Das geschichtliche Gefühl
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Das geschichtliche Gefühl

Wege zu einem globalen Realismus

  1. 174 Seiten
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Das geschichtliche Gefühl

Wege zu einem globalen Realismus

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Über dieses Buch

"Der Theatererneuerer." Der SpiegelDetailliert legt der "derzeit einflussreichste Regisseur des Kontinents" (Die ZEIT) die komplexen gesellschaftlichen und ästhetischen Herausforderungen offen, die seine politisch-künstlerische Arbeit bestimmen. Milo Rau führt vor, was es künstlerisch bedeutet, mit größter Konsequenz dem "weitumspannenden Innenraum des Kapitals, seinen Alpträumen und Hoffnungen, seinen Unter- und Gegenwelten" nachzuspüren und eine Antwort darauf zu finden – etwa in Gestalt seines ästhetischen Leitmodells eines künstlerischen "globalen Realismus".Das Buch basiert auf Milo Raus Vorlesungen im Rahmen der 6. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik.

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Information

15. April 2017

ERSTE VORLESUNG: DAS GESCHICHTLICHE GEFÜHL

Herzlich willkommen zum Eröffnungsvortrag der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Der Aufbau der folgenden drei Vorlesungen ist grob skizziert der folgende: Ich werde mit meiner Beschäftigung mit der Vergangenheit beginnen, mit meinen Reenactment-Projekten. In der zweiten Vorlesung kommen wir zur Gegenwart und sprechen über meine Erzähltheaterstücke, insbesondere »Die Europa Trilogie« (2014–2016),12 sowie über meine repräsentationskritischen Stücke Five Easy Pieces (UA 14. 05. 2016, Brüssel, Kunstenfestivaldesarts) und Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (UA 16. 01. 2016, Berlin, Schaubühne). Und am dritten Abend werden wir in die Zukunft blicken: auf das Theater als symbolischer Raum, dies anhand meiner Polit- und Prozessprojekte.
Man könnte das, was wir in den drei Vorlesungen zusammen unternehmen werden, eine Handlungstheorie in drei Schritten nennen. Zuerst wenden wir uns dem Vergangenen zu, unsere Bewegung ist eine wiederholende, reflexive: Es geht darum, noch einmal zu durchleben, vielleicht sogar zu verstehen, was 1989 in Rumänien, 1994 in Ruanda und so weiter eigentlich geschah, gleichsam hinter dem Rücken der Handelnden. Es ist eine Bewegung der Immersion, die als solche natürlich artifiziell ist.
Darauf folgt eine analytische Bewegung: Stücke wie Empire (UA 01./09. 09. 2016, Zürich, Theaterspektakel/Berlin, Schaubühne) aus der »Europa Trilogie« oder Five Easy Pieces sind gleichsam posttraumatisch, es wird je ein Kern des Unerklärlichen (der Tod geliebter Menschen und die Kriegserfahrung in Empire, die Affäre Dutroux in Five Easy Pieces) umkreist, immer von Neuem und aus immer neuen Beobachter-Perspektiven erzählt. Das Beobachten, das Erzählen, ja: die Darstellung selbst werden Thema. Und dies alles zielt auf die dritte Vorlesung, in der ich Projekte wie Das Kongo Tribunal (29.–31. 05. 2015, Bukavu, Collège Alfajiri & 26.–28. 06. 2015, Berlin, Sophiensæle) oder General Assembly (03.–05. 11. 2017, Berlin, Schaubühne) besprechen werde: symbolische Institutionen, in denen utopisches Handeln, von Alexander Kluge so genannte »Gegen-Geschichte«, möglich wird.
