Jens Roselt
SEELEN MIT METHODE
Einführung
Eine eigenartige Kunst
»Meine Aufmerksamkeit richtet sich so sehr an das Spiel einiger Schauspieler, daß ich nicht an die Folge der Szenen denken kann.« Diesen Stoßseufzer eines Theaterkritikers konnten die Leser der Berliner Litteratur- und Theaterzeitung am 3. Juli 1784 vernehmen. Der Rezensent gesteht, daß er nicht in der Lage sei, »den genauen Ausgang des Stückes« mitzuteilen, weil er, statt auf die Handlung, in erster Linie auf die handelnden Schauspieler geachtet habe. Da es seinerzeit keine Schauspielführer gab, in denen er den Inhalt von F. L. Schröders Lustspiel Stille Wasser sind betrüglich hätte nachschlagen können, war der Kritiker auf seine eigene Wahrnehmung angewiesen. Schon im Mai, als er zum ersten Mal von der Aufführung schrieb, hatte er den Lesern angekündigt, daß er Verlauf und Ende des Dramas erst nach mehrmaligem Aufführungsbesuch würde mitteilen können. Er schätzte, daß er dafür noch dreimal ins Theater gehen müsse. Daß dies nicht ausgereicht hat, zeigt sein im Juli erfolgtes Geständnis, immer noch nicht auf etwas anderes als die Schauspieler geachtet zu haben.
Wer heutzutage eine Theaterkritik liest, kommt nicht selten zu einer gegenteiligen Beobachtung. Rezensenten teilen auch komplexe Handlungen problemlos mit und verstehen es sogar, Aussageabsichten von Autoren oder Intentionen von Regisseuren zu ermitteln und zu kommentieren. Allein die Frage danach, was die leibhaftigen Schauspieler auf der Bühne gemacht haben und vor allem, wie sie es gemacht haben, findet kaum Beachtung.
Was kann man über Schauspieler sagen, außer daß sie ›irgendwie‹ gut waren und daß sie von was auch immer überzeugten?
Zweifellos sind Schauspielerinnen und Schauspieler die Fixpunkte der Aufmerksamkeit des Publikums. Man erwartet ihren Auftritt, man folgt ihren Bewegungen und lauscht ihrer Stimme. Auf der Bühne stehen keine Dramen, sondern Körper. Man beobachtet keine Ideen, sondern handelnde Menschen. Die analytische Beschäftigung der Zuschauer konzentriert sich jedoch häufig auf diejenigen Beteiligten einer Inszenierung, die am konkreten Abend der Aufführung zumeist gar nicht im Theater sind: Regisseure, Autoren oder Bühnenbildner. Sie gelten als die verantwortlichen Macher, während Schauspielerinnen und Schauspieler als Ausführende im toten Winkel des Interesses verschwinden. Während Zuschauer ihre Sinne auf die leibhaftigen Darsteller richten, erwarten sie den Sinn in vorgefertigten Konzepten und fremden Ideen. Sosehr man auch von der Stimme einer Schauspielerin in Bann geschlagen sein mag, in der Reflexion wird das faszinierende Hörereignis schnell auf den gesprochenen Text reduziert.
Die Schwierigkeit, schauspielerische Leistungen in Worte zu fassen, ist nicht der Inkompetenz von Publikum und Theaterkritik geschuldet, sondern verweist auf eine Eigenart, die im Vorgang des Schauspielens selbst begründet ist. Die Beurteilung von Schauspielern wird nämlich dadurch heikel, daß dabei »die Verachtung der Kunst immer zugleich die Person streift«. Was Johann Jakob Engel hier in seinen Ideen zu einer Mimik von 1785 über die Verachtung der Kunst sagt, gilt allerdings auch für deren Beachtung. Schauspieler sind Attraktionen. Der Anblick des Menschen auf der Bühne kann eine Wirkung entfalten, die durch Erotik, Scham oder auch Ekel gekennzeichnet ist und wegen ihrer Unmittelbarkeit stets aus dem ästhetischen Rahmen zu fallen droht. Wer sich über die Darstellung eines Schauspielers äußert, spricht nicht nur über ein Kunstprodukt, sondern zugleich über einen individuellen Menschen, der vor den Augen der Zuschauer seine Kunst ausübt. Ästhetische und ethische Aspekte können dabei nicht komplett getrennt werden. Schauspieler sind Macher und ›Gemachtes‹ in einer Person. Der Vorgang des Schauspielens ist Herstellungs- und Präsentationsakt in einem. Der französische Schauspieler Benoit Constant Coquelin (1841–1909) hat den Schauspieler deshalb als »double personality«, als eine Art Doppelwesen, bezeichnet. In seinem zunächst auf englisch erschienenen Aufsatz Acting and Actors von 1887 begründet er diese Doppelheit damit, daß Schauspieler sowohl Spieler als auch gespielte Instrumente seien. Auch diese theoretische Unterscheidung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die schauspielerische Leistung nie von der individuellen Persönlichkeit eines Schauspielers abstrahiert werden kann.
