthropologie (Fichte)
  13. IV. Kapitel Exkurs: Die Kontingenz von Konstitutionsbegriffen
  14. V. Kapitel Der tendenziell Selbst-zerstörende Charakter kapitalistischer Formen von Identität – Perspektiven ihrer Kritik und Überwindung
  15. DAS DRAMA DER SUBJEKTKONSTITUTION (2012)
  16. ICH BRAUCHE DAS DRAMA
  17. WUNDERSAME AUSGRABUNG
  18. Literaturverzeichnis