Im Lauf der letzten zehn Jahre, seit Gründung des IIPM (International Institute of Political Murder), habe ich etwa fünfzig Projekte realisiert: Stücke geschrieben und inszeniert, Bücher veröffentlicht, Kongresse abgehalten, Aktionen organisiert. Manchmal dauerten diese Projekte, wie City of Change (Mai 2010/11, Theater St. Gallen), fast zwei Monate, manchmal, wie Das Kongo Tribunal, sechs Tage, manchmal haben sie, wie Five Easy Pieces, die normale Länge eines Theaterabends. Um die Dinge für mich selbst etwas übersichtlicher zu machen, habe ich die Projekte in Gruppen organisiert, so etwa die »Trilogie der Repräsentation«, »Die Europa Trilogie«, die »Prozess-Trilogie« und so weiter. Zunächst aber zum Namen meiner Produktionsgesellschaft – und zu einigen Einflüssen, die vielleicht interessant sind.
Es geht in den Stücken der hier verhandelten Phase ja fast immer um soziale Gewalt im privaten, aber öfter im politischen Bereich, in Kriegen und Bürgerkriegen oder in zerfallenden Imperien. Die Beschäftigung mit dieser Gewalt – eben dem »politischen Mord« – ist sicher das, was meine Stücke über die doch recht unterschiedlichen Projekt-Gruppen hinweg verbindet. Der Name »International Institute of Political Murder« kommt von einer Idee, die ich Ende 2006 für eine Bewerbung um die Intendanz am Festspielhaus Hellerau entwickelt habe. In diesem an Hellerau angeschlossenen Institut hätten Künstler, Wissenschaftler, Historiker zusammen die zwei berühmtesten Attentate auf Hitler rekonstruiert. Man hätte auf diesem großen Gelände, das zwischenzeitlich von der Roten Armee genutzt wurde, die Wolfsschanze und den Bürgerbräukeller nachgebaut und in die Luft gesprengt, und die Trümmer wären dann langsam als Monumente verwittert, gemäß der Ruinenwerttheorie von Hitlers Leibarchitekten Albert Speer.13 Sie kennen vielleicht Andy Warhols Disaster-Serien, Serigrafien von Fotografien von Autounfällen und Flugzeugabstürzen, und genauso wollten wir die politischen Attentate gegen Hitler nachstellen – aber eben nicht nur, indem wir mit den Fotos dieser Attentate arbeiten, sondern indem wir sie, wie die Attentäter selbst, in allen Details planen, nachbauen, durchführen. Aus der Intendanz in Hellerau ist dann nichts geworden, aber das Institut habe ich trotzdem gegründet, und es besteht als Produktionsgesellschaft bis heute.
Zu den Einflüssen: Zur Gründung des Instituts im Jahr 2007 habe ich versucht, auf einer Tafel die wichtigsten Inspirationen zu verzeichnen. Diese Tafel ist übrigens eine Art ironisches Reenactment, also eine Imitation einer anderen Tafel, nämlich einer Schautafel von Alfred H. Barr, dem Gründungsdirektor des Museum of Modern Art in New York. Barr hat kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger die westliche Avantgarde-Kunst erfunden, könnte man sagen – jedenfalls deren Geschichte. Nach dem Krieg folgten dann die ersten Ausstellungen des MoMA in Europa zur europäischen Kunst. Während man in den Museen des total zerstörten alten Kontinents zu jener Zeit noch einem dekorativen Impressionismus frönte, verkündete Barr eine ganz andere Schöpfungsgeschichte der europäischen Avantgarden: Auf seiner Schautafel sieht man, wie aus dem Neo-Impressionismus der Kubismus und aus dem Kubismus der Futurismus usw. wurden – und wie es schließlich zu dem kam, was damals als Höhe- und Endpunkt aller künstlerischen Anstrengungen galt: zum abstrakten Expressionismus, schließlich zur abstrakten Kunst und damit zur Verlagerung des Epizentrums der Avantgarden von Paris nach New York.14
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Aus: Alfred H. Barr: Cubism and Abstract Art, New York 1966 [EA 1936], S. 2
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Milo Rau: Einflusstabelle des IIPM (2007)