Dieser Problematik ist sich die Schauspieltheorie stets bewußt gewesen. 1797 weist Friedrich Hildebrand von Einsiedel (1750–1828) in seinen Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst darauf hin: »Es ist schwer eine Kunst in ein System zu fassen, auf welche Konvenzion des Geschmacks, und individuelle Behandlungsart des Künstlers einen so wesentlichen Einfluß haben; die in ihrer Ausführung zu transitorisch ist, um überall so bestimmt zu seyn, daß keine momentane Willkühr dabey statt finden sollte; und deren feinste Gesetze oft nur dem leisen Takt’ eines inneren Sinnes offenbar werden kann.« Einsiedel macht darauf aufmerksam, daß Schauspieler neben der individuellen Behandlungsart auch auf gesellschaftliche und ästhetische Übereinkünfte und Regeln (»Konvenzion«) angewiesen sind, die festlegen, was sich auf den Bühnen schickt und was verpönt ist. Vor allem aber kennzeichnet er Schauspielkunst als transitorischen Akt. Der Begriff Transitorik wurde von Lessing für das Theater geprägt und meint die Flüchtigkeit von Aufführungen. Alles, was ein Schauspieler auf der Bühne macht, überdauert nicht den Moment seines unmittelbaren Vollzugs. Ob nun eine pathetische Geste der Arme oder ein unmerkliches leichtes Zittern der Mundwinkel – all diese Bewegungen existieren nur, wenn und solange der Schauspieler sie ausführt. Auch ein Satz wie Hamlets »Sein oder Nichtsein«, der im Drama aufgeschrieben die Zeiten überdauern kann, ist nur Teil der schauspielerischen Aktion, wenn der Hamletdarsteller ihn spricht. Durch seine Stimme wird aus dem Text erst Sprache, ein konkretes, durch vielfältige Nuancierungen gefärbtes Klang- und Hörereignis, das als solches keinen materiellen Bestand hat. Das ›Sein‹ des Satzes überdauert seine Aussprache nicht. Am Ende einer Theatervorstellung bleibt kein Werk zurück, kein Buch, das immer wieder aufgeschlagen und gelesen werden kann, kein Bild, das auch morgen noch an derselben Stelle hängen würde. Nur in der Erinnerung ihrer Zuschauer können sich Schauspielerinnen und Schauspieler verewigen. So spendet Heinrich Theodor Rötscher (1803–1871) 1841 in Die Kunst der dramatischen Darstellung dem Schauspieler Trost, »dessen Werk seinen Schöpfungsakt nur im Gemüte des Zuschauers überlebt, in dem es die einzige Spur seines Daseins zurückläßt«. Die Flüchtigkeit ist somit nicht nur der besondere Ausweis der Schauspielkunst, sondern auch ihr Handicap: »Der dramatische Künstler ist also ganz an die Gegenwart gewiesen; sie ist seine Göttin; was sie ihm nicht gewährt, kann kein tröstender Hinblick auf spätere Zeit ihm ersetzen.«
Nachahmungen
Flüchtigkeit, Willkür, Geschmack, Individualität – auch Talent, Witz und Laune – all dies sind Kategorien, die sich einer theoretischen Erfaßbarkeit zu entziehen scheinen und sich gegen jede Regelhaftigkeit sperren. Welchen Sinn können Schauspieltheorien also machen?