Ich habe also 2007 für mich eine Tafel nach derselben Logik und mit derselben Frage angefertigt: Was sind eigentlich meine Einflüsse, die Einflüsse des IIPM? Wie kam es zu meiner Methodologie, zu dem, was ich damals »Unst« – Kunst ohne K: eine realistische Kunst nach der Postmoderne, die versucht, wieder auf die Grundbewegung der Darstellung selbst zurückzukommen – nannte? Und natürlich ist auch diese Schöpfungsgeschichte eine voluntaristische: Verzeichnet ist nicht nur das, was tatsächlich wichtig war, sondern das, was wichtig wurde.
Dazu gehört zum Beispiel die »romantische Ironie«: dass ein Kunstwerk, während es sich entfaltet, zugleich immer auch selbst analytisch durchdringt, die Macher beim Machen zeigt, »das Produzierende mit dem Produkt darstellte«, wie Schlegel sagt15 (wobei ich die romantische Ironie wohl weniger von den Romantikern als von Marx her denke). Genauso wichtig sind populäre Einflüsse wie die »Battle-Reenactments«,16 bei denen zum Beispiel die Leipziger Völkerschlacht17 oder Waterloo nachgestellt werden: die naive Freude an der Immersion, am Massenspektakel. Oder der »Neofuturismus« mit dieser sehr simplen, sympathischen Idee des Heroischen, mit seinen großen, propagandistischen Gesten, die in einigen meiner späteren Arbeiten sehr wichtig wurde.
Ich möchte nun auf dieser Tafel drei Begriffe herausgreifen und näher darauf eingehen. Erstens: die »investigative Anthropologie«. Als ich diese Tafel vor ein paar Tagen wieder angeschaut habe, ist mir aufgefallen, wie zutreffend die damals eher ironisch gemeinte Skizze über all die Jahre geblieben ist. Oder wie ich gerade sagte: Es war im Grunde eine prospektive Tafel. Projekte, die über zehn Jahre später stattfinden sollten, wie Das Kongo Tribunal, oder solche, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden haben, wie die General Assembly, und natürlich diese Nachstellung eines Bildes, nämlich der Sturm auf den Reichstag (07. 11. 2017, Berlin), sind darauf schon verzeichnet.
Doch was heißt »investigative Anthropologie«? Ich habe in Paris in den 1990er-Jahren unter anderem bei Pierre Bourdieu Soziologie studiert. Bourdieus Forschungsansatz war, sehr simpel zusammengefasst, der der Teilnahme: Wenn du das Boxen verstehen willst, dann lerne Boxen, wenn du eine Coltan-Mine beschreiben willst, dann arbeite dort, sprich mit den Minenarbeitern, lebe mit ihnen. Die in Das Elend der Welt ausgeführte Technik des narrativen Interviews, des Besuchs, ja: des gemeinsamen Lebens, bei dem sich der Forscher von seinem Gegenstand nicht distanziert, sondern gleichsam mit ihm in den Rahmen eines gemeinsamen Projekts tritt, ist bis heute die zentrale Strategie meiner Autorschaft geblieben.18 Das Gemein-Machen mit einer Sache, das ist meine Arbeitsweise, völliges Eintauchen, eben »investigative Anthropologie«, und hier setzt natürlich auch die übliche Kritik an meiner Arbeit an: dass ich nach beobachtenden Projekten wie Hate Radio (UA 01. 12. 2011, Berlin, HAU) moralischaktivistische wie Das Kongo Tribunal gemacht hätte, von der Vergangenheit in die Gegenwart getreten sei. Doch wie wir im Folgenden sehen werden, gab es zwischen diesen zwei Ebenen nie einen Unterschied, sie sind immer zugleich da. »Zitieren heißt Wiederbeleben«, wie es bei Bourdieu irgendwo heißt (ich glaube, in seinem Buch über Algerien). Es gibt keinen Unterschied zwischen Deskription und Praxis, es gibt keinen allein beschreibenden oder allein reproduzierenden Realismus. Oder wie ich immer wieder sage: Realismus heißt nicht, dass etwas Wirkliches repräsentiert wird. Realismus heißt, dass der Vorgang der Repräsentation selbst real wird.
Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass sich der Produktionsprozess meiner Arbeiten über die Jahre hinweg immer weiter entdifferenziert hat. Entdifferenziert in dem Sinne, dass es keine Abfolge der einzelnen Schritte mehr gab: zuerst Recherche, dann Casting, dann Textfassung, dann Bühnenbild, dann Proben, schließlich Lichttechnik und Soundcheck und so weiter. Das passiert in meinen Projekten mehr oder weniger alles parallel und wirkt aufeinander ein, die historische Wahrheit wandelt sich mit der Wahrheit des Lichts oder mit dem Bühnenbild. Manchmal treffe ich bei der Recherche jemand, dessen Aussage, ja: dessen Leben (oder dessen Beziehung zu mir, zu meinem eigenen Leben oder zum Leben eines anderen Mitarbeiters) wichtig wird für ein tieferes Verständnis der Situation, und dann steht er nachher eben selbst auf der Bühne. Aus Zeugen werden Schauspieler, wie in den Moskauer Prozessen (01.–03. 03. 2013, Moskau, Sacharow-Zentrum) aus Schauspielern Zeugen, wie in Empire. Aus Opfern werden Akteure wie in Hate Radio oder, ganz anders, im Kongo Tribunal. Einen Teil des Bühnenbilds finden wir möglicherweise in einem Hinterhof oder auf einem Bild, das ich oder sonst jemand als Kind einmal gesehen hat – oder wir blättern in einem Buch, während wir auf einen Zeugen warten, der nicht kommt, und dieses Buch wird dann wichtig. Kurz: Ich versuche eigentlich immer einen organischen Arbeitsprozess zu ermöglichen, indem das Projekt sich gleichsam ereignen kann. Ja, eine Inszenierung ist ein Ereignis, der ganze Prozess einer Inszenierung. Das lässt sich an den zwei Stücken, über die ich heute vor allem sprechen werde, Die letzten Tage der Ceauşescus (UA 18. 12. 2009, Berlin, HAU), und Hate Radio, sehr gut zeigen.
Und daraus ergibt sich eine grundsätzliche Abgrenzung: die Abgrenzung des Realismus, wie ich ihn verstehe – als dialektische und ungewisse, da zugleich mimetische und reflexive, zugleich abbildende und vorbildende Praxis – vom sogenannten Dokumentarischen. Dokumentarisch heißt, nimmt man den Begriff wörtlich, dass es einen Text, ein Stück, eine Vorlage gibt, die vor den Proben vorliegt. Also in etwa so, wie es in Literaturinszenierungen geschieht, wo es ein überliefertes Stück von Tschechow oder Shakespeare gibt, ein Geflecht von Aussagen und Beziehungen, die ein (meist toter) Autor vorgeschrieben hat. Und dieses Vorgeschriebene adaptieren dann die »dokumentarisch« vorgehenden Künstler in einer bewundernswerten Treue zum Text, der Regisseur als Beobachter, die Schauspieler als praktisch Ausführende.
Bei meinen Projekten verhält es sich gegenteilig. Es ist bei mir so, und zwar bei allen Arbeiten, dass dieser Text erst entsteht, dass er gefunden, erfunden werden muss während eines Projekts: Es ist das Projekt selbst, das sich in seinem Endprodukt dokumentiert, das von den Beziehungen der Beteiligten untereinander spricht, von ihren Beschränkungen im gegebenen Herrschafts- oder historischen Kontext, von ihrem Kampf dagegen, von ihrer Treue zu – und ja: von ihrer Angst vor dem Zuschauer (der betroffen ist, etwa wenn man Hate Radio in Ruanda aufführt, wie wir es 2011 getan haben). Kurzum: Wenn ich von Recherche spreche, dann geht es nicht um Informationen (»aber auch«, wie ich in »Was ist Unst?« schreibe), sondern um das Kennenlernen und Verinnerlichen einer geschichtlichen und sozialen (und natürlich auch einfach materiellen) Atmosphäre auf sinnlicher und geistiger Ebene.