Am Anfang jeder Theorie steht die Definition ihres Gegenstandsbereichs. Wie kann man Schauspielen definieren? Fragt man angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen und den sich wandelnden historischen Kontexten nach einer Art kleinstem gemeinsamem Nenner, wird man auf einen Begriff verwiesen, der über zweieinhalbtausend Jahre europäischer Theatergeschichte immer wieder auftaucht, wenn es um das darstellerische Handeln geht: Nachahmung. Der Stichwortgeber dafür ist Aristoteles, der in seiner Poetik von Nachahmung (Mimesis) spricht und neben anderen Gattungen der Dichtung auch Tragödie und Komödie als solche definiert. Speziell für Schauspieler relevant ist folgende Feststellung: »Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach.« Dieses Postulat wird bis in die Gegenwart aufgegriffen und jeweils zeittypisch variiert. So wartet beispielsweise der Schauspieler Conrad Ekhof (1720–1778) in einem 1753 gehaltenen Vortrag mit folgender Bestimmung auf: »Die Schauspielkunst ist: durch Kunst die Natur nachahmen, und ihr so nahe kommen, daß Wahrscheinlichkeit für Wahrheiten angenommen werden müssen, oder geschehene Dinge so natürlich wieder vorstellen, als wenn sie jetzt geschehen.« Mit Wahrscheinlichkeit und Natürlichkeit benennt Ekhof zwei Kategorien, die vor allem im Theater des 18. Jahrhunderts viel diskutiert werden. Aber auch über hundert Jahre später, nämlich 1888, reduziert William Archer (1856–1924) das Schauspielen auf den fundamentalen Vorgang der Nachahmung (imitation). Für ihn wird der Körper des Schauspielers zum Medium, das Sitten und Leidenschaften anderer Menschen nachahmt: »The actor, then, is a man who, through the medium of his own body, imitates the manners and the passion of other men.«
Das Gebot der Nachahmung kann allerdings auch polemisch gegen die Schauspieler gewendet werden. So stellt Friedrich Nietzsche (1844–1900) fest, daß »ihre nachahmende […] Kraft« zu einer Art Selbstüberschätzung führt, und hält dagegen, daß der Schauspieler doch nur »ein idealer Affe« sei.
Allgemein kann man Schauspielen als die Nachahmung oder Darstellung des Menschen durch den Menschen auffassen. Für die Beschäftigung mit Schauspielkunst bedeutet dies, daß es sowohl darum geht, wie Schauspieler nachahmen, als auch, was sie dabei nachahmen.
Nachahmungen des Menschen sind nämlich davon abhängig, welche Menschenbilder oder welche Vorstellungen von Individualität ihnen zugrunde liegen. Solche Subjektmodelle, auf die sich die Nachahmungen und Darstellungen der Schauspieler beziehen, sind zunächst gar kein Phänomen, das ausschließlich das Theater betreffen würde. Es handelt sich vielmehr um kulturelle Praktiken der Inszenierung des einzelnen und der Gesellschaft, an denen buchstäblich jeder Mensch Anteil hat. Die Art und Weise, wie man sich bewegt, wie man den Körper einsetzt, wie man sich gibt, mit anderen Worten: wie man sich »aufführt«, ist durch Konventionen und tradierte Normen bestimmt. Kindern gegenüber werden solche Ansprüche häufig ausdrücklich formuliert: »Sitz gerade, halt die Beine still, nimm den Ellenbogen vom Tisch, die Hand vor den Mund und den Finger aus der Nase.« Solche Anweisungen sind nicht willkürliche Verhaltensregeln, sondern hinter ihnen verbergen sich Persönlichkeitsideale, die als Inszenierungskonzepte des Alltags dienen. Zwar stehen auch Erwachsenen seit dem 18. Jahrhundert Regelbücher (z. B. Adolf Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, 1788) zu Gebote, doch Gesellschaften verfügen auch über subtile Formen und Praktiken sozialer Konditionierungen, welche die Aufführung des einzelnen regeln. Unwillkürlich kann sich das Verhalten auf unterschiedliche Situationen in der Kirche, in der Vorstandssitzung oder beim Fußballspiel einstellen. Selbst wer sich allein in der eigenen Wohnung vor dem Fernseher besonders unverfälscht, echt oder authentisch vorkommt, verhält sich in einer Art und Weise, die durch die eigenen Lebensumstände geformt bzw. verformt wurde. Dem Körper kommt dabei eine herausragende Funktion zu. Der französische Anthropologe Marcel Mauss (1872–1950) hat dafür den Begriff der Körpertechniken geprägt. Darunter versteht er die Weise, »in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen«. Wenn hier von Tradition die Rede ist, heißt dies nicht, daß Körpertechniken ursprüngliche, nicht hinterfragbare Wesensmerkmale von Menschen sind, sondern daß sie durch Überlieferung weitergegeben und dabei auch verändert werden. Solche Subjektmodelle sind historisch variabel. Wer beispielsweise heute versucht zu beschreiben, was Menschen ausmacht, wird kaum auf psychoanalytisches Vokabular verzichten. Eine Kategorie wie das Unbewußte oder ein Begriff wie Verdrängung können eine beachtliche Rolle spielen, wenn Schauspieler und Schauspielerinnen Menschen nachahmen, auch wenn es sich nicht um zeitgenössische Rollenvorgaben handelt. Es kann durchaus erhellend sein, nach der ödipalen Konfliktstruktur von Hamlet zu fragen, obwohl der erste Hamletdarsteller zu Beginn des 17. Jahrhunderts in London diese Überlegung ebenso wenig kannte wie sein Autor Shakespeare. Umgekehrt dürfte dem heutigen Hamletdarsteller der Verweis auf die elisabethanische Psychologie und die vier humoralpathologisch begründeten Temperamente in der...