Es geht darum, durch den Umweg über das Wirkliche eine Bereitschaft für das kollektive Phantasieren herzustellen. Die sichtbare Realität – eine gewisse Menge von Stühlen, Tischen, Farben, Uniformen, Worten etwa im Prozess gegen die Ceauşescus – öffnet die Tür nicht zum »Wie es wirklich war«, sondern zum Imaginären. Alle meine Stücke basieren auf Recherche, auf Dokumenten, auf Aussagen, auf Ortsbegehungen. Im Grunde aber sind sie Fiktionen. Was nicht heißt, dass es darin keine historisch verbürgten Elemente gäbe, etwa in Teilen einer Rede, in einer oder mehreren Requisiten, in der Tatsache, dass die Dinge so oder so ähnlich geschehen sind. Ich bin kein Skeptizist: die rumänische Revolution hat stattgefunden, der ruandische Genozid auch.
Vielleicht kann man meine Methode mit der von Büchner in Dantons Tod (1835) vergleichen, einem Stück, in dem historisch verbürgte Reden und völlig Fiktionales vermischt sind. Büchner nimmt historische Figuren, lässt sie aber in imaginären Szenen auftreten, und umgekehrt. Oder er unterstellt ihnen einen Charakter, der zwar wahrscheinlich und poetisch sinnvoll, aber nicht historisch verbürgt ist. Mit anderen Worten: Büchners Tragödie Dantons Tod sagt uns mehr darüber, wie sich Büchners Zeit (die Zeit der Restauration) die Große Französische Revolution vorgestellt hat, was an dieser Revolution als Hoffnungs-, aber auch Enttäuschungsspur wichtig wurde. Wie der Idealismus langsam in den Materialismus kippt, wie das Absurde des Daseins, dieser Dämon des bürgerlichen Zeitalters, sein Haupt reckt: Über all das sagt Dantons Tod mehr als über den genauen Ablauf der Französischen Revolution. Und ähnlich ist es in meinen sogenannten Reenactment-Projekten: Man erfährt in Wahrheit mehr über die Lebenden als über die Toten.
Doch zurück zur Schautafel: Der zweite Begriff, den ich herausgreifen will, ist »Art of Mimesis (Kunst der Mimesis)«. Hier geht es um den Moment der Darstellung, der Präsenz, der Gegenwart. Ich habe mich immer sehr für die Wiederholung, für die Imitation des Realen bis in die Gestik hinein interessiert. Ich erinnere mich, dass mich, als ich noch ein ganz junger Mensch war und die Stücke von Botho Strauß las, etwa seine Bearbeitung der Sommergäste,19 das Idiosynkratische in der Syntax, in der emotionalen ›Verschlaufung‹ der Charaktere mehr faszinierte als die Handlung oder die auf einer höheren Ebene angelegte Typologie. Diese impressionistische Detailverliebtheit kehrt in den Bühnenbildern und im Format des Reenactments selbst wieder, also in dieser Kierkegaard’schen Verpflichtetheit dem Einzelnen und Einzigartigen gegenüber, dem Detail, das gewissermaßen dem großen Kontext entflieht. Hate Radio ist in Wahrheit eine Assemblage aus widersprüchlichen Details, aus einem Nelson-Mandela-T-Shirt, aus der Musik von Nirvana, aus Black-Power-Klischees und tropischem Faschismus. Dabei treibt mich die Frage um: Wie kann man eine Geste aufbewahren, wie kann man sie transformieren in die momenthafte Unsterblichkeit der Bühne, wie kann man sie vielleicht auf der Bühne überhaupt erst hervorbringen? Ein Soziologe, der dabei für mich sehr wichtig war und auch im Schaubild genannt ist, war Gab...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. »Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt«: Milo Rau im Gespräch mit Rolf Bossart
  7. Erste Vorlesung: Das geschichtliche Gefühl
  8. Zweite Vorlesung: Über das Erscheinen
  9. Dritte Vorlesung: Der symbolische Akt
  10. »Man muss neue, utopische Institutionen vorbereiten«: Milo Rau im Gespräch mit Harald Welzer
  11. Anmerkungen zu den Vorlesungen und Gesprächen
  12. Milo Raus Theater der Revolution: Mimesis, Immersion und Transzendenz, Tragödie und globaler Realismus
  13. Danksagung